Textatelier
BLOG vom: 28.05.2016

Eine Familiengeschichte

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland

 

Henricus kam von der Feldarbeit. Er hatte den ganzen Tag das Feld gepflügt. Der Pflug  musste genau gesetzt werden. Der Ochse wollte immer nach rechts abweichen, was er zu verhindern wusste. Zur Mittagszeit war seine Frau zum Feld gekommen. Sie hatte die Kinder mitgebracht, Maria war schon 4 und konnte allein laufen, aber der kleine Johannes und die Ludgeri sassen in einem hölzernen Bollerwagen, den sie hinter sich her zog. Darin hatte sie einen Krug mit Milch und ein Stück Brot mit Käse gelegt. Henricus band den Ochsen an einen Baum am Rande des Feldes und ging auf sie zu. Hungrig wie er war, schlang er gierig das Mahl hinunter.
 
„Wir hatten heute Morgen Besuch. Du sollst heute Nachmittag zur Verwaltung kommen“, berichtete sie.

Zur Obrigkeit zu gehen, verhiess nie etwas Gutes. Der Abt von Echternach konnte über ihn bestimmen. Er hatte die Ehe mit seiner Frau gutheissen müssen, hatte ihm Land zugeteilt, für das er den Zehnten zahlen musste. Nie reichte es, ganz besonders nicht, wenn die Ernte schlecht war, mussten sie hungern. Elisabeth, seine Frau, war schon wieder schwanger.

„Dann muss ich das wohl tun“, antwortete er wortkarg, „aber erst mache ich das Feld noch fertig.“

Der Krieg, der später der 30-jährige genannt wurde, war vorbei. Die Pest hatte in den vergangenen Jahren gewütet. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung war daran gestorben, auch seine Eltern und die seiner Frau. Das Leben war hart, jeden Tag konnte es einen von ihnen treffen. Sie waren sehr vorsichtig gewesen und hatten, soweit es irgendwie ging, den Kontakt mit den Mitmenschen gemieden. Sie hätten ja schon, ohne dass sie es wussten, die Krankheit im Leibe haben können.

Sie waren oft in die Kirche gegangen und hatten gebetet. Auch der Priester hatte die Krankheit bekommen und war daran gestorben. Die Totenglocke hatte ununterbrochen geläutet.

Als Henricus von der Verwaltung zurückkam, war er ganz aufgeregt.

„Wir können ganz neu anfangen! Wir bekommen einen Hof und Land! Im Salmtal gibt es einen Ort, der heisst Dreis. Dort sind durch die Pest bis auf 15 Menschen alle gestorben. Jetzt stehen die Höfe leer. Der Abt will, dass die Felder wieder bebaut werden. Dafür können wir freie Bauern werden. Wir müssen nur Pacht bezahlen.“

„Alles hier verlassen? Alle Nachbarn und Freunde? Wie soll das ohne sie gehen?“, fragte Elisabeth.

„Wir werden nicht allein dort hin gehen. Der Abt hat noch andere gefragt, die hier bald keine Arbeit mehr finden würden“, antwortete er.

„Was ist das für ein Land. Meint Ihr, das Korn wird gut wachsen, dort?“

„Das Land liegt in einer Senke, es ist fruchtbar und wird auch gut bewässert.“

Und so geschah es. Gleich nach dem Erntedankfest wurden 2 Ochsen an 2 Wagen gespannt, alles Hab und Gut aufgeladen. Die Kinder sassen mit der Mutter hinten auf dem Wagen. Eine lange Reihe von Wagen fuhr gemeinsam, gesichert von Söldnern des Abtes von Echternach, die 30 km nach Dreis.

Als sie den beschwerlichen Weg fast hinter sich hatten, erblickten sie das Dorf. Es sah ärmlich und ausgestorben aus, nur auf dem Friedhof konnte man viele frische Gräber und Kreuze erblicken.

Die Neuankömmlinge wurden mit Argwohn begrüsst. Es kam zu Streitigkeiten, auch zwischen dem Abt und den Bewohnern, vor allem um die Rechte im Dorf. Die Dreiser Ureinwohner behaupteten, der Abt hätte kein Recht, das Land den Echternachern zuzuweisen, Karl der Grosse hätte dem Kloster nur einige Höfe geschenkt, aber nicht das ganze Dorf. In einem Prozess beim höchsten Reichsgericht bekam der Abt später Recht.

