Textatelier
BLOG vom: 08.06.2016

Das Flüchtlingsdilemma und das volle Boot

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland

 

Die Bundesregierung Deutschland unter der Kanzlerin Angela Merkel muss sich einem Flüchtlingsdilemma stellen. Sie hat ca. 1 Million Flüchtlingen die Möglichkeit geboten, ins Land zu kommen. Solidarischer mit den Flüchtlingen hat sich innerhalb der EU kein anderes europäisches Land verhalten. Zu gross ist der Aufwand und das Risiko, dadurch Wählerstimmen zu verlieren.

In Deutschland hat sich das bereits durch den enormen Stimmenanteil bei den Wahlen einiger Bundesländer durch die AfD, die den Ausländerzuzug rund herum ablehnt, herausgestellt.

Also wird alles getan, um Flüchtlinge abzuwehren, um eine erfolgreiche Flucht zu verhindern. Dazu zählen in Europa Stacheldrahtzäune, Abriegelungen, Flüchtlingscamps und das Abkommen mit der Türkei, die Flüchtlinge in Camps aufzunehmen und bürokratische Massnahmen.

Die Hoffnung auf ein Leben ohne Furcht, und die Sehnsucht nach einem ruhigen Leben ohne Todesangst in Nordeuropa veranlassen immer noch Menschen, sich Schleppern anzuvertrauen, sich in übervolle, wacklige Boote zu begeben, die sie über die gefährliche Route über das Mittelmeer bringen.

Dabei ertrinken immer mehr Menschen, deren Boote kentern. Die einzige Massnahme bleibt, mit Hilfe des Militärs u.a. solche Boote auf dem Mittelmeer aufzuspüren und die Menschen zu retten, aber nur, um sie wieder in die Ungewissheit zurück zu schicken.

Europa riegelt sich ab. Die Verantwortung für Tausende Tote wird auf die Schlepper und die Flüchtlinge selbst geschoben. Sie haben sich für das Risiko entschieden. Eine Lösung der Gründe für die Flucht ist noch lange nicht in Sicht.

Oder liegt die Verantwortung bei den Politikern? Ein vermeintlicher Sieg auf Kosten von Menschen? Die Regierungsparteien wissen, liessen sie weiter Flüchtlinge in grosser Zahl ins Land, besteht die Gefahr, dass die Wähler sich populistischen Parteien zuwenden. Bei einem Wahlsieg dieser Gruppierungen würden die Grenzen sofort geschlossen und Ausländer, die schon in Deutschland sind, zurückgeschickt.

Angesicht der unsicheren Lage in vielen afrikanischen und osteuropäischen Ländern mit kriegerischen Auseinandersetzungen, islamistischem Terror, menschenverachtenden Rebellen und räuberischen Banden in der Vergangenheit und heute, wundere ich mich, dass sich das Flüchtlingsproblem erst jetzt so zugespitzt hat. Ich hatte es schon vor einigen Jahren erwartet. Zu gross sind die Unterschiede hinsichtlich eines geordneten, friedlichen Europas mit relativem Reichtum, und der Armut und oft auch dem Chaos in den weniger industrialisierten Ländern mit Zwangsreligion und Diktaturen, die sich für die (westlichen) Menschenrechte nicht interessieren. Hinzu kommen Probleme der Überbevölkerung, Hunger, Wassermangel, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit.

Da drängt es die, die eine winzige Möglichkeit sehen, zu flüchten, zu fliehen, auszuwandern in die Länder, in denen – verglichen mit der Heimat – relativer Wohlstand und Frieden herrscht.
Es mag viele Gründe für diese enormen Unterschiede geben. Dazu zählt auch die geschichtliche Entwicklung mit der Kolonisation in den letzten Jahrhunderten, und der Ausbeutung. Noch vor wenig mehr als 150 Jahren gab es über Jahrhunderte hinweg die Einnahmequelle der Sklaverei, an denen nicht nur einheimische, afrikanische Händler beteiligt waren, sondern auch westliche und amerikanische. An ihnen und an ihrer Arbeitskraft hat sich der Westen ebenso bereichert wie an der Ausbeutung der Kolonien. So beruht gewiss ein Teil des Reichtums der entwickelten Länder auch darauf.

