Textatelier
BLOG vom: 11.01.2015

Trauermarsch in Paris von all jenen, die zu Charlies wurden

Autor: Walter Hess, Publizist (Textatelier.com), Biberstein AG/CH
 
 
 
„Freie Getränke, freie Sandwiches, freie Presse."
Molley Luther im Hollywood-Film „Grosse Lüge Lylah Clare"
von Robert Aldrich
 
Während der Zeit des Absolutismus im 16. Jahrhundert wurde die Aufgabe der Medien darin gesehen, der Regierung zu dienen und die Herrschaft zu stabilisieren. Dieses Autoritarismus-Modell ist heute vielerorts noch nicht überwunden (USA, Israel, EU), weniger wegen staatlicher Zwänge als vielmehr als Folge der freiwilligen Unterwerfung durch den von Macht und Gewalt eingeschüchterten Medienmainstream, der sich in unseren Hirnen einnistet und vernünftige Gedanken niederwalzt.
 
Zensur und Lüge
Die Herausgabe eines Mediums bedurfte vor Jahrhunderten einer staatlichen Lizenz (eines Patentes), und was publiziert wurde, unterlag der staatlichen Zensur. Kritik war nicht vorgesehen. Die Medien dienten somit vorrangig den Herrschenden und erst in 2. Linie der Bevölkerung. In der Alten Eidgenossenschaft (Schweiz) galt dieses Modell bis 1798, auch im zaristischen Russland und unter den faschistischen Regierungen in Spanien und Portugal.
 
Der englische Dichter und Staatsmann John Milton (1608‒1674) hat geschrieben, man könne die Geister nicht einsperren. Es sei an der Zeit, über alle öffentlichen Dinge frei zu sprechen und zu schreiben. Am Ende werde die Wahrheit siegen. Er schuf das Liberalismus-Modell. Das war die Geburt der Pressefreiheit, die zu einem Privileg des Westens wurde: Die Medien sind im Idealfall Diskussionspartner der Regierenden und nicht ihre Propagandainstrumente. Doch solche Freiheiten werden durch Einschüchterungen oder ein anpasserisches Verhalten der Medienschaffenden tangiert, beziehungsweise illusorisch. Daraus entwickelte sich das Sozialverantwortungs-Modell, das der Journalist Robert Lembke (1913‒1989) schon früh exakt erkannt und definiert hat: „Pressefreiheit ist das Recht, Lügen zu drucken, ohne dazu gezwungen zu werden.“ Die totalitäre Herrschaft der Lüge gilt als die vollständigste, die es je gegeben hat.
 
Der US-Schriftsteller Raymond Chandler (1888‒1959) drückte im Klartext aus, was aus einem der bedeutendsten Freiheitsrechte geworden ist: „Das dauernde Gezeter für eine freie Presse meint, mit einigen ehrenwerten Ausnahmen, die Freiheit zum Hausieren mit Skandalen, Verbrechen, Sex, Sensationsgier, Hass, Unterstellungen und politisch-finanzieller Propaganda. Eine Zeitung ist ein Geschäft mit dem Ziel, per Inserateneinnahmen Geld zu machen. Darum ist die Auflage wichtig, und man weiss, wovon die Auflage abhängig ist." Genau hier sind die wirklichen Bedrohungen der Meinungsfreiheit, ebenso vonseiten von Anti-Rassismus-Gesetzgebungen, die bestimmte bevorzugte Gruppen auch vor berechtigter Kritik  abschirmen.
 
Freie Meinungsäusserung
Eine wohlverstandene Medienfreiheit, die auf dem Recht auf freie Meinungsäusserung fusst, hat keineswegs den Sinn, den Medienschaffenden und Verlegern in allen Beziehungen freien Lauf zu lassen, sonst würden sie selber zur grössten Bedrohung für genau diese Freiheit. Sie bedeutet auch nicht, wie der deutsche Publizist Paul Sethe sinngemäss einmal gesagt hat, die Freiheit von einigen wohlhabenden Leuten, ihre Meinung zu verbreiten, sondern sie hat vielmehr eine dienende Funktion. Sie soll eine der Grundlagen für die öffentliche Diskussion sein, die auch als Voraussetzung für die Regierungsarbeit in demokratischen Gesellschaften (government by discussion) vorhanden sein muss. Die Medienfreiheit ist zudem ein Instrument der Kontrolle der politischen und juristischen Mächte und soll mithelfen, dass die Machtträger ihre Verantwortung nicht missbrauchen. Journalisten haben also nicht nur Rechte, sondern vor allem Pflichten im Hinblick auf eine wahrheitsgetreue, sachliche und vollständige Berichterstattung; ihr Charakter muss untadelig sein. Sie sind nicht die Verkörperung der Medienfreiheit und als solche ebenfalls schützenswert, wie viele von ihnen glauben. Sie können diese Freiheit behutsam nutzen, um der Gesellschaft einen Dienst zu erweisen, und sie sollte nicht durch eine mediale Selbstsabotage Schaden erleiden.
 
