Textatelier
BLOG vom: 07.05.2015

Kompliziertes Afrika und: „N - Der Wahn der Vernunft”

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen, Westdeutschland
 
 
Ein Buch, „Atlas der Globalisierung“ von Le Monde diplomatique, und ein Film, „The Madness of Reason - N“: von beiden zusammen habe ich viel mehr über Afrika gelernt, als ich mir vorgestellt hätte.
 
Weltbank, IWF und die Welthandelsorganisation (WTO) haben alle afrikanischen Länder dazu genötigt, ihren Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu liberalisieren. Also wurden nicht mehr die für den Eigenbedarf notwendigen Nahrungsmittelpflanzen angebaut, sondern typische Exportprodukte wie Zuckerrohr und Orangen: Damit wurden Schulden getilgt. Die Industrieländer überschwemmten die Länder mit in Industrieländern hoch subventionierten Lebensmitteln.
 
Die westafrikanischen Bauern wollten Ernährungssouveränität; Proteste führten zur Verarmung. Das diktierte Strukturanpassungsprogramm sollte die Wirtschaft beleben, diente aber eher zur Schuldentilgung. Ausserafrikanische Konzerne investieren Kapital in Afrika, vor allem für die Ölförderung und mineralische Rohstoffe. Das erhöht zwar das Bruttosozialprodukt der Länder, aber in die Infrastruktur wird zu wenig gesteckt. Neue Eliten schöpfen ebenfalls Profite ab; bei den Armen kommt nichts an. Wo Profit winkt, drängen sich auch die Industrienationen und die multinationalen Unternehmen. Die ansässige Bevölkerung hat wenig davon.
 
Der Agrarsektor ist geschwächt. Die verarmte Landbevölkerung drängt in die Städte, deren Slums wachsen. Schon heute leben mehr als 70 % der afrikanischen Bevölkerung, mehr als 500 Millionen Menschen, in solchen Slums, oft ohne Anbindung an Strom, Wasser und Abwasserkanäle.
 
Es kommt zur Vertreibung der Slumbewohner, zu Putschversuchen; Staatsautoritäten verfallen, ethnische oder religiöse Zugehörigkeiten spielen eine grössere Rolle. Es kommt zu ständigen Unruhen. China und die USA mischen sich ein, wo noch vor einigen Jahrzehnten die Kolonialmächte Einfluss hatten. Das erreichte Durchschnittslebensalter fällt und liegt zwischen 50 und 60 Jahren.
 
Zwischen 40 und 60 % der Bevölkerung südlich der Sahara sind unter 15 Jahre alt. Aufgrund von Aids, Ebola und anderer Seuchen verschlechtert sich die Schulbildung. Die Empfängnisverhütung ist weitgehend unbekannt oder wird nicht akzeptiert.
 
„Und so pendeln die Jugendlichen zwischen den Ausbrüchen geballter Wut wie beispielsweise bei den ständigen Unruhen in Abidjan (Elfenbeinküste) und dem Abgleiten in mehr oder weniger mafiose Banden, die unter anderem durch kriminelle Sabotageakte in der Ölförderregionen Nigerias von sich reden lassen.“
 
Wo Menschen kein Auskommen finden, wo sie sich ständiger Bedrohung ausgesetzt fühlen, flüchten sie in andere Länder, versuchen auszuwandern, drängen nach Europa. Mehr als 15 Millionen Menschen Afrikas leben ausserhalb ihres Heimatlandes, oft wandern sie aus einem afrikanischen Land in ein anderes.
 
Der Film
Soweit die Literatur. Einblicke in diese Welt gibt der Film. Aber nicht als Dokumentarfilm, sondern künstlerisch.
 
