Textatelier
BLOG vom: 01.01.2016

Leopold Ziegler – Geschichtsvisionär und Friedensdenker

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Beromünster LU/CH

 

Red. Rückblick auf einen eigenwilligen Gelehrten mit persönlichen Reminiszenzen an seine bodanische Wahlheimat; der Religionsphilosoph Leopold Ziegler (1881 – 1958) war wie der Verfasser dieses Essays Träger des Bodenseeliteraturpreises der Stadt Überlingen. Zu den faszinierenden Motiven bei Leopold Ziegler gehören für den Verfasser das konfessions- und religionsüberschreitende Denken bei entschieden abendländischem Bezug. Visionär erscheinen die Gedanken Zieglers zur „Muttergottheit“ und zur Auffassung des „Ewigen Friedens“ im Mittelalter, im Lateinischen „Treuga Dei“ genannt. Leopold Ziegler war einerseits mit dem badischen Autor Reinhold Schneider tief befreundet, andererseits kommt er in seinem Werk wiederholt auch auf die Schweizer Pestalozzi und Gottfried Keller zu sprechen, so wie er ein tiefer Verehrer des österreichischen Autors Adalbert Stifter war. Pirmin Meier widmet diese Studie, eine weitere in der Serie seiner Porträts zumeist geistiger Persönlichkeiten, als Neujahrsbetrachtung den Leserinnen und Lesern des Textateliers.

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Leopold Ziegler gehörte der Generation meiner Grosseltern an. Geboren ist er im badischen Karlsruhe zur Zeit der Walpurgisnacht, am 30. April 1881. Wenige Stunden nach ihm, am 1. Mai, kam in Pascals Clermont-Ferrand der spätere Jesuitenpater Pierre Teilhard de Chardin zur Welt. Der Ziegler in manchen Fragestellungen untergründig verwandte Kosmologe, Paläontologe und Theologe des Punktes Omega verstarb am Ostersonntag 1955. Begriff Pascal das Weltall aus dem schauerlichen „Schweigen der unendlichen Räume“1, wurde das Universum von Teilhard, wie Josef Ratzinger als Papst Benedikt XVI. 2009 zu loben wusste, als „lebendige Gaststätte“2 begriffen. Das Gemeinsame bei Ziegler und Teilhard ist aus meiner Sicht das eschatologische, auf die Letzten Dinge hin ausgerichtete Geschichtsbild. Dies verband Ziegler auch mit seinem am tiefsten geistesverwandten Freund Reinhold Schneider, über dessen Rezeption beim Abfassen meiner Dissertation „Form und Dissonanz – Reinhold Schneider als historiographischer Schriftsteller“ (Bern – Frankfurt – Las Vegas 1977) ich mich erstmals nachhaltig mit dem eigenwilligen Denker aus Überlingen beschäftigen durfte. Über Querbezüge Ziegler – Teilhard de Chardin hat sich, in abgrenzendem Sinn, 1965 der Mystikforscher und Freund Zieglers, Ernst Benz, ausgelassen.3

Zum Jahrgang 1881 zählte ebenfalls Angelo Giuseppe Roncalli, am Jahrestag von Konstantins Lichtvision vor der Schlacht an der Milvischen Brücke (28.Oktober 1958) zum Papst Johannes XXIII. erwählt. Das war wenige Wochen vor dem Hinschied Zieglers. Durch die Namenwahl des neuen Pontifex wurde ein Problem der Bodenseegeschichte dank päpstlichem Spruch endgültig gelöst. Es entschied sich nämlich die Frage, ob der 1414 vom Konstanzer Konzil abgesetzte Papst Johannes XXIII., Baldassare Cossa, der schon als Laie und Offizier Kardinal geworden war, seinen Namen zurecht habe tragen dürfen oder eben nicht. Länger als ein halbes Jahrtausend mochte sich kein Papst mehr Johannes nennen. Mit Roncallis Entscheidung war das Dilemma gelöst. In den Lexika existieren nichtsdestotrotz zwei Päpste mit dem Namen Johannes XXIII. (Aus der Sicht der ultrakonservativen Sedivakantisten waren übrigens beide Päpste illegitim. Der eine fand seine letzte Ruhe im Baptisterium beim Dom von Florenz, der andere, mittlerweile heiliggesprochen, im Vatikan.)

Am Lebensende Zieglers kurz nach dem Totensonntag 1958 (25. November)  war nicht absehbar, dass die katholische Kirche unter dem 77jährigen Papst Johannes XXIII. zu einem pastoralen Reformkonzil aufbrechen, sich einer weitergehenden Ökumene öffnen und sich auf ihre Weise den nichtkatholischen westlichen und östlichen Kirchen sowie den Weltreligionen neu zum Dialog stellen würde. Die Behauptung, der mit Roncalli gleichaltrige Ziegler hätte sich zeitlebens in dieselbe Richtung bewegt, mag gewagt erscheinen, teilweise gar in die Irre führen. Im Gegensatz zu seinem jüngeren Freund Reinhold Schneider, den er dem Zürcher Germanisten Emil Staiger gegenüber zum Neujahr 1940 brieflich als einen der „reinsten und frömmsten Christen dieser Zeit“4 würdigte, stand in Zieglers Denken und Schreiben weder der Reformbedarf der katholischen noch derjenige der evangelischen Kirche im Vordergrund. Wie Reinhold Schneider war Ziegler Kind einer gemischt-konfessionellen Ehe. Zu keiner Zeit seines Lebens huldigte er im Denken und Fühlen einem engen Konfessionalismus.

Leopold Ziegler erstes Hauptwerk, „Gestaltwandel der Götter“ (1920) war in vielem eine Antwort auf Nietzsche, dessen massgebliche Wirkung auf deutsche Intellektuelle schon bald nach der Jahrhundertwende nicht mehr zu aufzuhalten war. Der philosophische Autor Ziegler wandte sich nicht primär an Christen, eher schon an Nicht-Christen oder, wie er sich charakterisierend ausdrückte, „Nicht-mehr-Christen“5. Dieser weltanschauliche Status war für einen erheblichen Teil der deutschen Intellektuellen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg kennzeichnend und im höchsten Grade ideologiebildend. Die Formel vom „Gestaltwandel der Götter“ war unter diesem Gesichtspunkt ein programmatischer Hinweis, dass und wie bei aller Abwendung vom Christentum, gar nach Nietzsches Verkündigung des Todes Gottes, der Mensch der Zukunft ein „homo religiosus“ bleibe, analog zum vielzitierten Diktum von Karl Rahner, dass der „Christ der Zukunft ein Mystiker“6 sein werde.