Spezialfall Karikaturen
Satiren und Karikaturen, welche definitionsgemäss verfremden und übertreiben, geniessen einen weiten Spielraum. Sie werden dann zur Persönlichkeitsverletzung, wenn sie die Grenzen, die durch ihr Wesen gesetzt sind, in einem unerträglichen Ausmass überschreiten. Sie dürfen nur übertreiben, was auf einem wahren Kern beruht und nicht von einem frei erfundenen „Tatbestand“ ausgehen.
 
Personen, die im öffentlichen Leben eine Rolle spielen, müssen grundsätzlich hinnehmen, dass über ihr öffentliches Auftreten in Wort und Bild kritisch und karikierend berichtet wird. Das gilt selbstverständlich auch für Institutionen und Religionen, welch letztere oft meinen, unter dem Schutzschirm der von ihnen bevorzugten Göttlichkeit vor kritischen Gedanken agieren zu können.
 
Spezialfall Religionen
Die Bibelreligionen (Judentum, Christentum und Islam) haben sich als kriegerische Institutionen entpuppt, was auf der Grundlage des Alten Testaments nachvollziehbar ist. Die Naturreligionen unzivilisierter Volker bildeten sich im Wesentlichen aus den gegebenen Bedürfnissen heraus, ohne dass sie auf Gewalt verzichten (Kopfjägerei und dergleichen). Friedlicher sind die asiatischen Weisheitsreligionen nach buddhistischer Philosophie.
 
Im Moment steht der expansive Islam im Vordergrund, dessen Verbreitung vor allem deshalb von Ängsten begleitet ist, weil er nicht konsequent zwischen Staat und Religion unterscheidet (Scharia), sondern als religiöses Gesetz das ganze Leben bestimmt und auch Rechtswirkungen entfaltet. Während dem im christlich geprägten Kulturraum die Tendenz immer stärker auf eine strikte Trennung von Staat und Religion(en) abzielt, findet mit der Islam-Verbreitung das Gegenteil statt. Nach all den Erfahrungen mit autoritären Religionen ist das natürlich ungemütlich, mutet fast wie ein Rückfall in die trüben mittelalterlichen Zustände an, als die Toleranz nicht eben ihre besten Zeiten hatte.
 
„Charlie Hebdo“
Bedenkt man alle Bedrohungen der Pressefreiheit, so wirkt es schon etwas beschränkt, wenn man diese an den Morden in den Redaktionsräumen der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ aufmachen will, so verwerflich und bedauerlich diese auch sind. Sie sind ein Fall für die Strafverfolgungsbehörden, aber wohl kaum Ansatzpunkte für grosse Diskussionen über die Meinungsfreiheit, die durch den in die Wirtschaft integrierten Konzernjournalismus mit abgerichteten Lohnschreibern und -sprechern (wer sich betroffen fühlen will, möge das tun) zweifellos weit stärker bedroht ist.
 
Die Satire in gedruckter, gesprochener oder theatralisch vorgebrachter Form ist ein relativ bescheidenes Randthema, das vor allem dort seine Bedeutung beziehungsweise sein Ventil hat, wo anderweitig der Mut zur Kritik (auch aus Angst vor Repressionen) fehlt. Im Prinzip ist sie eher der Kunstform Zeichnung (Malerei, Grafik) mit ihrer beliebig grossen Auswahl an gestalterischen Mitteln zuzuordnen, wodurch sich diese Formen künstlerischen Ausdrucks vermischen. Gemälde und zeichnerische Darstellung können durchaus ein Mittel der politischen Einflussnahme sein, wobei darunter alles, von Schrott über Kitsch bis zur Kunst, anzutreffen ist. Sie dienen weniger der breiten Aufklärung, sondern spitzen zu, provozieren, was selbstredend in Zeiten des allgemeinen Bildungszerfalls beziehungsweise der Bildungseinseitigkeiten (Volksmund: Fachidiotie) bei zerfallender Kritikfähigkeit umso mehr Wirkung erzeugt. Tabubrüche sind dazu da, den Verkaufserfolg zu erhöhen.
 