Die folgenden Monate musste viel gearbeitet werden. Es galt, alles winterfest zu machen, Holz zu hacken, das mitgebrachte Getreide und Saatgut trocken unterzubringen. An der Salm, die an dem Stück Land vorbeifloss, baute Henricus eine kleine Mühle mit Mahlsteinen. So konnte er sein Korn selbst mahlen.

Der Winter war hart. Elisabeth hatte eine Fehlgeburt. Lange Zeit haderte sie mit Gott, verfluchte den Tag, an dem sie aus ihrer Heimat weggezogen waren. Doch dann besann sie sich, kümmerte sich wieder um den Haushalt und um die Tiere auf dem Hof.

Erst nach und nach konnten die Streitigkeiten beigelegt werden. Der Abt setzte sich kraft seines Amtes gegen die Dörflinge durch.

Bäuerliche Prozesssucht und kleinliche Dortfintrigen mögen einen gewissen Raum einnehmen, wichtig sind vor allem die Zähigkeit und das Selbstbewusstsein, mit denen hier ein bäuerliches Gemeinwesen um sein Eigenleben kämpfte.“, so steht es in der Chronik.

Das Leben im Dorf blühte langsam auf. Im folgenden Jahr konnten sie einen Knecht verpflichten. Die Kinder wuchsen heran und halfen auf dem Hof, so gut sie konnten.

Das Leben nahm seinen Lauf. Man musste eine Bürgerwehr bilden, um die feindlichen Übergriffe der Räuberbanden, die plündernd durch das Land zogen, abzuwehren.

Eines Tages brannte ein Teil des Hofes ab. Der Schaden war gross. Aber Henricus entschied, ein neues Haus aus Ziegelsteinen zu bauen. So geschah es.

Die Familie Bernardy lebte viele Jahre, ja selbst 2 Jahrhunderte lang, in dem Dorf.

1798 kam Dreis unter das drückende Joch der Französischen Republik, das Dorf verlor den Status einen freien Reichsdorfes. Nichts war mehr wie früher, sogar die Kirche wurde als Pferdestall benutzt. Als unter den französischen Kriegern eine Krankheit ausbrach, wurde aus dem Pferdestall ein Lazarett. Die vielen Toten wurden oberhalb der Kirche begraben.

1815 wurde Dreis preussisch. Es trat wieder Ruhe und Frieden in das Dorf ein.

Es wurden viele Kinder geboren, oft überlebten sie aber das erste Lebensjahr nicht, weil es kein Krankenhaus im Dorf gab und der Arzt von weit her kommen musste.

Am 1. Oktober 1877 entschloss sich Josef Bernardy, der jüngste Sohn der Familie, nach Nord-Amerika auszuwandern. Im Dorf hatte er nur wenige Chancen, Arbeit zu bekommen, um eine eigene Familie zu gründen.

Einige andere Dörfler hatten es ihm vorgemacht, waren in den vorangegangenen Jahren los in Richtung Hamburg gezogen, und in ihren Briefen schrieben sie davon, wie es sich in der Fremde leben liess.

Aber im Ruhrgebiet, etwa 220 km entfernt von seinem Heimatdorf, in dem es Kohle gab und viele rauchende Schornsteine und Eisenhütten und Arbeit, blieb er eine Weile, um Geld zu verdienen.

Zuerst bekam er eine Anstellung als Gaslaternenwärter. In den Sommermonaten, in denen seine Dienste nicht so gefragt waren, ging er immer wieder nach Dreis zurück und half dort bei der Ernte. Auf einem Weinfest verliebte er sich in ein Mädchen aus einem Nachbardorf an der Mosel.

Die beiden beschlossen, für ganz ins Ruhrgebiet zu ziehen. Dort waren die Möglichkeiten, Arbeit zu bekommen und etwas zu lernen, viel grösser als im Dorf. So wurde aus dem Ackerer  und dem Laternenwärter ein Maler und Anstreicher mit eigenem Betrieb.

Die Kinder lernten den Beruf und erbten den Betrieb, bis es zum II. Weltkrieg kam, in dessen Verlauf alles den Bomben zum Opfer fiel. Auch der Vater und ein Sohn liessen ihr Leben in diesen Jahren.

Heute wohnt im Dorf Dreis in der Eifel niemand mehr aus der Familie Bernardy. Nur ein Name auf einem Kriegerdenkmal und auf einem Grabstein erinnern noch daran. Aus der Familie vom Land waren Städter geworden.

Zwei meiner Geschwister wohnen immer noch in dieser Stadt im Ruhrgebiet.

Quelle:
Stoffel, Paul, Chronik des ehemals freien Reichsdorfes Dreis, hrsg. von der Ortsgemeinde Dreis, 1985

 


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