Das Religiöse, so Ziegler in seinem späten „Lehrgespräch vom allgemeinen Menschen in sieben Abenden“ (1956), ist eine anthropologische Konstante und gehört mit zur Verfasstheit des „allgemeinen Menschen“, einem Begriff, den Ziegler unter anderem aus der Auseinandersetzung mit Johann Heinrich Pestalozzi gewonnen zu haben scheint.7 Aus dieser Haltung heraus, auf die der Kritiker der Volkskirche Kierkegaard, später Jakob Böhme und Franz von Baader massgeblichen Einfluss gewannen, verstand sich der Privatgelehrte Leopold Ziegler nebst Auseinandersetzungen zu Politik, Wirtschaft und Technik früh als Religionsphilosoph. Rein kirchliche oder gar kircheninterne Angelegenheiten scheinen ihn zeitlebens wenig interessiert zu haben.

Macht heute die Lektüre eines Buches wie „Gestaltwandel der Götter“ wegen seiner unübersehbaren Themenfülle wie auch angesichts einer manchmal etwas geschraubten Diktion dem Leser Mühe, vermögen Ziegler-Essays aus den fünfziger Jahren wie „Von der Muttergottheit“ und „Evangelischer Friede“ noch immer zu bewegen. Die Ausführungen über die „Muttergottheit“ zähle ich zu den bedeutenden geistesgeschichtlichen Kommentaren zu dem von Papst Pius XII. 1950 verkündeten Dogma von der leiblichen Aufnahme der Gottesmutter in den Himmel. Wie Carl Gustav Jung interessierte sich Ziegler nicht für dogmatische Probleme beziehungsweise was eine solche kirchliche Setzung für konfessionelle Abgrenzungen, die für den Religionsphilosophen kaum ins Gewicht fielen, zu bedeuten hätten. Stärker bewegte ihn die Frage, „ob denn der Schritt von der Erdmutter Demeter zur Maienkönigin Maria in Wahrheit unvollziehbar sei?“8 Mit dieser Fragestellung, die das Thema des „Gestaltwandels der Götter“ aufgreift, stand Ziegler dem Basler Nietzsche-Weggefährten und Mutterrecht-Theoretiker Johann Jakob Bachofen (1815 – 1887)  näher als dem Theologen Karl Barth beziehungsweise dem jungen Hans Küng.

Der zusammen mit dem Essay „Von der Muttergottheit“ in der „Spätlese eigener Hand“ (1953) veröffentlichte Aufsatz „Evangelischer Friede“ kann aus meiner Sicht als Zieglers begleitender Beitrag zu Reinhold Schneiders Friedensschriften und Friedensreden der fünfziger Jahre gelesen werden. Insofern hätte Leopold Ziegler in der Gefolgschaft von Romano Guardini (1952), dem Schweizer Carl Jacob Burckhardt (1954) und Reinhold Schneider (1956) einen ebenbürtigen Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels abgegeben. Doch war der einstige Goethe-Preisträger Ziegler in dieser seiner Spätzeit aus bekannten Gründen weder als Philosoph noch als Autor mehr vergleichbar berühmt wie seine damals auf dem Gebiet der Dichtung erfolgreichen Weggefährten und Gesinnungsfreunde Reinhold Schneider und Werner Bergengruen. Auch die Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger, mit denen er seit 1932 in Kontakt stand, genossen eine weit höhere Beachtung.

Die Auszeichnung mit dem vergleichsweise bescheidenen Bodenseeliteraturpreis 1956, gewürdigt durch eine Laudatio meines väterlichen Freundes und Förderers Eduard Stäuble, galt einer Geistesgrösse von Überlingen. Über die Ehrung eines Patriarchen hinaus ging es dem damaligen Preisgericht darum, im süddeutschen Raum und in der bodenseenahen Wahlheimat mit neuem Nachdruck auf ein bedeutendes Werk aufmerksam zu machen. Jahrzehntelang blieb es den Überlinger Kulturförderern ein Anliegen, neben Belletristik, etwa dem frühen Martin Walser, noch und noch ein humanistisch orientiertes Schrifttum von in der Regel gut schreibenden Gelehrten auszuzeichnen. Auch in dieser Hinsicht hat Leopold Ziegler als Preisnachfolger von Wolfram von den Steinen und Friedrich Georg Jünger Massstäbe gesetzt. Er war sowohl – nach Stefan George und Albert Schweitzer – der dritte Goethe-Preisträger (1929) als auch der dritte Bodenseeliteraturpreisträger.

Im Bodenseeraum hat der gebürtige Baden-Badener, wie Eduard Stäuble hervorhob, seine „Weltverwurzeltheit“9 gefunden. „Heimat der Geburt wiegt wenig, Heimat des Geistes ist alles“10, das Wort des ebenfalls an den Bodensee zugereisten Rudolf Hagelstange galt erst recht für Ziegler, der seinerseits 1946 im „Südkurier“ und 1953 in der im Münchner Prestelverlag erschienenen Anthologie „Rheinfahrt“ eine Hommage auf das Schwäbische Meer publiziert hat.11

Ich erlaube mir in diesem Zusammenhang ein paar persönliche Reminiszenzen einzuschieben. Es gab für mich Gründe, am 17. Oktober 1993, dem Tag der abermaligen Verleihung des Bodenseeliteraturpreises der Stadt Überlingen12, dem städtischen Friedhof einen Besuch abzustatten und am Grab des verehrungswürdigen Gelehrten Leopold Ziegler einen aus Lorbeerblättern geflochtenen Kranz niederzulegen. Begleitet wurde ich damals von der Gattin des neugewählten, inzwischen verstorbenen Oberbürgermeisters Klaus Patzel. Für die Dame war es ihrerseits der erste Besuch auf dem Friedhof der Stadt, wo ihr Mann als zugezogener Stadtvater wirken sollte. (Ein bemerkenswerter Systemunterschied zur Schweiz, wo es auch für den Fähigsten und seine Familienmitglieder undenkbar bliebe, „Stadtammann“,  Oberbürgermeister, zu sein, ohne sich über den Weg zum Friedhof auszukennen.)

