Textatelier
BLOG vom: 29.01.2015

Narrationen und Narreteien zur Identität Deutschlands

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
 
Der I. und II. Weltkrieg und die Konsequenzen daraus gehören zu Deutschland.
Die Deutsche Demokratische Republik gehört zu Deutschland.
Die Wiedervereinigung gehört zu Deutschland.
Das Grundgesetz gehört zu Deutschland.
Die Nationalhymne gehört zu Deutschland.
Der Islam gehört zu Deutschland.“ (Bundeskanzlerin Angela Merkel, u. a.).
„Auschwitz gehört zur Identität Deutschlands.“ (Bundespräsident Joachim Gauck).
Das Christentum gehört zu Deutschland.
Der Euro gehört zu Deutschland.
Der Freistaat Bayern gehört zu Deutschland.
Das Oktoberfest gehört zu Deutschland.
Die deutsche Sprache gehört zu Deutschland.
 
Die Liste liesse sich endlos weiterführen. Gehören das „Heilige Römische Reich deutscher Nationen“, die Monarchie, die Germanen, die Alemannen, die Sachsen, die Hessen, usw. auch dazu? Ich meine: ja!
 
 „Gehört zu“ bedeutet, Voraussetzung oder Teil von etwas zu sein. Ich habe die deutsche Staatsangehörigkeit, bin ich damit ein Teil Deutschlands? Wenn ich voraussetze, dass es Deutschland gibt, gehöre ich dann dazu? Hier „nein“ zu sagen, wurde früher (und vermutlich auch heute noch?) als „Vaterlandsverrat“ ausgelegt. Damit begebe ich mich auf gefährliches Glatteis. Was ist, wenn ich mich Europäer oder Weltbürger nenne, verleugne ich dann meine Identität?
 
Was heisst eigentlich Identität?
 
Im Lexikon steht:
Allgemein: völlige Gleichheit, bzw. Übereinstimmung.
Mathematik: Sonderfall einer Gleichung, identisch gleich.
Philosophie: Selbigkeit, Einerleiheit
 
Ich lese bei Fritz Mauthner (1849‒1929, Schriftsteller und Philosoph) nach:
 
„Der Satz der Identität kann auf verschiedene anmutige Arten ausgesprochen werden, z. B.: „Was Etwas ist, das ist es" oder „Alles ist, was es ist" oder mit dem Schein mathematischer Klarheit ,A ist A‘. Hier ist die Gedankenblösse, die Nullität des Ergebnisses so nackt und offen, dass es beinahe geziert wäre, den Satz der Identität erst noch ausdrücklich eine Tautologie zu nennen.
 
Um diese Anwendung mit auszudrücken, wird der Satz der Identität mit besonderer Lieblichkeit auch so formuliert: omne subjectum est praedicatum sui, jedes (grammatische) Subjekt ist sein eigenes Prädikat, jeder Begriff darf von ihm selbst ausgesagt werden. Und jedes Merkmal eines Begriffs darf von ihm ausgesagt werden. Da aber die Begriffe oder Worte nichts weiter sind als Erinnerungszeichen von Merkmalen, die Sätze aber, das heisst unser gesamtes Denken nichts als eine Besinnung auf den Inhalt oder die Merkmale der Begriffe, so ist der Satz der Identität in dieser brauchbareren Form erst recht eine Tautologie und wegen seiner unschuldigen Miene dazu noch komisch oder spitzbübisch.“ 
 
Also „Deutschland ist Deutschland“ und „Auschwitz ist Auschwitz“ und „ich bin ich“!
 
Ich meine, das bringt mich nicht weiter. Was sagen denn „die Deutschen“?
 
Das „Berliner Institut für empirische Integrations-und  Migrationsforschung“ fand heraus:
 
