Textatelier
BLOG vom: 01.04.2015

Jurapark-Schnatten: Wald zwischen Natur und Holzackerbau

Autor: Heiner Keller, Ökologe, Oberzeihen AG (ANL AG, Aarau)
 
 
Wer mit offenen Augen den Aargauer Jura betrachtet oder gar in dieser Landschaft wandert, dem fallen die zahlreichen Schnatten im Kleid der bewaldeten Hänge und Kreten auf. Eine Schnatte ist umgangssprachlich eine Kerbe, eine schlecht verheilte Schnittwunde oder eine sichtbare und oft bleibende Narbe. Im Wald gibt es Schnatten (Schlagkanten), wenn Waldbäume flächenhaft umgehauen werden. Dies geschieht immer öfter, weil die momentane Rendite nur durch eine rüde und maschinengerechte Bewirtschaftung erzielt werden kann. Wo der Wald Geld bringen muss, versagen alle wohltönenden Schlagworte von Natur, Naturverjüngung, Nachhaltigkeit.
 
Nähert man sich auf der Autobahn A3, entweder von Zürich (Birrfeld) oder von Basel (Frick) her kommend, der wunderschönen Kulisse des Aargauer Juras, können die Schnatten auf Kreten und Hängen nicht übersehen werden – sofern man ein Auge für die Landschaft hat. In Frick weist eine braune Tafel an der Autobahn extra auf die Existenz des Juraparks Aargau hin. Wo nicht Lärmschutzwände oder Gebäude den Blick verstellen, sind bis zum Bözbergtunnel überall Flächenhiebe in Wäldern zu erkennen. Das Bild ergibt sich auf der Nordseite des Juras: Zwischen Brugg und Aarau fehlt es nicht an negativen Beispielen. Besonders auffällig präsentiert sich die Holzerei (flächenhafte Starkholzplünderung) im Bereich des Linner Bergs.
 
Linn ist quasi das Zentrum des Juraparks Aargau (www.jurapark-aargau.ch). „Der Jurapark Aargau ist seit 2012 ein ,Regionaler Naturpark von nationaler Bedeutung' aufgrund der schönen, einzigartigen Kulturlandschaften, der grossen Biodiversität und der hochwertigen Kulturgüter." Im Jahresprogramm 2015 schreibt das Jurapark-Team von der „grünen Schatzkammer“ zwischen Aarau, Brugg und Frick. Es ruft auf, die „Naturperlen“ und die „Schätze der Landschaft“ zu entdecken. Weder im Programm noch sonst in einer Verlautbarung äussert sich der Jurapark Aargau zu den Beispielen der ruinösen Forstwirtschaft.
 
Die mit öffentlichen Geldern finanzierte Propaganda wirkt. Immer wieder sprechen mich Kollegen aus andern Kantonen, von Hochschulen und Verwaltungen an und äussern sich anerkennend über die naturschützerischen Leistungen des Kantons Aargau: Auenschutzpark Aargau, Jurapark Aargau, Naturschutzprogramm Wald, Reusstal, Beiträge an Landwirte. Als Steuerzahler freue ich mich, dass der Aargau sich und seine Anstrengungen nicht verheimlicht. Regierungsrat und Verwaltung haben begriffen: Tue Gutes und sprich davon. Zum praktisch unbegrenzten Wirtschaftswachstum leistet ein Mäntelchen von Naturschutz gute Dienste.
 
Die Aargauer Bevölkerung soll in den nächsten Jahren um 200 000 Menschen zunehmen. Hemmungslos. Hemmungslos gehen die Mobilität, die Zersiedelung und die technische Entwicklung der Maschinen und Nutzungen weiter. Papiermässig haben wir genug Naturschutz. Der Aargauische Bauernverband will jetzt endlich (auf den restlichen Flächen) wieder produzieren: Dazu braucht er mehr Geld, grössere Maschinen, Strassen und produziert und transportiert mehr Gülle. Im Wald erfordert der ökonomische Zwang mehr Geld, grössere Strassen, grössere Maschinen und rüdere Holzschläge zu jeder Jahreszeit.
 
Die realen Entwicklungen im Verkehr, in Siedlungen in Land- und Forstwirtschaft finden auch im Jurapark Aargau statt. Der Jurapark kann oder will sich in den Widerstreit der Interessen nicht einmischen. Er produziert Papier und verbreitet heile Welt. Dabei ist der Jurapark (mit andern ländlichen Regionen zusammen) ein wesentlicher Teil des Kantons, in dem die Auswirkungen des Siedlungsbreis und der Agglomerationen in Tallagen wenigstens teilweise ausgeglichen werden muss. Der Jurapark Aargau darf nicht einfach ein weiteres Deckmäntelchen für den grünen Anstrich des Kantons sein.
 