Der Kranz aus Beromünster galt der Freundschaft zwischen Leopold Ziegler und Reinhold Schneider, welch letzterem ich den Zugang zu Zieglers Werk wie auch generell wesentliche Perspektiven historiographischen Schreibens verdanke. Mit Leopold Ziegler war ausserdem mein langjähriger schreibender Weggefährte und Lehrerkollege Dr. Paul König im Verhältnis einer Art Wahlsohnschaft verbunden.13 In diesem Sinn wurde Ziegler für mich, unbeachtet des Ruhms etwa von Martin Walser, mit Blick auf Überlingen eine verehrungswürdige Orientierungsgrösse schlechthin.

Zu Lebzeiten Zieglers war ich zu jung, als dass ich einen Gelehrten dieses Formats hätte persönlich kennenlernen können. Ohnehin war sein Name in meiner Familie nicht bekannt, im Gegensatz zu demjenigen von Reinhold Schneider, dessen Hinschied im April 1958 von Radio Beromünster gemeldet wurde. Nach dem Tode von Thomas Mann für mich die früheste Erinnerung an das Ableben eines Autors. Reinhold Schneider wurde dann und wann in Deutschland und in der Schweiz in Sonntagspredigten zitiert, was bei Ziegler wohl weniger der Fall war. Den Bodensee habe ich in den frühen fünfziger Jahren auf einem Sonntagsausflug meiner Eltern erstmals gesehen. Unvergesslich bleiben mir Reste von Ruinen der zerbombten Stadt Friedrichshafen, meine erste sinnliche Begegnung mit dem Phänomen Krieg. Den Satz von Leidensmystiker Heinrich Seuse, den Leopold Ziegler zum Motto eines seiner Vermächtniswerke („Spätlese eigener Hand“) setzte, konnte ich damals noch nicht kennen: „Im Untergang werden alle Dinge vollbracht.“14

Auch die Reichenau, Wirkungsstätte meines Namensheiligen Pirmin, war Ausflugsziel meiner gutkatholischen Eltern. Dass ich mich an den ersten Besuch des Konstanzer Münsters erinnern könnte, wäre wohl zu viel gesagt. Es bleibt aber dabei, dass ich den Bodenseeraum schon zu Lebzeiten Leopold Zieglers kennenlernen durfte. Stundenlang brütete ich als Knabe jeweils über Atlanten und Landkarten. Am Bodensee fiel mir immer der wie ein Finger nach Nordwesten zeigende Überlinger See auf. Dass mir je der Überlinger Literaturpreis zuteil werden könnte, hätte ich mir noch als vierzigjähriger Gymnasiallehrer an einem Luzerner Landgymnasium niemals vorstellen können.

Im Vergleich zur Stadt Überlingen, die für mich noch als mütterliche Heimstätte des Mystikers Heinrich Seuse Bedeutung erlangen sollte wie auch als Entstehungsort der Novelle „Auf den Marmorklippen“ von Ernst Jünger, sah ich mich in Konstanz über alles gesehen stärker zu Hause. Dank jahrzehntelanger Verbundenheit des Gymnasiums Beromünster (mit Internat Don Bosco) zur Don-Bosco-Heimstätte in Konstanz führte ich mit meinen Gymnasialschülern regelmässig in der Konzilsstadt kulturhistorische Arbeitswochen durch. Nebst dem Konzilsgebäude und dem imposanten ehemaligen Refektorium im Insel-Hotel hatte es mir vor allem das Münster mit der Mauritius-Rotunde angetan. In diesem Zusammenhang konnte mir ein schöner Text zur unsichtbaren Geschichte und spirituellen Fundierung des Konstanzer Münsters nicht entgehen. Es handelt sich um ein essayistisches Juwel im Schaffen von Leopold Ziegler: „Evangelischer Friede – Meinen Freunden zum Neujahresangebinde 1952“.15

Der Text wurde mir auch deswegen kostbar, weil er im Denken und Schaffen von Leopold Ziegler und Reinhold Schneider eine beeindruckende Schnittmenge bildet. Stärker als je wurde mir klar, dass und wie sich die beiden aus dem Badischen stammenden Denker als eschatologische Humanisten verstanden haben, nämlich aus einer mittelalterlichen Vision der Letzten Dinge heraus. Dabei ist aber in diesem Essay glücklicherweise nicht mehr von der pathetischen Verkündigung eines „Neuen Mittelalters“ die Rede wie noch im Klappentext von Zieglers Schrift „Der europäische Geist“ von 1929.16 Diese Formel vermochte Ende der zwanziger Jahre, zur Zeit der sogenannten Konservativen Revolution, keine hinreichende Alternative zum damals aufkommenden Totalitarismus zu bilden. Dabei bleibt interessant, dass der Europa-Gedanke des 20. Jahrhunderts ursprünglich ein radikal konservatives Anliegen rückwärts gewandter Visionäre war.

Bei „Evangelischer Friede“ artikuliert Ziegler den von Schneider politisch noch radikaler formulierten Zweifel, ob mit NATO und Europäischer Verteidigungsgemeinschaft beziehungsweise der Wiederbewaffnung Deutschlands das Abendland wirklich gerettet werden könne. Dabei verkörpert allerdings die eschatologische Formel vom „Seinsstand des Nichtwiderstehens“17, eine Formulierung im Anschluss an Tolstoi und Nietzsche18, einen Pazifismus, von dem sich ein nüchtern westorientierter Realpolitiker wie Konrad Adenauer niemals hätte beeinflussen lassen. Der Text bleibt dennoch beeindruckend und nachhaltig. Wie Reinhold Schneider wollte Leopold Ziegler den sogenannten Westen, die NATO, Euratom und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, also die spätere Europäische Union, nicht mit dem Abendland verwechselt haben, wiewohl er sich zur Montanunion durchaus hoffnungsvoll äusserte. Auch ideologischer Schindluder, sei es von sozialistischer oder bürgerlicher Seite, mit dem Begriff „Frieden“ war Ziegler zuwider. In dieser Sache haben sich Reinhold Schneider und der Überlinger Philosoph zu ihrer Zeit deutlich engagiert. Schneider war wegen seiner Geringschätzung der Bundesrepublik und Kontakten zur DDR in besonderer Weise umstritten.19

Im Vergleich und auch in Abgrenzung zu Schneider artikulierte sich Ziegler wiederholt als Antikommunist bzw. Kritiker des Marxismus. Der Antikommunismus steht jedoch in der Friedensschrift, abgesehen von Andeutungen einer ernsthaften Bedrohung, nicht im Vordergrund. Eher geht es Ziegler um einen eschatologisch zu verstehenden Anruf aus der Vergangenheit, die Erinnerung an den denkwürdigen Gründonnerstag des Jahres 1043.

