Textatelier
BLOG vom: 18.09.2015

Flüchtlinge 1946: „Die Deutschen müssen verschwinden“

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
 

Nach den vielen Flüchtlingen, die ins gelobte Land strömen wollen, kam mir mein eigenes Schicksal in den Sinn. Im August 1946 stand unsere Aussiedlung aus dem Sudetenland bevor. Damals wurden wir nach Westdeutschland ausgesiedelt. Wir waren also keine Flüchtlinge in dem Sinne, sondern Heimatvertriebene.

Damals gab es kaum Initiativen für die Rettung des Sudetenlandes. Soweit ich mich erinnern kann, wurden wir nach der Ankunft in Bayern nicht mit Geldern abgespeist, sondern erhielten Lebensmittelmarken. Auch sahen wir keinen einzigen Westdeutschen, der uns mit einer Jubelarie oder einem freudigen Klatschen begrüsste und mit Nahrungsmitteln und Getränken versorgte. Wir waren unerwünscht. Zum Glück gab es an der Grenze keine Tumulte wie vor einigen Tagen an Ungarns Grenze. Wir konnten ungehindert einreisen.

Da Wohnraum knapp war, gab es sogar Zwangseinweisungen in leer stehende Räume (so wurden bei meinen Schwiegereltern 2 Familien einquartiert!). Zum Glück vollzog sich die Integration sehr gut, zumal wir Deutsche waren und bald darauf die meisten in ihren Berufen wieder arbeiten konnten.

In diesem Blog werde ich einige wichtige Auszüge aus meinem Blog vom 01.12.2012 („Recherchen I: Familiäre Wurzeln in Zossen, Tschechien“) bringen.

Meine Mutter war für mich eine wichtige Zeitzeugin. Sie berichtete mir sehr ausführlich über die damaligen Ereignisse.

Die Deutschen müssen verschwinden
Schon 1918/19 war von der tschechischen Regierung geplant, die Sudetendeutschen aus dem Land zu weisen. Der Staatspräsident Edvard Beneš (deutsch: Eduard Benesch) bekannte in einer am 03.06.1945 gehaltenen Rede freimütig: „Alle Deutschen müssen verschwinden. Was wir 1919 schon durchführen wollten, erledigen wir jetzt.“

Der in London im Exil lebende Staatspräsident Beneš (1884‒1948) sicherte sich bereits 1943 von der britischen, amerikanischen und russischen Regierung die Zustimmung für seine Vertreibungspläne. Er sagte in einer Rundfunkansprache am 27.10.1943 dies: „In unserem Land wird das Ende dieses Krieges mit Blut geschrieben werden. Den Deutschen wird mitleidlos und vervielfacht all das heimgezahlt werden, was sie in unseren Ländern seit 1938 begangen haben. Die ganze Nation wird sich an diesem Kampf beteiligen.“

Im Mai 1945 wurden per Dekret alle Personen deutscher und magyarischer (ungarischer) Volkszugehörigkeit entschädigungslos enteignet. Es begannen die „wilden Austreibungen“. Die Deutschen wurden aus den Wohnungen geholt und in Viehwaggons Richtung Westen transportiert. Von den 2,5 Millionen Sudetendeutschen sollten 1,75 Millionen in die amerikanische Besatzungszone und 0,75 Millionen in die russische Zone abgeschoben werden dürfen. Das geschah dann auch. Verschiedene Quellen sprechen von bis zu 3 Millionen Sudetendeutschen, die vertrieben wurden. 200 000 wurden nicht ausgewiesen. Es waren Angehörige von Mischehen, in denen ein Elternteil die deutsche, der andere die tschechische Volkszugehörigkeit hatte.

Bericht von meiner Mutter
In den 70er-Jahren wurde ich von meinem ehemaligen Deutschlehrer Josef Walter König gebeten, doch einmal meine Mutter zu interviewen, was sie bei der Vertreibung erlebt hat. Er publizierte später den Bericht und weitere Episoden im Buch „Die Heimatvertriebenen des Landkreises Donau-Ries“.

Hier Auszüge, die nur die Aussiedlung betreffen. Eine ausführliche Darstellung finden Sie in meinem oben erwähnten Blog.

 Im August 1946 stand die Aussiedlung bevor. Jede Familie durfte Handgepäck, Kleider, die sie am Leibe trugen, und 50 kg Gepäck mitnehmen. Ich packte meine Holzkiste voll, zog meinem 4-jährigen Sohn (das war ich) – trotz des hochsommerlichen Wetters – einen Wintermantel an und setzte meine 2-jährige Tochter in den Kinderwagen. Wir wurden zunächst in das Freudenthaler Sammellager gebracht. Dort spielten sich bewegende Szenen ab. Als am Abend vor der Abreise Lehrer Schaffner das wunderschöne Lied ,Heimat, deine Sterne’ sang, hatte jeder Tränen in den Augen.

