Textatelier
BLOG vom: 23.12.2014

Pippi Langstrumpf. Oder: Kinder brauchen keine Erziehung

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
 
Ein halbwüchsiges Mädchen, eine Halbwaise, denn die Mutter ist gestorben, lebt in einer Villa. Der Vater ist ein Kapitän, der zur See fährt und sich nicht um seine Tochter kümmern kann. Er hatte ihr einen Sack voller Goldstücke, die aus einem Piratenschatz stammen sollen, mit nach Hause gebracht, wovon sie ihre Ausgaben bestreiten soll. Das Kind weist alle Versuche ab, in ein Kinderheim eingebunden zu werden. Das Mädchen weigert sich, in die Schule zu gehen, kann also nur fehlerhaft schreiben. Es lebt nicht nach bürgerlichen Normen, sondern verhält sich so, wie es ihr gefällt. Auch ohne eine Erziehung verhält es sich sozial und hilft anderen Kindern, deren Mutter ins Krankenhaus musste oder einer alten Frau, die Weihnachtsbäume verkauft und von einem Mann übervorteilt wird.
 
Das Mädchen will mit anderen Kindern Weihnachten feiern. Dazu kauft es massenhaft Süssigkeiten und anderes. In einem Stoff- und Modegeschäft fasst es eine Modepuppe an und hat plötzlich den Arm der Puppe in der Hand. Die Verkäuferin besteht auf einen finanziellen Ausgleich, da das Stück jetzt unbrauchbar sei. Das Mädchen bezahlt alles und immer weit mehr als erforderlich. Dabei will es nur den Arm der Puppe behalten. Es kann es sich leisten, hat ja Geld genug.
 
Es hat diesen Eindruck: Wer Geld hat, kann sich alles kaufen, Anerkennung, Freundschaft, Feinde und Gauner, die zu Freunden werden, ja sogar die Unabhängigkeit in der Gesellschaft. Auch ungewöhnliches, ja nicht übliches Verhalten wird nicht sanktioniert, wenn Geld vorhanden ist.
 
So wird Weihnachten nicht wie überall gefeiert. Der Weihnachtsbaum, in dem keine Weihnachtskugeln hängen, sondern Sahnetorten, soll von den Eingeladenen geplündert werden.
 
Als Höhepunkt des Fests erscheint der Vater des Mädchens, der Sehnsucht nach ihm verspürte und seine Macht als Kapitän nutzte, um nach Hause zu fahren.
 
Soweit die Geschichte. Eltern haben wahrscheinlich erkannt, was ich hier beschrieben habe.
 
Die Erzählung heisst „Pippi Langstrumpf plündert den Weihnachtsbaum“, die Idee stammt von Astrid Lindgren (1907‒2002).
 
Der Name sei sonderbar, so schrieb die schwedische Kinderbuchautorin einmal, der volle Name ist Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminza Efraimstochter Langstrumpf. In einer Biographie erzählte Astrid Lindgren, wie sie auf die Idee der Protagonistin gekommen sei. Ihre Tochter Karin habe mit Lungenentzündung im Bett gelegen und nach einer Geschichte verlangt. Da der Krankheitsverlauf einige Zeit beanspruchte, gab es jeden Tag eine neue. So entstanden die Kunstfigur und die Idee, die Einfälle aufzuschreiben.
 
Einen Brief an den Verlag beendete sie so: „In der Hoffnung, dass Sie nicht das Jugendamt alarmieren!" und erläuterte: „Denn ich hatte ja selbst 2 Kinder, und was sollte aus denen werden - mit einer Mutter, die solche Bücher schrieb!“
 
Ab 1945 veröffentlichte die Autorin ihre Geschichten und erreichte eine Gesamtauflage von zirka 120 Millionen verkaufter Bücher. Die Romane wurden verfilmt, in Schauspiele umgeschrieben, auf Audiomedien vertont und anderes mehr.
 
Zur Weihnachtszeit finden sich Aufführungen, die auf den Ideen Astrid Lindgrens gründen, auf den Programmen vieler Bühnen.
 
Ich besuchte eine ausverkaufte Aufführung mit Schauspielern der Freien Schauspielschule Hamburg in Lübeck auf einer sogenannten Freilichtbühne in einem alten Schuppen am Hafen mit den Enkelkindern und ihren Eltern. Sie dauerte zusammen mit einer 25-minütigen Pause 2 Stunden. Das ist eine lange Zeit für Kinder und vermutlich eher langweilig für die sie begleitenden Eltern und Grosseltern. Auf einer Theaterbühne mit erfahrenen Schauspielern wäre die Aufführung vermutlich professioneller gewesen, aber die Kinder werden ihren Spass gehabt haben.
 
Der Erfolg, den die Autorin hatte, ist erstaunlich. Hier wird nämlich zum Teil ein Verhalten gezeigt, das die Eltern gerade nicht bei ihren Kindern sehen möchten. Sie haben als Eltern nämlich erfahren müssen, dass ein bedeutender Teil ihrer Aufgabe neben der liebevollen Betreuung und dem Schutz des jungen Lebens darin besteht, Grenzen zu setzen, also unerwünschtes Verhalten zu verhindern, das einen zivilisiert genannten Umgang miteinander gewährleisten soll. Der weitere Eindruck, den – zumindest das Schauspiel vermittelt – ist, dass Geldausgeben und übermässiger Konsum wünschenswert sind und zu Anerkennung führen, ausserdem, dass Erwachsenwerden auch ohne Eltern oder anderen Erziehern möglich ist. Auch das widerspricht den Erziehungsgrundlagen.
 
Ich kann mir vorstellen, dass Eltern, deren Kinder am Tage nach der Vorführung teilweise das Gesehene adaptieren, also „ungezogen sind“, nicht gerade erfreut sein werden und – es ist gerade vor Weihnachten – möglicherweise damit drohen, dass es, sollten sie so weitermachen, weniger oder keine Geschenke geben wird.
 
Um dem Phänomen auf die Spur zu kommen, wäre eine ausführliche Darstellung der wissenschaftlichen Forschungen über die Auswirkungen von Märchen aller Art auf die Psyche und die Entwicklung von Kindern erforderlich. Bei Astrid Lindgren wird zwar unerwünschtes Verhalten gezeigt, es gibt aber nicht die Grausamkeiten wie in den Volksmärchen, die die Gebrüder Grimm gesammelt und aufgeschrieben haben. Bekanntlich werden darin nicht nur Hexen grausam im Backofen verbrannt, sondern Mordversuche und Mord und Totschlag kommen nicht selten vor, sogar Kannibalismus wird thematisiert und vieles andere mehr.
 
Das Ergötzen am nicht gesetzeskonformen Verhalten bleibt nicht auf die Kinderzeit begrenzt. Wenn man sich die Programme nur der deutschen Fernsehsender durchliest, so kann man feststellen, dass Abend für Abend in ungezählten Kriminalfilmen so viel geschändet und gemordet wird, dass, sollten alle diese Filme auf wahren Begebenheiten beruhen, jedes Jahr die Bevölkerung einer Stadt ausgelöscht würde!
 
 
Quellen
„Astrid Lindgren über Astrid Lindgren“ (EA 1977), in: Berf, Paul/Surmatz, Astrid, (Hg): Astrid Lindgren: „Zum Donnerdrummel! Ein Werk-Porträt“, Hamburg 2001.
 
 
 
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