An diesem Tag, dem 31. März, verkündet der 26jährige einstige Alemannenherzog und Salierkaiser Heinrich III., soeben verwitwet und von Speyer rheinaufwärts hergereist von der Beisetzung seiner Mutter, der bigott-frommen Kaiserin Gisela, im Konstanzer Münster den Ewigen Frieden, die Treuga Dei, streng genommen die Ewige Waffenruhe, bezogen wohl vor allem auf den hiesigen oberrheinischen Raum. Kein Grund, sich zum Beispiel ein Jahr später von einem Krieg gegen Ungarn abhalten zu lassen. Für Ziegler stehen diese einschränkenden Details nicht im Vordergrund. Für ihn wurde der Gottesfriede zum Symbol einer Haltung, wie sie von Cluny her verkündet wurde, was Kreuzzugspredigten trotzdem nie ausgeschlossen hat. Der „Evangelische Friede“ ist für Ziegler eher eine Sache der Verkündigung als politische Realität in einer „Welt der lebendigen Geschichte“, die nach seiner Einschätzung „grundsätzlich friedlos ist. Sie, die eigentliche, will heissen menschliche Geschichte kurzerhand als den Schauplatz eines Dauerkrieges ein für allemal zu verdammen“, werde der Wahrheit nicht gerecht.20 Dieser Verdammung fallen bei Ziegler indes die modernen Kriegsideologien der Massengesellschaft anheim, etwa die nationalsozialistische und diejenige, die sich auf den Klassenkampf beruft. Ebenfalls nicht mit dem „Evangelischen Frieden“ gleichförmig ist der blosse Gesellschaftsfriede als Bedingung weiterer Kriegsführung oder der sogenannte „bewaffnete Friede“21, von Reinhold Schneider in seinen Friedensschriften gegen die deutsche Wiederbewaffnung abgelehnt, von Ziegler immerhin kritisiert:

„So wird ihm, dem natürlichen und profanen Frieden, selbst als dem bewaffneten, bald jeder Raum zu eng. Unaufhaltsam überschreitet er alle Grenzen, die ja immer nur der Zufall der Geschichte zieht. Die innere Notwendigkeit, den ganzen Erdraum zu durchdringen, treibt ihn zu guter Letzt über jede Grenze schlechterdings hinaus.“22 Für Leopold Ziegler ist mit der mittelalterlichen Symbolik der „Treuga Dei“ für die „wirkliche Befriedung des Abendlandes“ postuliert, „dass der Friede von oben sich eines Tages mit dem von unten eint und gattet:“23 Dazu seine mittelalterliche Vision, gesehen in der idealisierten Verkündigung des Kaisers im Konstanzer Münster:

„So hatte der Ewigkeitsblitz wieder einmal in die Zeitlichkeit eingeschlagen und sie entzündet. Was in der Sehnsucht der christlichen Äbte und Mönche gekeimt und ausgetrieben hatte, fand in der Seele des salischen Kaisers Heinrich des Dritten die nährende Mutterscholle, darin es sich vollends entfalten konnte. Das nie zuvor und nie nachher Erhörte geschieht – der Träger der obersten weltlichen Gewalt im Abend macht zu seinem höchsten Anliegen die Gottestreue Clunys, oder genauer noch: den evangelischen Frieden Jesu Christi in Gestalt der Treuga Dei. Als einzigem konnte es ihm auferlegt sein (…), den Frieden von unten im Frieden von oben, im evangelischen Frieden, entstehen zu lassen. Wiederum würde den Frieden von oben lediglich der allgemein verpflichtend zu verkünden befugt sein, der ihn zuvörderst in sich selber hergestellt. Am Gründonnerstag 1043 sagt der salische Kaiser dieses Schlüsselereignis im Konstanzer Münster feierlich an, und setzt hierdurch der Christenheit für immer das eichende Mass, hinter welchem kein künftiger Herrscher zurückbleiben durfte, wenn anders er unter den Gläubigen des Evangeliums als Friedensstifter Glauben finden wollte.“24

Wiewohl diese Friedensverkündigung von Heinrich III. noch zweimal, nach sehr weltlich-teuflischen Kriegen, wiederholt werden sollte, bleibt das Ereignis vom Gründonnerstag 1043 für Ziegler ein einmaliges Symbolgeschehen schlechthin. Um nicht mit einem Apostel von Illusionen verwechselt zu werden, hält er jedoch fest, „jenem Gründonnerstag 1043 sei ein Ostern niemals gefolgt.“25

Der ewige Friede bleibt beim Kaiser, wie später bei Kant, vor allem Vision, vielleicht Vertröstung des Volkes, nicht zu verwechseln mit irgendeinem vorläufig errungenen Friedenschluss. Der Unterschied zu modernen Friedenskonzeptionen liegt gemäss Ziegler  in der stärkeren Betonung des Eschatologischen, dem Jüngsten Gericht, nicht zu verwechseln mit dem Schiller-Hegelschen Diktum, wonach die Weltgeschichte das Weltgericht sei. Für Ziegler wie für Schneider gibt es einen konkreten Weltenrichter, die Parusie der „Ankünftigkeit“ von „Christus“ als dem „Richter, der die Lebendigen und Toten zum Selbstgericht durch die gewaltlose Allgegenwart seiner Ankünftigkeit nötigt.“26 Diese Gewissenserforschung ist für Ziegler, der sich in diesem Zusammenhang auf den in Deutschland jahrzehntelang verfemten Carl Spitteler beruft, der „Zwang der Zwänge“.27 Also kein Friede ohne Gewissenserforschung. Das ist, ob es der Kaiser damals so gemeint habe oder nicht, für Leopold Ziegler dessen erhabene Konstanzer Gründonnerstagsbotschaft vom 31. März 1043.