Der Westen erreichte aber auch Errungenschaften, mit denen er der Entwicklung der restlichen Welt voraus war. Ich meine nicht nur die Industrialisierung, sondern auch die Demokratie, die soziale Marktwirtschaft und ein geordnetes Staatswesen mit einem funktionierenden Rechtssystem. Entwicklungsfeindliche Staatsformen und Exzesse, wie es der Faschismus war, konnten, nicht zuletzt durch die Einmischung der anderen demokratischen, entwickelten Staaten, eingedämmt werden.

Man kann nicht alle negativen Erscheinungen in der Welt dem kapitalistisches System anlasten. Der Kapitalismus hat es möglich gemacht, verglichen mit dem Elend der Menschen vorher, im Laufe seiner Entwicklung, dass immer mehr Menschen in relativem Wohlstand und hungerfreiem Auskommen leben können.

Ein weiterer Grund für den Unterschied ist ein funktionierendes Schulwesen, denn Bildung führt zu Entwicklung; nicht zuletzt ein erträgliches Wetter auf der Nordhälfte der Erdkugel hat auch dazu beigetragen, dass sich die Staaten entwickeln konnten.

So stehen die entwickelten Staaten vor einem Dilemma. Lassen sie zu viele Flüchtlinge ins Land, kann das zu Überbevölkerung, zu Verteilungskämpfen, zu bürgerkriegsartigen Zuständen führen, die letztendlich den Lebensstandard aller reduziert.

Wie viele Einwanderer sind tragbar? Welche Menschen sind willkommen und erwünscht, welche nicht und warum nicht? Wie entwickelt sich die gewachsene westliche Kultur in Konfrontation mit fremdländischen Kulturen?

So werden Lösungen gesucht, die mögliche zukünftige negative Szenarien gar nicht erst entstehen lassen. Alle, die kommen wollen, können die europäischen Länder nicht aufnehmen. Und wenn die Menschen es dennoch versuchen? Davor muss man sich schützen, wird uns von den Politikern inzwischen gesagt. Es muss Höchstgrenzen geben.

Hier ist das Dilemma. Einerseits gebieten Asylgesetze und Menschenrechte, die Flüchtlinge aufzunehmen, sozial und menschlich zu handeln. Andererseits sollten sie abgewiesen werden, ist man der Auffassung, „das Boot ist voll“.

Die Metapher mit dem „vollen Boot“ hat 2 Seiten, nicht nur die eine, die auf dem letzten Kirchtag in Deutschland Anklang. Einerseits sind es die Menschen in den überfüllten Booten, die die Reise über das Mittelmeer antreten, andererseits ist es – in den Augen vieler – ein übervolles Nordeuropa, dass mit der weiteren Aufnahme von Flüchtlingen nur negative Entwicklungen befürchtet und voraussagt. Menschen in Not müssen gerettet werden, das gebieten nicht nur die Menschenrechte. Aber nicht, wenn das eigene Leben dadurch gefährdet wird. Dann steht man vor dem Dilemma: „wir oder sie“.

Das Problem lässt sich nicht so einfach lösen und wir werden noch lange Zeit damit konfrontiert werden. Es kann nur durch eine Politik der kleinen Schritte, durch Einflussnahme bei Konflikten, also durch Schaffung von Perspektiven, gelöst werden. Dabei werden Fehler gemacht, wie klar in der Entwicklung vieler Staaten ersichtlich ist, in denen beispielsweise die USA Einfluss genommen hat. Vielleicht liegen die Gründe ja auch in den Macht- und Wirtschaftsinteressen, die verfolgt werden.

Da heisst es: abwägen und nochmals abwägen. Und die Bevölkerung soll offen über die Gründe der Entscheidungen informiert werden. Demokratie lebt auch von Information, von glaubhafter und ehrlicher Information, auch über Dilemmas.

 


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