„Der poetische Reise- und Essayfilm über den französischen Musiker Raymond Borremans, der ab Ende der 1920er-Jahre bis zu seinem Tod im Jahr 1988 an einer Enzyklopädie Westafrikas arbeitete, die mit dem Buchstaben „N“ abbrach, oszilliert zwischen Traum und Realität. Nahezu berauschend spielt dieser magische Film mit der Konfrontation der westlichen Vernunft und der afrikanischen Spiritualität. N ist ein beeindruckender Film, eine audiovisuelle Sinfonie von grosser narrativer Komplexität, die den Wahn der Vernunft lebendig werden lässt.“
 
Der Film beginnt damit, dass Raymond Borremans unter einem Moskitonetz sich im Sterbeprozess befindet und danach in einer Art Traum-Realität-Sequenz aus dem Jenseits sein Leben abspulen lässt. Er war Franzose, 1906 in Paris geboren und beschliesst 1929 auszuwandern. Mit einem Banjo im Gepäck fährt er nach Afrika, um dem kriegsgebeutelten Europa zu entgehen. Er pendelt durch den Kontinent, lebt mehr als 50 Jahre in den Ländern der südlichen Sahara, vor allem an der Elfenbeinküste und in anderen Ländern, sammelt manisch Dokumente und Informationen für seine Enzyklopädie, aber auch Schmetterlinge, alles wird sorgfältig kartographiert und in Schaukästen aufgereiht. Er verdient sein Geld zuerst als Musiker, dann als Filmvorführer, baut seine Leinwand und seinen Projektor in den Dörfern und Städten auf und begeistert vor allem die Kinder mit seinen Filmen. Er erlebt die Veränderung in dem Gebiet und am Ende seines Lebens stellt er fest, dass er das Eigenartige und Fremde der Menschen und ihre Kultur nicht verstanden hat.
 
Er überredet Väter, ihre Kinder, die bisher das Vieh gehütet haben, in die Schule zu schicken. Er pendelt zwischen den uralten Riten und der Moderne. Er erlebt, dass einer der Jungen sich den Rebellen anschliesst. Diesem blieb im Prinzip nichts anderes übrig, nachdem die Regierungstruppen seine Familienmitglieder der Rebellion und Verbrechen bezichtigt hatten, von denen die Leute in seinem Dorf bisher nicht gewusst hatten, dass es so etwas gab. In der Folge wurde der Grossvater getötet, wie andere in dem Dorf auch.
 
Borremans sieht die Toten. Er zählt sie, vergleicht sie mit der einstigen Einwohnerzahl des Dorfs, in dem niemand überlebt hat, und hört die offiziellen Nachrichten, die die Zahl reduzieren und als unbedeutend abtun. Er sieht die Frauen, mit denen er zu tun hatte, die ihn bei der Filmvorführung assistiert hatten, wie sie sich prostituieren müssen, um zu überleben. Und gleichzeitig sieht er tanzende Schamaninnen, ihre Körper bemalt, ihre Brüste nackt an den Körper gebunden, die mit ihren Ritualen das Elend vertreiben wollen.
 
„Der Film fokussiert die Hoffnung und das Glück, das sich in der Kapitulation vor der Unvorhersehbarkeit und dem Chaos des Lebens verbirgt.“
 
Seine Verlegerin lässt die bisher von ihm verfasste Enzyklopädie erscheinen, aber was macht das für einen Sinn, ein Lexikon, dass nur bis zum Buchstaben ‚N’ geht?
 
Nicht nur der Bilderreichtum und die Darstellung machen den Film sehenswert, sondern auch der vom 82-jährigen Schauspieler Michel Lonsdale mit seiner ruhigen, sonoren gesprochene Stimme der Texte des nigerianischen Dichters Ben Okri. Es sind Sätze, Aphorismen, Gesprächsinhalte, Monologe und Dialoge. Auch die Musik des Komponisten Walter Hus ist Teil der Faszination, die der Film erzeugt.
 
Einmal gleitet die Kamera über einen riesigen grünen Fluss.
„Was siehst du?“, fragt die schwarze Frau, die den Borremans-Geist begleitet.
„Den Niger“, sagt er, „4180 km lang.“
„Ich sehe die Mutter Faro, Göttin des Flusses”, sagt die schwarze Frau.
 