Zieglers Friedenspredigt mit dem Appell an das Gewissen, womit er sich der Kritik damaliger Intellektueller und auch Reinhold Schneiders am Atomkrieg anschliesst, scheint mir im Vergleich zu früheren Haltungen für seine eigene Biographie eine Errungenschaft zu sein. Dabei geht es mir nicht darum, wie es zumal aus der Sicht Nachgeborener üblich ist, Ziegler nachträglich mangelnde Kritik am Nationalsozialismus oder mangelnden Mut zum Widerstand vorzuwerfen. Die entsprechende ideologische Distanz lässt sich bekanntlich seit der Weimarer Zeit nachweisen; es ist auch bekannt genug, dass Ziegler wegen seiner Nähe zu Edgar Julius Jung, dem konservativen Revolutionär, nach dem 30. Juni 1934 seines Lebens nicht mehr sicher war, sich zeitweise in ein Schweizer Exil verzog. Am eindrucksvollsten ist für mich die briefliche Diskussion zwischen Ziegler und Reinhold Schneider in der Phase der grössten militärischen Erfolge Hitlerdeutschlands 1940. Wer, wie Ziegler, als Mann der sogenannten Hegelschen Rechten die damaligen Ereignisse mit dem Weltgeist kompatibel machen wollte, musste kein Nationalsozialist sein, um in historizistisches Raunen zu geraten. Es handelt sich dabei um eine geistige Versuchung, der moderne Intellektuelle zu allen Epochen ausgesetzt waren und es immer noch sind. Säkulare Entwicklungen, heissen sie nun Krieg, Nation, Globalisierung, Europa, One World oder wie auch immer, lechzen nach Interpretation, Rechtfertigung, Erweis der Unausweichlichkeit oder was auch immer. In diesem Zusammenhang schrieb Reinhold Schneider schon 1936 in „Das Inselreich“ von der Schuld der Geistigen:

„Mit der Schuld der Handelnden verbindet sich die Schuld der Geistigen, die noch schwerer wiegt, weil sie statt an der Wirklichkeit an deren Gesetzen geschieht; es wird keine Schuld der Tat begangen ohne die Vorarbeit, den Beifall und die Reue des Geistes. Und wenn auch der Geistige meist nicht so schnell vor Gericht gezogen wird wie der Täter, den das in Gang gebrachte Räderwerk sofort wieder erfasst, so muss er doch vor der Geschichte die grössere Verantwortung tragen.“28

Am 8. Juni 1940 machte sich Leopold Ziegler in einem Brief an Reinhold Schneider jenseits von Siegerjubel Gedanken, wie das damalige Geschehen eines ungeheuerlichen Kriegserfolgs Deutschlands zu begreifen sei, etwa aus der Erkenntnis, „wie sehr der Schöpfer-Gott auch Zerstörer-Gott ist und sein muss“ und dass der „Einbruch neuer Geschichtszeiten oder Weltalter lediglich um den Preis entsprechender Vernichtungen möglich sei“, was einen heute „bis zur Fassungslosigkeit, in manchen Fällen vielleicht bis zum Wahnsinn“ verwirren könne. Und obwohl man nicht irre werden solle oder dürfe, schien es Ziegler klar:

„Ordo magnus, ordo major nascitur“, es entstehe eine grosse, eine grössere Ordnung, „auch wenn dieser Ordo zunächst schreckhafte und unmenschliche Züge aufweist. Dieser Generation ist es wohl befohlen, einen Rahmen zu schaffen, in dem erst künftige Generationen von unvorstellbar anderer Beschaffenheit das Bild hineinmalen werden. (…) Nun aber muss erst ein blutig Werk getan sein, denn vermutlich werden die Völker, die in den letzten Jahrhunderten seit der Reformation besonders geschichtlich ‚aktiv‘ waren, mehr in die Latenz gedrängt und umgekehrt. Der Kampf zwischen England und Deutschland erscheint mir trotz allem und unter diesem Gesichtswinkel ‚providientiell‘“.29

Was Ziegler hier formuliert, ist ein Lehrbuchstück zu dem, was Karl Popper einige Jahre später „Historizismus“ nennen sollte, also die spezifisch deutsche, übrigens auch marxistische Ideologie von der Vernunft in der Geschichte als Selbstdarstellung sogenannter historischer Notwendigkeit.30 Dieses Denken war in der Folge des deutschen Idealismus generationenlang nicht nur bei der Hegelschen Rechten und Linken, auch etwa bei Oswald Spengler, sogar noch im französischen Positivismus von Auguste Comte virulent. Es hat sich bis ans Ende des Kalten Krieges gehalten, als nämlich der amerikanische Ober-Ideologe, aus heutiger Sicht nicht mehr Philosoph zu nennen, Francis Fukuyama nach dem Untergang des Realsozialismus in Osteuropa „das Ende der Geschichte“31 verkündigte.

Reinhold Schneider war im Gegensatz zu Karl Popper nicht in der Lage, das Wahnwitzige des Historizismus analytisch ad absurdum zu führen, neigte seinerseits manchmal zu ideologischer Geschichtsbetrachtung. Hingegen hat er aus der Sicht einer durch ein christliches Gewissen geeichten praktischen Vernunft wie nie vorher und nachher seinem Freund Ziegler widersprochen:

„Aber für mich, der ich die grosse Übersicht aus der Ferne – eben diese bewundere ich so sehr an Ihrem Brief – nicht gewinne; für mich, der ich mich sehr tief verstrickt fühle in das geschichtliche Sein, ist die Frage nach der Haltung die dringendste Frage geblieben. Und nun frage ich mich, ob man unter einem anderen Zeichen siegen darf als man herrschen soll; ob man den Sieg erkaufen darf von einer Gewalt, die darauf folgende Ordnung aber von Gott, und ich kann nur mit nein auf diese Frage antworten. Gott schlägt und straft durch die Gewalt; dass er der Zerstörung sich bediene, um Neues zu schaffen, ist mir gegen Glauben und Gefühl. So sehe ich nur ein Gericht; und wer heute nicht gerichtet wird, der bereitet sich sein Gericht vielleicht für morgen. (…) Aber hinter dem Gericht steht eine Versuchung ungeheuerster Art: dies alles will ich dir geben für deine Seele.“32

Zu dem hier dargelegten Konflikt aus dem Jahre 1940 hat Leopold Ziegler in seiner Friedensschrift zum Jahre 1952 die Lektion im Sinne von Reinhold Schneider gelernt. Und zwar nicht in Richtung eines politischen Widerstandes, was zur Zeit des Nationalsozialismus auch Reinhold Schneiders Linie nicht wahr: Sondern ein Widerstehen aus dem tiefsten Grunde des Gewissens, was vor allem ein Widerstehen gegen die eigenen, oben geschilderten Versuchungen ist. Ist dieser Widerstand gleichsam gegen sich selbst einmal geleistet, kann im Sinne von Nietzsche und Reinhold Schneider sogar von einem Nichtwiderstehen im Sinne der Passion Christi die Rede sein. Dieses „Nichtwiderstehen“ meinte im Jahre 1951 Reinhold Schneiders Nein zur Wiederbewaffnung Deutschlands. Hier scheint Leopold Ziegler seinerseits einen Einwand für berechtigt zu halten:

