Textatelier
BLOG vom: 15.08.2016

"La Bohème" in der Provinz - 2 Versuche

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland

 

Versuch 1

Willich ist ein kleiner Ort nicht weit weg von Düsseldorf, der Hauptstadt von Nordrhein-Westfalen/D, gelegen zwischen Krefeld und Viersen. Die Stadt zählt 50.000 Einwohner, aber nur, weil sich mehrere kleinere Orte zusammengetan haben. In Neersen, einem dieser Dörfer, gibt es ein Schloss, in dem auch der Bürgermeister und Teile der Verwaltung ihren Sitz haben. Einmal im Jahr zur Sommerzeit veranstaltet die Stadt die Schlossfestspiele. Ein Grossteil der Veranstaltungen findet im Freien statt, die Bühne ist dann vor dem Eingang aufgebaut. Bei schlechtem Wetter fällt auch schon einmal die Vorstellung aus.

Ein Bestandteil des diesjährigen Repertoires ist eine Opernaufführung. Welche Oper bietet sich bei dem diesjährigen Motto der Festspiele "Fremde – Freunde" an, wenn die Möglichkeiten begrenzt sind? Die Wahl fiel auf "La Bohème" von Giacomo Puccini. Da die Hauptveranstaltung ausverkauft war, ergriffen wir die Gelegenheit, die öffentliche Generalprobe an einem Nachmittag um 14 Uhr zu besuchen.

Es regnete, wie so oft in diesem Sommer. Da war es gut, dass die Veranstaltung im Ratssaal des Schlosses aufgeführt wurde. Das Schloss selbst war nach einem Brand im Jahr 1859 über 110 Jahre lang eine Ruine, von der hauptsächlich nur die Umfassungsmauern und 2 Türme noch standen. Diese konnten erhalten werden und in den 70-er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde das Schloss wieder aufgebaut.

Der Ratssaal befindet sich im ersten Obergeschoss. Es mutet ein wenig seltsam an, wenn man die im spätgotischen Stil gestalteten Fenster und zugleich eine moderne Sichtbetondecke betrachtet.

Vor der kleinen Bühne waren in der Mitte und jeweils zur Seite Stuhlreihen aufgebaut. so dass es Platz für wenig mehr als hundert Zuschauer bot.

Der Vorteil eines solchen Saales bei Aufführungen ist die Nähe der Schauspieler und Sänger zum Publikum, wenn sie die Bühne verlassen, bewegen sie sich auch einmal inmitten rechts und links entlang der Stuhlreihen.

Für ein Orchester war natürlich kein Platz. Aber "La Bohème" lässt sich auch gut nur mit Klavieruntermalung aufführen, kommt es doch vor allem auf die Gesangsqualität an.

Die Vorstellung wurde so angekündigt:

"Oper von Giacomo Puccini
Gespielt von der Deutschen Oper am Rhein
im Ratssaal Schloss Neersen
Konzept: Stefan Heidemann

Bei anderen heissen sie „die vier Musketiere", sie selbst nennen sich: Gustave Colline, der große Philosoph; Marcel, der große Maler; Rodolphe, der große Dichter und Schaunard, der große Musiker. Künstler, Bohémiens, Prasser, arme Schlucker, Luftschlossbauer, Possenreisser - und vor allem: unzertrennliche Freunde.
Und dann sind da noch Mimi und Musette, Musen, Geliebte – auch sie Künstlerinnen: der Koketterie, der Verführung und der Liebe.

Eine Geschichte über die Lust am Leben, über die Liebe, den Tod und vor allem: über die Freundschaft."

Die Idee zu dieser Oper bekam Puccini durch ein Buch von Henri Murger (1822-1861) mit dem Titel "Scènes de la vie de bohème". Der Schriftsteller selbst gehörte dieser Szene in Paris an, Bohemièns im Quartier Latin, die sich "Buveurs d'eau" nannten, die "Wassertrinker", was darauf hindeutet, dass für Wein nur selten Geld im Beutel war.

So leben denn die 4 Freunde auch von Gelegenheitsarbeiten in einer kleinen Dachwohnung. Es wird geschildert, wie die Zimmernachbarin Mimi zufällig die Bekanntschaft von Rodolfo macht. Die beiden verlieben sich ineinander.
Musetta ist eine ehemalige Freundin von Marcello, die sich in einem Café wieder vereinen.

Der Verlauf der beiden Liebesgeschichten ist wechselhaft. Mimi erkrankt an Tuberkulose, eine in diesen Tagen (Ort und Zeit der Handlung ist 1830) noch häufig tödlich verlaufenden Krankheit, an der sie am Ende auch im Kreise der Freunde stirbt.

Nicht nur die Arie "Che gelida manina – Wie eiskalt ist dies Händchen" wird von Opernliebhabern gerne gehört, auch die anderen des Stückes gehören zum unsterblichen Opernrepertoire, "Mimi è tanto malato", in der sich die Freunde über die Krankheit Mimis unterhalten, und "Vecchia zimarra, senti", in der sich Colline von seinem Mantel verabschiedet, mit dessen Verkauf Medizin für die Kranke erstanden werden soll.