Ich habe mich in den letzten Jahren (seit dem Buch „Bözberg West“, 2005) bezüglich der Entwicklung im Wald sehr zurückgehalten. Die zahlreichen persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen, die stark von den Ansichten und verbreiteten Meinungen der Abteilung Wald (www.ag.ch) abweichen können, veranlassen mich, zu reagieren und wieder zu schreiben.
 
Wald gilt landläufig per Definition als Natur pur. Zudem gibt es sogar Naturschutzprogramme im Wald. Der Laie kann sich im Internet, in Broschüren und auf Waldumgängen über die Schönheiten des Walds und die Notwendigkeiten der Nutzung informieren. Ich bestreite nicht, dass es sogar Förster gibt, die sich für ihren Wald und die Zukunft einsetzen. Leider findet im Kanton Aargau aber auch eine Entwicklung hin zu einem Holzackerbau statt. Sauber abgeholzte Flächen, zerfahrene Waldböden, hässliche Waldstrassen bieten Bilder, die mit Wald im umfassenden Sinne nichts mehr zu tun haben.
 
Zuerst werden die kleinen Bäume und Büsche „geräumt“. Nachher kommen die Motorsägen, die Vorwarder und Starkholzschlepper. Riesige Haufen mit „Schnitzelware“ und sortierten Stämmen werden entlang von Waldstrassen aufgeschichtet. Mit dem kleinen Bagger werden nachher die verbliebenen, zermantschten Holzstücke zu Haufen aufgeschichtet. Im Frühjahr wird auf den Flächen ein moderner Mix von Jungbäumen aus der Forstbaumschule (Schwächlinge aus der Gärtnerei) angepflanzt und mit Gittern oder Plastik geschützt. Dann kommen die Brombeeren, oft flächenhaft, und es beginnt die jährlich Pflege der gepflanzten Bäume gegen die Kraft der Natur. Es dauert etwa 80 Jahre, bis die Bäume wieder nutzbar sind. Alle sind gleich alt, alle werden wieder abgehauen und der Kreislauf des Holzackers beginnt von vorne. So wird der Wald modern genutzt und verjüngt.
 
Wer hat etwas gegen die Forstwirtschaft? Eigentlich niemand. Eine ernsthafte Mitsprache oder gar Kritik an der Art und Weise der Waldnutzung ist dem Normalbürger aber verwehrt. Das Sagen haben nur die Waldbesitzer und zunehmend die Forstunternehmer. Sie und ihre Maschinen bestimmen, was und wie sie es machen. Sie nutzen alle Programme, die Propaganda und die Gelder der öffentlichen Hand für ihre Kasse und die Rechtfertigung ihres Tuns. Der dauerhafte Wald und die ungestörte Natur im Jura bleiben als Wunsch und Beilage der ökonomischen Zwänge und der vorhandenen Maschinen auf der Strecke.
 
Für die Vielfalt des Walds, die Natur, hat die flächenhafte Räumung von Bäumen grosse Konsequenzen. Der Boden unter den befahrenen „Rückegassen“ ist für Jahrhunderte kaputt. Die plötzliche Besonnung des Waldbodens und die absterbenden Baumwurzeln aktivieren Nährstoffe, die abgeschwemmt werden und Bäche belasten. Der Boden wird feuchter, und rasch wachsende Pflanzen überwuchern die Landschaft. Es ist auffällig, wie sich Brombeeren in den zu stark gelichteten Buchenwäldern des Juras ausbreiten. Entlang von Waldwegen werden Holz und Abraum (z. B. von Strassen) deponiert. Die Wegränder werden maschinell gemulcht, abrasiert. Wo früher Waldpflanzen wuchsen, herrschen heute vielerorts botanische Tristesse und chaotische Unordnung.
 
Die Art der Bewirtschaftung und die Starkholzplünderung ruinieren vielerorts den Wald als Lebensraum. Gelder für Naturschutzprogramme im Wald alimentieren die Forstkasse und ermöglichen den Ankauf von grösseren Maschinen. Die Schlagkanten oder Schnatten im Jurapark Aargau sind die Folgen.
 
Öffnen sie bitte Ihre Augen und achten sie auf die Zeichen der Zeit! Entdecken sie die grüne Schatzkammer in ihrer ganzen Vielfalt und Entwicklung!
 
 
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