„Mit einer unserer allzumenschlichen Vielfältigkeit fürchterlichen Einfalt steht das Wort geschrieben: Widerstrebet nicht dem Übel. Wer dies nun aber in der gegenwärtigen Stunde mit dem Blick auf die besondere Lage Deutschlands dahin auslegt, dass er dem Übel in der Gestalt eines feindlichen Einfalls zwar einen Widerstand nicht leisten dürfe, jedoch in Gestalt einer Wiederbewaffnung des Vaterland leisten müsse – handelt ein solcher tatsächlich im Sinne eines ‚weltumwerfenden‘ Wortes?“ Ziegler verneint dies: „“Denn jetzt widersteht er ja dem eigentlichen Kernübel, lies der Bewaffnung, wiewohl gewaltlos. Und lediglich dem Folgeübel widersteht er nicht, als dem Gebrauche zwar, den die andern von der Waffe machen. In ein und dem selben Atem widersteht er nicht und widersteht er doch. Ein Selbstwiderspruch.“33

Das „Nichtwiderstehen“ im Sinne der Bergpredigt, führt Ziegler dann aus, sei ein „Gnadengeschenk“34. Eine endzeitliche Haltung als Bereitschaft zum Martyrium, ein Heils- und Gnadenstand „nicht von dieser Welt“, was in keiner Weise mit Kants Vorstellung vom Rechtszustand des ewigen Friedens zu verwechseln sei. Der Friede als Rechtszustand auf dieser Welt und die apokalyptische Friedlosigkeit bis zur Ankunft des Weltenrichters bleiben unvereinbar. Der neue, der endgültige Friede gilt demjenigen, „der in der Nachfolge des evangelischen Schöpfergottes sich selber, in welchem Sinne auch immer, für seine Brüder in Christo zu opfern gewillt ist.“ Dabei fügt Ziegler, in deutlicher Distanz zu einer herkömmlichen verharmlosenden Theologie hinzu: „Mit nichten ist Christus unser Bruder. Als Glieder des mystischen Leibes, dessen Haupt er ist, sind vielmehr wir Brüder in ihm und durch ihn.“35 

Mit der Unterscheidung zwischen dem Frieden Kants und dem Frieden Christi, welcher nur über das Weltgericht zu haben ist, grenzt sich Ziegler von einem fundamentalistischen christlichen Pazifismus ab, zu welchem Schneider in den frühen fünfziger Jahren neigte, um sich davon in spätesten Jahren wieder zu distanzieren:

„Das Wort Friede hatte für mich etwas Betäubendes, dem ich mich überliess. (…) Friede als solcher ist nicht der höchste Wert; sittlich-personale, geistige, religiöse Werte sind ihm übergeordnet. Friede aber als geschichtliche Darstellung glaubensstarker Liebe zu Gott, der Menschheit und aller Kreatur könnte wohl der höchste Wert sein.“36

Für Ziegler wiederum sind die Werke des evangelischen Friedens nicht mit der Drohgebärde eines Weltenrichters zu verwechseln: „Bergen und Retten, Wahren und Bewahren, das Sammeln und Versammeln, dies Füllen der Menschheitsernte in die Scheuern der Himmel, sollen wir es die Taten des evangelischen Herrn nennen? Oder vielleicht nicht besser noch die Werke des evangelischen Friedens?“37

So findet Zieglers Friedensschrift, seine wohl bedeutendste Auseinandersetzung mit dem ausdrücklich genannten christlichen Pazifisten Schneider, am Ende unbeschadet von apokalyptischen Perspektiven einen Abschluss jenseits von Kriegs- und Weltuntergangsangst.

Von den Werken Leopold Zieglers fühlte ich mich von zweien in ganz besonderer Weise angesprochen, nämlich von dem im August 1944 abgeschlossenen Magnum Opus „Menschwerdung“ einerseits und dem 1961 aus dem Nachlass veröffentlichten „Dreiflügelbild“, in welchem dreiteiligen Essay meinen Landsleuten Gottfried Keller und Heinrich Pestalozzi einerseits, und andererseits Adalbert Stifter, dem Lieblingsautor meines genialischen Weggefährten und vom Bodenseeliteraturpreis bis anhin ausgeschlossenen Arnold Stadler38, je ein Denkmal errichtet wird.

„Menschwerdung“ ist ein Buch, welches die Mühe bei der Lektüre Zieglers in überdurchschnittlichem Ausmass lohnt. Reinhold Schneider fühlte sich bei der Aufgabe, es zu rezensieren, nachgerade überfordert, bat Ziegler um eine Zusammenfassung etwa des Gedankenganges zur Vierten Vaterunser-Bitte, weil er hier den Durchblick nicht gefunden habe. Es bleibt aber dabei, dass „Menschwerdung“ als Monumentalwerk der Religionsphilosophie wie auch der Theologie einen nicht durchwegs gescheiterten Versuch einer mystisch-intellektuellen Durchdringung des wohl wichtigsten Textes der Christenheit darstellt: des Vaterunsers, worüber zur Zeit des Zweiten Weltkrieges Reinhold Schneider eine vielgelesene selbständige Veröffentlichtung gemacht hat, eher „religiöser Sanitätsdienst“39 für das Volk als eines der Werke, mit denen er sogenannt höheren Ansprüchen hätte genügen wollen.

Bei Ziegler liegt indessen, sofern man die nötige Geduld zur Lektüre aufbringt, ein auch von der Textarchitektur her eindrucksvolles literarisches Bauwerk vor, eine Reise durch die vorchristliche, christliche und nachchristliche Geistesgeschichte mit bemerkenswerten Hommages zum Beispiel an Erasmus, Luther, Jakob Böhme, Franz von Baader und Kierkegaard. Bezeichnenderweise wird das zum Teil alchemische Abendmahlsverständnis von Paracelsus und Böhme für dieses Buch wegweisend, zu schweigen davon, dass Böhme und Baader ein durch niemanden und durch nichts zu ersetzendes Bergwerk spiritueller Alchemie und Mystik darstellen. Bei Baader kommt noch – eine Generation vor Marx und Engels – eine soziale Analyse des „Proletair“-Problems hinzu, welches aus meiner Sich zu den bedeutendsten Leistungen in der Geschichte der Menschheit gehört. Baaders Lösungsverschlag, nämlich statt Klassenkampf die Integration des „Proletairs“, hat sich nämlich zumindest in der westlichen Welt durchgesetzt.40 Für mich war in den Jahren um und nach 1968, ähnlich wie für Gerd-Klaus Kaltenbrunner und andere Konservative der damaligen Zeit, Baader eine gültige Alternative gegen Marx, erst noch frei von Totalitarismus und besserwisserischer Liebe zur Diktatur.