Die Oper vereint die grossen Fragen des Lebens, hier auf der Bühne nur von einem Klavier begleitet. Die Gesangsstimmen der Akteure waren beeindruckend, man konnte daraus die Erfahrung aus der Deutschen Oper am Rhein erkennen.

Von einer "Generalprobe" war nicht viel zu merken, es lief alles professionell ohne Eingreifen der Regie ab.

Das belohnte auch das Publikum durch anhaltenden Applaus nach den Arien und am Ende des Stückes.

Es waren angenehme 2 Stunden bei ergreifender Musik, und ein Genuss!

Versuch 2

Welche verrückte Idee führte uns am helllichten Nachmittag in eine Opernvorführung? Die Abendveranstaltung war ausverkauft, die öffentliche Generalprobe nicht. Ausserdem kostete diese nur die Hälfte an Eintritt.

Sind Opern noch zeitgemäss? Es werden immer noch welche geschrieben. Und aufgeführt? Ganz bestimmt! Mozart, Verdi, Bellini, Leoncavallo, natürlich Puccini und viele andere.

Opern sind seltsam unrealistische Kunstwerke. Gesprochene Sprache wird nicht gesprochen, sondern gesungen. Gesungen mit Melodien, die – wie Schlager oder sogar manche Kirchenlieder ("Grosser Gott, wir loben dich") – zu Ohrwürmern werden, sich für Tage, manchmal sogar für länger, im Gehirn festsetzen, und oft Jahrzehnte danach noch auswendig mitgesungen werden können.

Die Operntexte sind oft nicht deutsch; französisch und noch viel mehr italienisch sind die melodischeren Gesangssprachen, aber es gibt oft deutsche Übersetzungen, die den Originaltexten in etwa entsprechen.

Damit das Publikum die Dialoge und den Verlauf der Handlung versteht, werden in grossen Häusern die Übersetzungen oberhalb der Bühne elektronisch angezeigt.

Hier, auf der kleinen provisorischen Bühne der Neersener Festspiele im Schloss in Willich am Niederrhein, war es nicht so. Eine geschmackvoll im Kostüm der Zeit gekleidete Dame, las die Erzählung in Kurzform von Akt zu Akt vorher aus dem Buch vor, aus dem der Komponist das Thema geschöpft hat.

Aber bei der Oper "La Bohème" dürfte sie vielen Zuschauern bekannt sein, ebenso wie die Melodien.

Wie in den meisten Opern geht es um die Liebe und ihre Verwicklungen, um Gefühle, um Mitleben und Mitleiden.

Es geht um Freund- und Liebschaften, um existentielle Nöte in Paris des Jahres 1830. Den modernen Begriff "Armutsgrenze" gibt es noch nicht, aber im geschilderten Künstlermilieu war sie gewiss nicht selten in Richtung Hunger und Not überschritten.

Die Botschaft der Oper ist, dass das nicht so wichtig ist, wichtiger ist Freundschaft und das Füreinander einstehen, ein Klebstoff, der auch die Liebe umfasst.

Es ist ein Auf- und Ab, ein Wechsel von frohen und schlimmen Tagen, wobei eindeutig das bedrohliche Schicksal überwiegt und am Ende für Mimi, der Geliebten des Rodolfo, zum Tod führt.

Stücke, die die Zuschauer betroffen machen, die traurige Gefühle, ja sogar Tränen auslösen, und die zudem noch von "ins Herz gehenden" Melodien begleitet und getragen werden, haben immer das Zeug dazu, "Evergreens" zu werden.

So auch in "La Bohème". Ich muss die italienische Version nicht verstehen, die deutsche Übersetzung einer Opernaufführung, auf eine CD gebrannt, vor ein paar Jahren erworben und damals des Öfteren gehört, schwingt in meinem Gedächtnis mit. Das Gehirn holt sich die Melodien aus der entsprechenden "Schublade", in der sie "gelagert" worden waren, hervor. Obwohl sie dort schon jahrelang "ruhen", sind sie doch wieder parat. Zwar nicht im Ganzen, aber doch bruchstückhaft "singe ich innerlich mit". "Wie eiskalt ist dies Händchen ...".

Ich werde mit ihnen ein paar Tage leben müssen, nicht nur Tage, auch Nächte. Die Nacht nach der Aufführung wurde ich um 5 Uhr wach, weil die Arien mein Gehirn "belagerten" und sich nicht verdrängen liessen.

Hat es sich gelohnt? Ich denke schon, Musik verändert unsere Sicht auf die Welt, wirkt lebensbejahend, erfrischt den Geist und die Psyche.

Und wenn wir das nächste Mal in die Nähe des Schlosses kommen, werden wir uns an diese Aufführung erinnern: "Weisst du noch, "La Bohème", und "Wie eiskalt ist dies Händchen"? Und wir werden Hand in Hand durch den Park spazieren und in Erinnerungen schwelgen.

Quellen
https://www.festspiele-neersen.de/fsn/theater/opern-und-operettengala/
https://de.wikipedia.org/wiki/La_Bohème

 


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