Am nächsten Tag ging es per Viehwaggon Richtung Westen. In Prag mussten alle den Zug verlassen und die Latrinen aufsuchen. Ich hörte, dass schon Menschen in die Latrinen gefallen seien, deshalb wurde jeder zur Vorsicht gemahnt. Nach dem Essenfassen – es gab eine dünne Erbsensuppe – fuhren wir weiter über Karlsbad nach Bayern, von dort ins Sammellager Friedland. Nach der üblichen ,Entlausung’ wurden wir in ein Lager nach Augsburg und später nach Monheim gebracht. Das Lager in Monheim befand sich in der Nähe des Sägewerkes am Waldrand.

Nach 8 Tagen wurden die Insassen per Lieferwagen in die umliegenden Ortschaften transportiert. Bekannte von mir kamen nach Sulzdorf, Daiting, Fünfstetten, Wemding, Baierfeld, Harburg und Buchdorf. Ich kam mit meinen Kindern nach Buchdorf. Da kein Wohnraum zur Verfügung stand, mussten wir eine Woche in der Schule verbringen. Danach bekamen wir ein winziges Zimmer ohne Ofen zugeteilt. Den drauffolgenden Winter verbrachten wir in einem eiskalten Zimmer. Wir wärmten uns im Bett oder sassen dick eingehüllt in Decken vor einer brennenden Kerze.

1947, im Frühjahr, erhielten wir im Gemeindehaus – damals ,Armenhaus’ genannt – ein grösseres Zimmer. Jede Familie bekam einen Herd, einige Möbel und einen Ster Holz. Ein grosses Problem war die Ernährung. Wir hatten zwar einige Lebensmittelmarken, aber dafür bekamen wir nur winzige Portionen Mehl, Milch, Brot, Butter und Kartoffeln. Da wir hungerten, blieb mir nichts anderes übrig, als Nahrungsmittel zu beschaffen. Ich sammelte auf den abgeernteten Feldern Ähren und Kartoffeln ein, klaubte Fallobst zusammen und holte Beeren aus dem Wald. Aus Zuckerrübenschnitzeln bereitete ich Sirup.

Da wir anfangs fast überall auf Misstrauen und Ablehnung stiessen, war es nicht verwunderlich, dass unsere Bettelaktionen wenig einbrachten. So ging ich eines Tages mit einer Freundin von Bauernhof zu Bauernhof. Die Ausbeute war mager; wir erhielten nur ein einziges Ei. Später legte sich das Misstrauen etwas, und wir erhielten öfters Nahrungsmittel von den Einheimischen.

1949 lernte ich meinen späteren 2. Mann kennen (der erste kehrte aus dem Krieg nicht mehr zurück). Er stammte ebenfalls aus dem Sudetenland. Als Kaufmann tauschte er oft Waren gegen Essbares ein, so dass wir endlich wieder gefüllte Teller hatten. Das Hungern hatte ein Ende, und ich gewöhnte mich, wenn auch nur sehr langsam, an das neue Zuhause.“

Soweit der Bericht meiner Mutter.
 
Erfolgreiche Integration
Zum Glück erfolgte die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in Deutschland innerhalb weniger Jahre. Die „Fremden“ brachten Kenntnisse und Fähigkeiten mit, welche besonders die agrarisch strukturierten Länder bereicherten. Dies war beispielsweise in Bayern der Fall. Dort wurde ein Zuwachs der Bevölkerung um fast 25 % registriert. In Bayern wurden sogar eigene Neuansiedlungen geschaffen. In Kaufbeuren-Neugablonz entwickelte sich eine Schmuckindustrie und in Waldkraiburg und Traunreut die Glasveredelung. Die Aufbauarbeit der Vertriebenen trug wesentlich zum „Wirtschaftswunder“ bei.

Es ist leider immer so: Wenn Kriege geführt werden, müssen Unschuldige dafür büssen, was die Oberen angeordnet und verbrochen haben. Das ist auch in der heutigen Kriegsführung so. Da wurden Kriege geführt, die eine schreckliche Nachkriegsära einläuteten. Menschen fliehen vor Despoten, Mördern, Folterern, Land- und Hauszerstörer. Da wir nicht alle Flüchtlinge aufnehmen können, wird eine gerechte Verteilung in Europa gefordert.

Traurig ist, dass nicht alle Europäer an einem Strang ziehen und eine Lösung suchen. Der von Frau Merkel geforderte Sondergipfel kam bisher nicht zustande, die Regierungschefs wollen sich lieber bei einem Abendessen treffen und diskutieren.

Bei einem feudalen Essen kommt sicherlich genussvolle Freude auf.

Anmerkung: Es klappt nun doch: Die Staats- und Regierungschef der EU-Länder kommen am 23.09.2015 zu einem Flüchtlings-Sondergipfel zusammen.



Internet
 
Hinweis auf Blogs über Tschechien
01.12.2012: Recherchen (I): Familiäre Wurzeln in Zossen, Tschechien 
 

 


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