Ziegler hat als einer der ersten mit tiefsinnigen Begründungen erkannt, dass Baader im Grunde die fast einzige Alternative der christlichen Romantik zu Marx und Engels darstellt, und zwar, wie jeder Baader-Leser weiss, auf einem unvergleichlichen Niveau mit Perspektiven, bei denen Hegel einerseits und die marxistischen Schulen, von Ernst Bloch vielleicht abgesehen, einen vielfach abgeflachten Eindruck machen. Des Rätsels Lösung liegt weniger bei Paracelsus als bei Meister Eckhart, dem unter dem Gesichtspunkt der Mystik weltweit bedeutendsten christlichen Theologen. Für mich als westlichen Menschen mit antik-scholastischer Bildung gilt bis auf weiteres die These, selbst auch der Buddhismus könne uns unmöglich geben, was wir Meister Eckhart, Paracelsus, Böhme, Novalis, Schelling und Baader verdanken. Über diese wegweisenden Autoren, die Ziegel noch und noch zu vermitteln vermochte, wurde er für mich eine Orientierungsgrösse für eine geistige Alternative. Zu den Weggefährten, die mich unter anderen auch mehrfach auf Ziegler hingewiesen haben, gehört der schon genannte Konservativismus-Theoretiker und spätere Polit-Aussteiger der intellektuellen Rechten, Mystiker und Asket Gerd-Klaus Kaltenbrunner (1939 – 2011).41

Für die Perspektiven der genannten Alternative gibt das dem Vaterunser gewidmete Hauptwerk Zieglers viel her. Es wäre in diesem Sinn nicht angemessen gewesen, für meine Monographie über Paracelsus den Bodenseeliteraturpreis entgegenzunehmen ohne eine Hommage an Ziegler, den Meister von Überlingen. „Menschwerdung“ ist auch deswegen ein grosses Werk, weil es, aus paracelsisch-alchemistischer Tradition, auch schon auf die „Weiblichkeit“ Gottes verweist. Ziegler stellt sich schon der Frage nach dem „Mutter-Unser“, ohne deswegen auf feministische ideologische Modelle angewiesen zu sein.42 Noch bedeutsamer ist meines Erachtens seine Auslegung der Vierten Vaterunserbitte, „Unser tägliches Brot für den morgenden Tag gib uns heute“, welche einer spirituell durchdrungenen Weltlichkeit in der Perspektive nach vorn Gestalt gibt.43 Bedauerlich bleibt, warum Ziegler in diesem Zusammenhang nicht nachhaltiger einen Zugang zum gleichaltrigen Jesuiten Teilhard de Chardin, dem Philosophen des kosmischen Christus, suchen wollte.

Als Rezipient von Gottfried Keller, von dem er die „Unbescholtenheit des Auges“44 zu rühmen weiss, Stifter, dem er mit der Übernahme der Figuren Risach und Drendorf als Träger von Dialogen im „Lehrgespräch vom allgemeinen Menschen“ eher zu nahe tritt und schliesslich als Vermittler von Heinrich Pestalozzi, dessen Porträt wohl am meisten überzeugt, wurde Leopold Ziegler in später Jahren noch ein verdienter Deuter schöner Literatur. Wer aus der „Spätlese eigener Hand“  Zieglers Bekenntnistext „Zum Geschick meiner Schriften“45 gelesen hat, spürt, dass er sich mit dem Titel „Der Müdling“, gemeint Heinrich Pestalozzi, ein untergründiges Selbstporträt gesetzt haben dürfte. Es ist, als ob das, was er über den Schweizer Pädagogen und Autor aus dessen „Nachforschungen über den Gang der Natur und des Menschengeschlechtes“ ausführt, auch ein spätes Bekenntnis über sich selber geworden ist:

„Dass übrigens Pestalozzi sich der Einmaligkeit seines Wollens ebenso deutlich bewusst gewesen wie seines stets wiederkehrenden Versagens, steht ausser Zweifel. Zum Beleg sei hier nur die in der Mitte seines Lebens entstandene Schrift angeführt: ‚Meine Nachforschungen…‘ Sie beginnt im Stil einer Legende, die ich, in Anlehnung an Pestalozzis eigene Worte, nicht unpassend ‚Legende vom Edlen und vom Müdling‘ nennen möchte. Offenkundig ist mit dem Edlen hier der Grossherzog von Toskana, der spätere Römische Kaiser Leopold der Zweite gemeint, dem sich zeitweilig Pestalozzis weitgespannte Hoffnungen ebenso zugewendet hatten wie vorher seinem älteren Bruder Joseph dem Zweiten und dessen Minister Zinzendorf. Bei dem ‚Müdling‘ der Legende denkt hingegen Pestalozzi fraglos an sich selber als an einen Mann, der, nach dem Herausgeber seiner Schriften, ‚in irgendeiner Anstrengung seines Lebens ohne Erfolg ermüdet worden‘. Hier folgt die Legende: Zwei Männer in einem Lande suchten Wahrheit fürs Volk…“46

Als diese beiden Männer könnte man Leopold Ziegler und Reinhold Schneider nennen, die beide je eine Phase bedeutender Beachtung erleben durften, dann aber dem Schicksal einer gewissen Vergessenheit anheimfielen. Dazu Leopold Ziegler nicht im „Dreiflügelbild“, aber in der Einleitung zur „Spätlese eigener Hand“ über sich selber, wo er sich in einer gewissen geistigen Verwandtschaft mit dem „Müdling“ Pestalozzi  über seinen „begreiflichen Antrieb des Nichtvergessenwerdenwollens“ äussert:

„Von dem meinem Seinskern unmittelbar entwachsenen Schrifttum, das die vier Hauptwerke umfasst, darf man zur Not noch behaupten, es sei, wo nicht aufgenommen, so doch auch nicht gerade übergangen und abgelehnt worden. Sehr zögernd, häufig sogar widerwillig, immer wieder von aussen oder innen her gehemmt, haben ihm die Wenigen und Seltenen, welche dem Anruf des Geistes überhaupt noch erreichbar geblieben, allmählich doch Gehör geschenkt. Im bemerkenswerten Unterschied aber zu diesem gleichfalls nur verhältnismässig begünstigten Schrifttum, mussten ganze Teile des Gesamtwerkes in der Verborgenheit ein schattenhaftes Dasein fristen. (…) Jeweils als Aufsatz, Gespräch, Abhandlung, Buch von Gelegenheit zu Gelegenheit entstanden, wird man sie als Kinder des blossen Zufalls doch nur dort geringschätzen dürfen, wo man hinter dem wiederholten Zufall das gleichsam wirksame Gesetz nicht gewahrt und erkennt.“47