Die angepassten Medien, die den Pfad der Unterwerfung nicht zu verlassen wagten und wagen, springen jetzt notgedrungen mit allen anderen, die sich davon einen Vorteil versprechen, auf den Charlie-Hebdo-Rummel auf („Je suis Charlie“), um in diesen mageren Zeiten davon noch ein Häppchen ergattern zu können. Und auch alle jene, die vor den Anmassungen der USA, von jenen aus Israel und der EU kuschen, wollen ihren Mut nun durch ein hartes Eindreschen auf den Islam kundtun, was Konfrontationen anheizt. Die lange vor Charlie Hebdo Eingeschüchterten verkünden nun im Chor das Motto: „Wir lassen uns nicht einschüchtern.“
 
Der Trauerzug in Paris
Auch etwa 40 manchmal scherzende und lachende Staats- und Regierungschefs von Schweizer Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga als einer der ersten der eingetroffenen Staatschefs bis Angela Merkel und dem US-Justizminister Eric Holder, dem israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu und dem Palästinenserpräsident Mahmud Abbas sowie dem ukrainischen Präsidenten und Rüstungsgüterfabrikanten Petro Poroschenko nutzten die Gunst der Stunde, an der Grosskundgebung vom 11.01.2015 ein (unverbindliches) Zeichen zu setzen und sich zusammen mit den übrigen Kundgebungsteilnehmern (über 3 Millionen sollen es in allen französischen Städten zusammen angeblich gewesen sein) aus dem Fussvolk von 5500 Polizisten und Soldaten bewachen zu lassen.
 
Kanalisationen und Gullideckel waren abgesucht, Metrostationen geschlossen, wie es sich gehört, wenn Hochrangige an Trauermärschen über sie hinwegschreiten. Frankreichs Staatschef François Hollande liess es sich nicht nehmen, die Prozession beim Platz der Republik („republikanischer Marsch“) anzuführen und damit sein Image aufzupolieren. Arm in Arm flankierten ihn die Grossen. „Vive la France!“ Die Medien erhielten trotz ihrer Betroffenheitsstarre Gelegenheit, den Mächtigen en gros zu dienen.
 
Beschränkte Solidarität
Demonstrativ nicht eingeladen war der rechtsextreme Front National (FN), der sich nicht mit der Charlie-Solidarität verbunden fühlt. Gleichwohl wirft seine Ächtung ein merkwürdiges Licht auf die demokratischen Zustände in Frankreich: Meinungsfreiheit gilt dort offenbar nur, wenn sie die Staatsmeinung repräsentiert. Das Beweisstück wurde gleich mitgeliefert. Der FN von Marine Le Pen erhielt bei der Europawahl 2014 immer die meisten Wählerstimmen (24.86 %) aller Parteien.
 
Missratene Wahl des Skandalisierungsbeispiels
Und wenn das eine Absage an die Gewalt war, gerade auch von islamischen Organisationen unterstützt, dann hätte es dafür noch wesentlich gravierende Gelegenheiten wie die geförderten, verheerenden, tödlichen und zu einem unbeschreiblichen Flüchtlingselend führenden Bürgerkriege in Staaten, die den Westkurs nicht mitmachen, gegeben.
 
Die traurigen Vorgänge im Hause „Charlie Hebdo“ wurden im gegenseitigen Wechselspiel Medien/Politik nach allen Regeln der Ablenkungskunst skandalisiert, masslos aufgebauscht, bis zur kollektiven Hysterie, ein Verstoss gegen ein gesundes Augenmass, also weit überrissen.
 
Das seit längerer Zeit im Zerfall begriffene hohe Gut der Medienfreiheit muss verteidigt werden, keine Diskussion, auch die Werte einer freien, offenen Gesellschaft, von denen der Sicherheitsexperte Kurt Spillmann bei SRF1 sprach, der den medialen Gottesdienst nicht störte. An Gelegenheiten zu Verteidigungsmassnahmen fehlt es nicht.
 
Dabei sollte man die wirklich gravierenden und nicht die spektakulären Ereignisse zur Grundlage nehmen und das gesamte Parteienspektrum einbeziehen, auch jenes auf der rechten Seite, nicht nur jenes auf der richtigen …
 
 
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