Textatelier
BLOG vom: 03.11.2015

Hoffnung auf bessere Zeiten in der Ukraine

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland

 

 

Handleser in Kharkiv (Ostukraine)

Handleser in Kharkiv (Ostukraine)
 

Es ist der Sonntag Nachmittag des 1. November. Die Sonne schafft es nicht, sich einen Weg durch die dicke Wolkendecke zu bahnen. Ich gehe auf dem Bürgersteig eine breite Strasse hinunter und sehe 2 Männer auf einer Bank und einen, ihnen zugewandt, auf einem Schemel sitzen. Hinter ihm steht ein Schild. Das Schild zeigt an, dass hier ein Mann arbeitet, der das Schicksal aus der Hand lesen kann. Ernst schaut der Wahrsager auf die Hand seines Gegenübers. Die beiden Männer sind ein wenig älter als der dritte, jüngere Mann, der in meine Richtung schaut. Er hat seine Hände gefaltet.

Ich bin in Kharkiv in der Ostukraine. Hinter der Bank ist ein großer Park. Es gibt viele solcher Parks in Kharkiv, einer davon ist ein Teil des Unabhängigkeitsplatzes, wie er seit 1990 heisst. Er ist einer der grössten Stadtplätze in Europa. Bis Februar 2014 stand hier auf einem 12 m hohen Sockel noch ein 8 m hohes Lenin-Denkmal. Wenn Lenin nicht vom Sockel gestossen worden wäre, würde er auf die 3 hinunterschauen. So sind es nur die Passanten, die einen kurzen Blick auf sie werfen und dann weitereilen.

Für einfache Leute ist das Leben in der Ukraine in diesen Zeiten hart. Die Preise steigen schneller als die Löhne, Rentner können von ihren Einkommen kaum leben. Es gibt viele Bettler. Sie stehen und sitzen nicht nur am Wegesrand, einige halten ihren Becher sogar den Autofahrern hin, die an einer Ampel warten müssen. Es gibt zwar viele Geschäfte mit westlichen Waren, aber sie sind meistens leer. Und das, obwohl es durchaus eine wachsende Mittelschicht im Land gibt.

Dazu scheint der Mann, der sich aus der Hand lesen lässt, wohl nicht zu gehören. Vielleicht weiss der Mann nicht mehr weiter. Er möchte einen Blick in die Zukunft tun und sich vergewissern, dass auch einmal bessere Zeiten kommen. Die ernste Mimik der beiden, tief ins Gespräch versunkenen Männer lässt aber wenig Optimismus zu. Der Mann, links im Bild, dem aus der Hand gelesen wird, schaut seinem Gegenüber gläubig, fast verzweifelt, an. Es lässt sich nichts Gutes aus seiner Hand lesen.

Ob dem Aus-der-Hand-Leser bewusst ist, dass er mit dem Schicksal des anderen spielt? Wer sagt ihm denn, dass sein Klient nach diesem Gespräch nicht von einer Brücke der zwei Flüsse dieser Stadt springt, um seinem Leben ohne Zukunft ein Ende zu machen? Jedenfalls redet der ihm ernst ins Gewissen. Was der Wahrsager wohl aus den Handlinien heraus interpretiert?

Der Jüngere im Bild hört zu, auch wenn seine Augen in die Ferne wandern. Wie zu einem Gebet hat er die Hände gefaltet. Im Hintergrund sieht er die goldenen Zwiebeltürme einer Kirche.

Vor der Eingangstür einer der vielen grossen orthodoxen Kirchen in dieser Stadt, ein paar hundert Meter weiter, steht ein Mütterchen, eine Babuschka, und bekreuzigt sich 3 mal vor einem religiösen Bild an der schweren Eingangstür, das einen Engel zeigt, der auf Maria hinunterblickt. Es scheint ein Schutzengel zu sein, und mit der Bekreuzigung hofft die Alte, dass ein wenig auch für sie von diesem Schutz abfällt. Schon bevor sie in die Kirche eintrat, hat sie sich 3 mal bekreuzigt. In dem Gotteshaus hat sie eine kleine dünne Kerze gekauft, aufgestellt und angezündet. Sie brennt jetzt vor einem Heiligenbild. Dann hat sie den aus Silberblech gefertigen Sarg des Patriarchen, der in der Kirche auf einem Altar mit seinem Bild steht, geküsst. Es hat ihr gut getan, denn sie strahlt ein wenig Frieden aus. Sie fühlt, es kann nicht schlechter werden, die guten Mächte werden sie beschützen.

In jeder der Kirchen brennen viele dieser Kerzen. Die Hoffnung stirbt nie, besonders, wenn sie ein wenig Unterstützung aus der anderen Welt erhält.Vielleicht hofft der Mann, der dem anderen seine geöffnete Hand hinhält, damit er ihm die Zukunft liest, ja auch noch.

Ich denke mir, ob es nicht besser gewesen wäre, der Frau gegenüber an ihrem kleinen Tisch, auf dem sie ihre Ware anpreist, eine Handvoll ihrer Walnüsse abzukaufen, statt das Geld für Wahrsagerei auszugeben. Walnüsse stehen im Ruf, die Gehirntätigkeit zu erhöhen, und er hätte sich dann vielleicht denken können, dass das alles nur Humbug ist, denn wer kann schon in die Zukunft sehen?

 


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