Für mich war es mehr ein Zufall, je Nachfolger von Leopold Ziegler und seinem Herausgeber Manfred Bosch als Bodenseeliteraturpreisträger zu werden, denn dass ich es doch noch zum Leser von Leopold Ziegler geschafft habe. Eine Wahlsohnschaft, wie bei meinem Kollegen Paul König, wäre für mich gewiss nicht in Frage gekommen. In wesentlichen Orientierungen aber fühle ich mich dem vielseitigen Denker verpflichtet, wiewohl heute, bald 150 Jahre nach der Geburt von Stefan George, mir Begriffe wie „Nachfolge“ oder gar „Jünger“ unangemessen vorkommen. Zieglers Werk bleibt für mich eine Quelle. Was aus ihr noch zu fliessen vermag, ich geniesse es wie einen gutedlen Tropfen aus einem Weinberg um Birnau oder Meersburg.


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1 Blaise Pascal, Auswahl und Einleitung von Reinhold Schneider, Frankfurt 1954, S. 10f.

2 Vgl. den Wikipedia-Artikel Teilhard de Chardin, abgerufen am 14. 3. 2014.

3 Benz, Ernst: Schöpfungsglaube und Endzeiterwartung; Antwort auf Teilhard de Chardins Theologie der Evolution, S. 198 – 205; in: Benz, Ernst; Latour, Sophie, Mislin Hans; Stein, Erwin: Denker des erinnernden Urwissens, Sokratische Weisheit 2, Freiburg i. B. 1981, S. 97 – 126.

4 Ziegler, Leopold: Briefe 1901 – 1958, S. 121.

5 Ziegler, Leopold: Gestaltwandel der Götter, 3. Auflage, Bd. 2, Darmstadt 1922, S. 473f.

6 Rahner, Karl: Schriften zur Theologie 14, Zürich 1980, S. 161.

7 Ziegler, Leopold: Dreiflügelbild – Gottfried Keller, Heinrich Pestalozzi, Adalbert Stifter, S. 67 – 138.

8 Ziegler, Leopold: Spätlese eigener Hand, München 1953, S. 431.

9 Stäuble, Eduard : Leopold Ziegler - Der Denker und sein Werk in ihrer Beziehung  zum Bodensee, in: Burger, Oswald (Hrsg.): Die Preisträger des Bodenseeliteraturpreises der Stadt Überlingen und ihre Laudatoren, Eggingen 2010, S. 61

10 Stäuble, a.a.O., S. 51f.

11 Stäuble, a.a.O., S. 62.

12 Stäuble, Bodenseeliteraturpreis der Stadt Überlingen 1993 an Pirmin Meier für sein Buch „Paracelsus, Arzt und Prophet“, a.a.O., S. 417 – 431.

13 König, Paul: Porträt einer Generation. Mein Weg zum Zeitgenossen, Erinnerungen, Gedanken, Begegnungen, Brugg – Wettingen 1993.

14 Ziegler, Spätlese, S. 9.

15 Ziegler,  a.a.O., S. 439.

16  Ziegler, Leopold: Der europäische Geist/Die neue Wissenschaft, hrsg. v. Latour, Sopie, Zug 1995, S. 226.

17 Ziegler, Spätlese, S. 446

18 A.a.O., S. 444.

19 Vgl. Blattmann, Ekkehard, Doering-Manteuffel, Anselm: Der Fall Reinhold Schneider, München 1990; Blattmann, Ekkehard: Reinhold Schneider im Roten Netz,  2 Bände, Frankfurt 2001.

20 Ziegler, Spätlese, S. 440.

21 A.a.O.,  S. 442

22 A.a.O., S. 441.

23 A.a.O., S. 441.

24 A.a.O., S. 442.

25 A.a.O., S. 443.

26 A.a.O. , S. 463

27 Das von Ziegler S. 463 zitierte Diktum von Carl Spitteler konnte nicht eruiert werden.

28 Zitat aus „Das Inselreich – Gesetz und Grösse britischer Macht“ (1936), aus:  Schneider, Reinhold, hrsg. v. Meier, Pirmin: Lektüre für Minuten, Frankfurt 1980, S. 107.

29 Reinhold Schneider – Leopold Ziegler: Briefwechsel, München 1960, S. 78 – 83.

30 Vgl. Popper, Karl: Das Elend des Historizismus, 6. Auflage, Tübingen 1987 mit Würdigung für die Opfer des Irrglaubens an die Notwendigkeit der Geschichte; Lübbe, Hermann: Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, Analytik und Pragmatik der Historie, 2. Auflage, Basel 2012.

31 Fukuyama, Francis: Das Ende der Geschichte, München 1992.

32 Schneider – Ziegler, Briefwechsel, S. 81.

33 Ziegler, Spätlese, S. 450.

34 A.a.O., S. 453.

35 A.a.O., S. 464.

36 Schneider, Lektüre für Minuten, S. 127.

37 Ziegler, Spätlese, S. 464.

38 Vgl. Stadler, Arnold: Mein Stifter, Köln 2005.

39 Schneider, Reinhold: Winter in Wien, Gesammelte Werke, hrsg. v. Edwin M. Landau, Bd. 10, S. 265.

40  Baader, Franz Xaver: Sämtliche Werke, Bd. 6, Aalen 1963, S. 125ff.

41 Kaltenbrunner über Ziegler u.a. in Schrenck-Notzing, Caspar v.: Lexikon des Konservativismus, Graz 1996. Vgl. meinen Nachruf auf Gerd-Klaus Kaltenbrunner in www.portal-der-erinnerung.de .

42 Ziegler, Leopold: Menschwerdung, 1. Band, Olten 1948, S. 92.

43 Ziegler, Leopold: Menschwerdung,  2. Band, Olten 1948, S. 10.

44 Ziegler, Dreiflügelbild – Gottfried Keller, Heinrich Pestalozzi, Adalbert Stifter, München 1961, S.9.

45 Ziegler, Spätlese, S. 11.

46 Ziegler, Leopold: Dreiflügelbild – Gottfried Keller, Heinrich Pestalozzi, Adalbert Stifter, München 1961, S. 69.

47 Ziegler, Spätlese, S. 13.

 
 
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