Narrationen des Deutschseins
Patriotismus und emotionale Verbundenheit sind hoch. Die Bevölkerung in Deutschland hat ein positives Gefühl zu ihrem Land. Eine deutliche Mehrheit (85 Prozent) sagt: „Ich liebe Deutschland“. Ausgangspunkt dieses positiven Selbstbildes ist die Wiedervereinigung. Sie stellt für 49 Prozent der Bevölkerung das zentrale historische Ereignis dar, welches Deutschland heute am besten beschreibt. Ereignisse im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg sind hingegen kaum mehr prägend für das Selbstbild (16 Prozent), und der Holocaust wird nur von 0.5 Prozent der Befragten genannt. Das widerspricht der jahrelang zementierten Wahrnehmung, Deutschland würde sich nur in einer negativen Identität wahrnehmen und könne dadurch nicht positiv mit seiner nationalen Identität umgehen. Der positive Bezug auf nationale Identität ist bei AnhängerInnen aller politischer Parteien zu finden, wobei die Zustimmungswerte bei WählerInnen der Grünen und der LINKEN etwas geringer ausfallen.
Kriterien des Deutschseins: offen und exklusiv zugleich. Deutschsein kann heutzutage erlernt und erworben werden, im Vergleich dazu spielen angeborene Merkmale eine geringere Rolle: Wichtig ist vor allem die Fähigkeit, deutsch sprechen zu können (97 Prozent) sowie der Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit (79 Prozent).
 
Die sogenannten „Deutschen mit Migrationshintergrund“ machen scheinbar eine andere Erfahrung.
 
Im achten und letzten Kapitel des Buches von Alice Bota, Khuê Pham, Özlem Topçu: „Wir neuen Deutschen. Was wir sind, was wir wollen“ formulieren die Autorinnen:
 
„‘Neue Deutsche braucht das Land‘. Sie schreiben den (Befehls-)Satz aus Wut ‚ darüber, in einer Gesellschaft zu leben, in deren Selbstverständnis wir nicht vorkommen’; sie schreiben ihn anklagend, weil nach wie vor die Mehrheit der deutschen Bevölkerung die ‚neuen Deutschen’ als ‚Ausländer’ betrachtet, trotz deutschem Pass, trotz Erfolg und trotz Integration. Sie schreiben ihn aber auch aus dem Bewusstsein heraus und mit Stolz, Deutsch zu sein. Und dann entdecken sie: ‚Wir sind deutscher, als wir denken. Was kann daran schon schlimm sein?’“
 
Die „Bevölkerung in Deutschland“ hat nach der obigen Umfrage ein anderes „Selbstbild“, also die Vorstellung, die jemand von sich hat, als es die Politiker behaupten. Oder ist das „Selbstbild“ eher ein Idealbild, das sie sich macht? Dennoch: Wie kann ein Repräsentant Deutschlands dann in Bezug auf Auschwitz so eine Aussage machen?! Er hat sie im Namen der deutschen Bevölkerung gemacht und nicht als private Meinung, schliesslich kennt er doch die Umfrageergebnisse?
 
Günther Grass (mit 17 Jahren zugehörig zur Waffen-SS!) behauptete:
 
„Wir kommen an Auschwitz nicht vorbei. Wir sollten, so sehr es uns drängt, einen solchen Gewaltakt auch nicht versuchen, weil Auschwitz zu uns gehört, bleibendes Brandmal unserer Geschichte ist und – als Gewinn! – eine Einsicht möglich gemacht hat, die heissen könnte: Jetzt endlich kennen wir uns.”
 
Wen meint er denn mit „wir“ und „zu uns gehört“? Ich fühle mich nicht dazu gehörend; ich bin ein Nachkriegskind, auch wenn ich die Aussage, der „Gnade der späten Geburt“ von Helmut Kohl unsinnig finde.
 
Also: Ich bin Deutscher mit einem deutschen Pass. Ich bin nach 1945 geboren. Ich weigere mich, mir wegen des verbrecherischen Hitler-Regimes, das 12 Jahre davor gewütet und gemordet hat, mir eine negative Identität zuzulegen. Mag Auschwitz „zu Deutschland gehören“, wie behauptet wird, die Verbrechen dort wurden nicht in den Jahrhunderten davor und nicht im Nachkriegsdeutschland begangen. Ich weigere mich, mich deshalb „schuldig“ zu fühlen. Ich fühle mich nicht identisch damit, es gehört nicht zu meiner Identität. Ich bin Europäer und Weltbürger.
 
 
Quellen
 
Amsterdamer Beiträge zur Neueren Germanistik, Bd. 35–1992, Hrsg. Labroisse, Gerd und Van Stekelenburg, Dick, „Günter Grass, Ein europäischer Autor?“
 
Mauthner, Fritz: „Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Dritter Band: Zur Grammatik und Logik, IV. Die Denkgesetze“, Frankfurt 1982, S. 359.
 
 
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