Oder an anderer Stelle: „Definieren, das war mein ganzes Leben.“
Und später: „Die Einsamkeit war mein Laboratorium.“
 
Es sind Sätze, so kurz und eindrucksvoll, dass man sie nicht vergessen möchte. Aber gleich darauf folgen weitere, und das Gedächtnis kann sie nicht speichern. (Ich beschliesse, mir die Lyrik von Ben Okri zu beschaffen.)
 
Die Bilder sind überwältigend. Die alte Schildkröte, die alle Probleme überwindet und sich selbst befreit, ist eine Metapher fürs Leben. Kinder, die in der Schule ihre zu lernenden Wörter auf Schiefertafeln schreiben und diese stolz dem Lehrer zeigen, eine Metapher für das junge Afrika, die Hoffnungen weckt.
 
Borremans stellt im Laufe des Films das Denken in Frage: „Das Gedächtnis ist manchmal ein Schrotthaufen“, und aber auch das Aufschreiben. So war der Genozid, den die Hutus an den Tutsis anrichteten, auch deshalb möglich, weil die ehemalige Kolonialmacht Belgien verfügt hatte, die Stammeszugehörigkeit in den Pässen festzuschreiben. Zwischen einer halben und einer Million Menschen wurden ermordet, und die Papiere spielten dabei eine nicht unbedeutende Rolle.
 
Es wird eine Szene gezeigt, wie an einer Grenze, „die es vorher nicht gegeben hat“, Blauhelmsoldaten der UNO die Papiere der Grenzübergänger kontrollieren. Ohne einen Ausweis hätten sie die Menschen nicht ziehen lassen. Die Grenzgänger werden ermahnt, die mitgeführten Waffen abzugeben, und dann lässt man sie gehen.
 
Irgendwie desplatziert wirken sie, diese Mitarbeiter der UNO, unsicher und ängstlich. So wie Borremans verstehen sie die afrikanische Denkweise nicht und auch nicht, was da passiert.
 
„Dass ethnische Spannungen den demokratischen Prozess in Afrika erschweren, lässt sich nicht bestreiten. Oft gibt es gar keinen richtigen Wettstreit demokratischer Parteien, sondern nur Fragen nach der Zugehörigkeit zu ethnischen Minder- oder Mehrheiten. Und selbst die institutionell schwachen Oppositionsparteien richten sich in irgendwelchen Arrangements ein und ändern ihren Kurs je nach Situation und Umständen.“
 
Innerafrikanische Entwicklungen, Sünden der Kolonialmächte, Einflüsse der Industrieländer, Entwicklungshilfe, die nicht die Bevölkerung erreicht, kapitalistische Ausbeutung, Machtprobleme und Machtmissbrauch, Kriegshandlungen und Morde an unschuldigen Zivilisten, all dies lässt sich feststellen. Zu hoffen ist, dass die kleinen Pflanzen Demokratie, die Bemühungen, den Eingeborenen an einer wirtschaftlichen Entwicklung zu beteiligen, das gewaltlose Nebeneinander von Tradition und Moderne, langsam Früchte tragen. Es wird noch sehr lange dauern, aber man sollte die Hoffnung nicht aufgeben. Das kulturelle Erbe darf nicht untergehen!
 
Der Film „N - Der Wahn der Vernunft” (deutscher Titel) setzt ihm, dem Sucher, dem Einsamen, dem Sammler Raymond Borremans, ein würdiges Denkmal.
 
 
Quellen
Borremans, Raymond: „Le grand dictionnaire encyclopédique de la Côte d'Ivoire, Nouvelles éditions africaines”, 1987, ISBN 272360733.
Hrsg. Gresh, Alain u. a.: „Atlas der Globalisierung, Le Monde diplomatique, Berlin 2009.
„Meine afrikanische Seele”, Der Tagesspiegel, 08.02.2014.
Der Film „N: The Madness of Reason - N - Der Wahn der Vernunft”, Regie: Peter Krüger, NL-B 2014.
 
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