Textatelier
BLOG vom: 21.04.2015

Armenien 1915: Genozid, Völkermord im Osmanien-Reich?

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
 
Vor 100 Jahren starben fast eine Million Armenier im Osmanischen Reich. Das Reich der Dynastie der Osmanen, das letzte islamische Grossreich, bestand von 1299 bis 1922. In Europa wurde es schon zu dieser Zeit „Türkei“ genannt.
 
Krieg und kriegerische Auseinandersetzungen mit Volksgruppen und Feinden innerhalb und ausserhalb des Landes waren auch in diesem Reich so normal wie in anderen. Der Nationalismus erstarkte. Es gab auch zunehmend Konflikte zwischen christlichen Minderheiten und der islamischen Mehrheit. Viele Probleme führten zur wirtschaftlichen Schwächung des Landes. Aus dem Geschichtsunterricht meiner Schulzeit ist mir die Karikatur aus dem Satireblatt „Punch“ aus dem Jahr 1896 mit der Überschrift „Der kranke Mann am Bosporus“ in Erinnerung. Der osmanische Sultan liest ein Plakat an einer Mauer.
 
„Sultan Adülhamid II muss erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass die europäischen Mächte Russland, Frankreich und Grossbritannien die Umwandlung des Osmanischen Reiches in eine Beteiligungsgesellschaft beschlossen haben. Die Karikatur zeigt anschaulich die Wahrnehmung des Osmanischen Reiches als Spielball europäischer Grossmächte.“
 
Im Balkankrieg 1912‒13 hatte das Reich das restliche Grundgebiet in Europa verloren, und Millionen von türkischen Flüchtlingen wichen nach Anatolien aus.
 
Die wichtigste armenische politische Partei in dieser Zeit, die „Revolutionäre Föderation“, die anfänglich mit der osmanischen Regierung zusammengearbeitet hatte, wollte Reformen durchsetzen, und das christliche armenische Volk bekam dazu Unterstützung durch Russland, England und Frankreich. Sie wollten die Reformen kontrollieren, was durch die osmanische Regierung als Bedrohung angesehen wurde, nicht aber durch die Armenier.
 
Knapp 20 Jahre nach der obigen Publikation brach der I. Weltkrieg aus. Es kam zu einem Kriegsbündnis mit Deutschland und Österreich-Ungarn. Das war umstritten, gab es doch sowohl zu den Entente-Mächten als auch zu Deutschland politische und wirtschaftliche Beziehungen. Ein bekanntes Projekt mit Deutschland war die Zusammenarbeit bei der Bagdadbahn.
 
Ende 1914 erlitt das osmanische Heer eine schwere Niederlage im Osten des Landes gegen die russischen Truppen. Am 24.04.1915, ein Tag vor der Landung der Alliierten an den Dardanellen, gab der Innenminister des osmanischen Reiches, Mehmet Talaat, den Auftrag, hunderte armenischer Intellektueller, Politiker und Bankenvorsteher zu verhaften und in die Provinz zu deportieren. Ein Grund dazu soll die angebliche Konspiration armenischer Kräfte mit den Russen bzw. das angebliche massenhafte Desertieren der Armenier gewesen sein. Das wird bis heute als der Beginn der „Völkermord“ genannten Vertreibung der Armenier, die in eine Provinz nach Dair al Zour (Syrien) gebracht wurden, angesehen, bei der bis zu 1 Million Menschen zu Tode kamen. Man gab ihnen keine Zeit, ihre Häuser oder ihr Land zu verkaufen. Die zuerst Verhafteten und danach die Jungen, älter als 13 Jahre, und Männer wurden ausserhalb der Städte und Dörfer separiert und ausser Sichtweise der Vertriebenen erschossen, erstochen oder ertränkt. Frauen und Kinder starben während der Vertreibungen an Durst, Hunger und an Entbehrungen. Im Sommer 1916 gab es eine zweite Mordwelle an Frauen und Kindern in den von ihnen erreichten Provinzen.
 
War es ein Genozid? Den Begriff gab es damals noch nicht. Er wurde zuerst durch den polnischen Juristen Raphael Lemkin (1900‒1959) benutzt und 1945 bei den Nürnberger Kriegsgerichtsprozessen gegen die Naziverbrechen offiziell anerkannt. Der oder das Genozid (beide Artikel sind möglich) von griech. génos  und lat. cidere (= töten) ist die Bezeichnung für den Mord an nationalen, rassischen oder religiösen Gruppen.
 
Das Geschehen im Osmanischen Reich erinnert stark an Srebenica. Das Ziel damals wie im ehemaligen Jugoslawien war es, eine homogene Bevölkerung zustande zu bringen. In der deutschen Sprache werden „Völkermord“ und „Genozid“ gleichgesetzt. Das ist umstritten. In der UNO wurde in der Genozidkonvention definiert, was darunter zu verstehen ist:
 
Artikel III der Konvention listet auf:
1. Tötung von Mitgliedern nationaler, rassischer, ethnischer oder religiöser Gruppen.
2. Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an dieser Gruppe.
3. Vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen, die geeignet sind, ihre teilweise oder vollständige Zerstörung herbeizuführen.
4. Massnahmen der Geburtenverhinderung dieser Gruppe.
5. Gewaltsame Überführung von Kindern dieser Gruppe in eine andere Gruppe.
 
Die Definition, was denn ethnische Gruppen sind, ist schwierig zu führen. Ein „kultureller Völkermord“ wird vom Begriff „Genozid“ ausgenommen, auch direkte kriegsbedingte Handlungen. Die Konvention krankt unter der theoretischen Definition und der unterschiedlichen Sichtweisen. So wird auch diskutiert, ob die Geschehnisse in Kambodscha, in Ruanda oder etwa während der Kolonialzeit in Deutsch-Südwest-Afrika darunter fallen.
 
Der Begriff „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ – „crimes against humanity“ scheint mir geeigneter zu sein, da er auch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen den Frieden mit einschliesst.
 
Der deutsche Grünen-Politiker mit türkischen Wurzeln, Cem Özdemier, meint zu der Zurückhaltung der deutschen Bundesregierung, das Geschehen „Völkermord“ zu nennen:
 
„Handelt es sich tatsächlich nur um Rücksichtnahme, oder hat die Bundesregierung noch andere Gründe? Es gibt noch einen weiteren Grund, nämlich die Sorge vor Restitutionsansprüchen. Aber auch das halte ich für falsch, denn das steht nicht im Zentrum der Aufarbeitung. Im Zentrum steht, dass wir ehrlich zu uns und zu den Nachfahren der Opfer des Völkermordes sein müssen. Im Übrigen glaube ich, dass es auch die Aufarbeitung der Vergangenheit in Ankara eher erleichtern würde, wenn vor allem Deutschland die Dinge beim Namen nennt. Denn ein Verzicht darauf wird in Ankara doch so interpretiert, dass die türkische Regierung glaubt, man könne durch Drohungen sogar Deutschland beeinflussen.“
 
Die deutsche Bundesregierung will es sich mit der türkischen Regierung nicht verscherzen. Das zeigt mir, dass es letztendlich vor allem um politisches Kalkül, Wirtschaftsinteressen und Macht geht. Die Menschlichkeit gehört nicht dazu.
 
 
Quellen
Vlasblom, Dirk: „De Armeense kwestie“, NRC-Zeitung, Teil: Wetenschap, Zaterdag 18.&19.April 2015-04-19.
Barth, Boris: „Genozid, Völkermord im 20. Jahrhundert: Geschichte, Theorien, Kontroversen“, C. H. Beck Verlag, München, 2006.
 
 
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