Lebewesen aus Algen und Pilz – Flechten als Arznei
Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
Die  Flechten sind wohl die absonderlichsten niederen Pflanzen, die es gibt. Sie  stellen nämlich eine dauernde Lebensgemeinschaft (Symbiose) zwischen Pilz und  Alge dar.
   Betrachtet  man einen Mikrotomschnitt der Flechte unter dem Mikroskop, dann sieht man ein  verfilztes Dickicht von Fäden (Pilz), und eingestreut entdeckt man kleine,  kugelige Zellen, die Blau- oder Grünalgen darstellen. Eine Symbiose zwischen 3  Partnern liegt vor, wenn sowohl Blau- als auch Grünalgen im Pilzgeflecht zu  finden sind.
Flechten auf Schildkrötenpanzern
   Manche  Arten sind auf der ganzen Welt verbreitet. Andere wiederum sind nur in subarktischen  und arktischen Gebieten zu Hause. Aber auch in Wüstengebieten und in Höhenlagen  bis zu 5000 m sind Flechten anzutreffen. Weltweit gibt es 25 000 Flechtenarten,  in Mitteleuropa 2000 Arten.
Man unterscheidet Krusten-, Blatt- und Strauchflechten. Die Flechten, die pro Jahr nur zwischen 1 und 90 mm wachsen, aber 50 und mehr Jahre alt werden können, siedeln sich auf Rinde, Holz, Felsen, Glas, Porzellan, Marmor, Eisen, Papier und sogar auf Panzern von Schildkröten an. Flechten sah ich bei unseren Wanderungen auf alten Brunnenstuben, Bildstöcken, Dachziegeln, Holzscheunen, Holzzäunen, zwischen Fichtennadeln, Wegkreuzen, Grenzsteinen und auf Grabsteinen. Zum Glück wurden alte Grenzsteine oder Bildstöcke nicht überall gereinigt. Eine Reinigung ist nicht nur eine Eliminierung von Flechten, sondern auch eine Verschleuderung von Steuergeldern.

  
Bei  unseren Streifzügen durch den Südschwarzwald oder durch die herrlichen  Landschaften in der Schweiz bewundern wir immer wieder den kräftigen  Flechtenwuchs an den Bäumen, Sträuchern oder Steinen. 
   Dazu  einige Beispiele: Auf einer Wanderung zwischen Kandern und Elbenschwand  (Südschwarzwald) Ende Februar 2016 entdeckte ich eine Bartflechte an einigen  Bäumen. Die Flechte hat deshalb diesen Namen, weil sie von den Zweigen  bartartig herunterhängt. 
   An  anderen Bäumen sah ich verschiedene Arten der Schüsselflechte und auf Steinen  Krustenflechten und gelb und rötlich gefärbte Flechten. Im Wehratal sieht man an  den Felsen die Schwefelflechte Chrysothrix chlorina. An exponierten  lichtoffenen Felsen auf den Schwarzwaldhöhen ist es die Landkartenflechte.
Viehfutter und Würzmittel
   Baum-  und Bergflechten wurden früher ins Viehfutter gemischt, um das Wachstum und die  Widerstandsfähigkeit der Jungtiere zu fördern. Bis ins 20. Jahrhundert hinein  diente Isländisch Moos zur Schweinemast. In Kärnten wurde die Flechte zusammen  mit Alpen-Ampfer in  einem grossen Kessel  weich gekocht und den Schweinen verfüttert, wie Arnold Achmüller berichtete. Das Fleisch soll besonders gut  geschmeckt haben.
   Die  Rentierflechten sind eine wichtige Nahrungsquelle der Rentiere.
Alfred Vogel (1902-1996), war einer der bekanntesten Verfechter der Natur- und Pflanzenheilkunde in der Schweiz. In seinem bekanntesten Werk „Der kleine Doktor“ ist über die Bartflechte dies zu lesen: „Beim Skifahren ass ich regelmässig von dieser Flechte und konnte dabei beobachten, dass sich auch Hirsche, Rehe und Gämsen daran gütlich taten. Lag hoher Schnee, dann war immer alles Usnea bis zur Reichweite dieser Tiere weggefressen.“
Nach Prof. Dr. R. F. Weiss wurden zerriebene Gesteins- und Baumflechten als  Würzmittel für die Diätkost (Rekonvaleszenz, Appetitmangel) verwendet.
   In  Japan ist eine Flechtenart Bestandteil von süssen Suppen, saurem Salat, oder  sie wird in Fett ausgebacken. 

  
Die Evernia prunastri (Schlehenpflaumenflechte,  Eichenmoos, Pflaumenflechte), wie mir Prof.  Dr. Volkmar Wirth mitteilte, wird zur Parfümherstellung (Duftnote u.a.  Irisch Moos) verwendet. Die Duftnote entsteht erst nach einer entsprechenden  Behandlung. Prof. Wirth: „Und noch eine andere Eigenschaft wurde genutzt.  Früher wurden sogenannte Riechkissen hergestellt, sie enthielten getrocknete  Evernia, die zuvor mit wohlriechenden Substanzen behandelt worden war. Die  Flechte hat die Eigenschaft, die Wohlgerüche lange festzuhalten. Diese Nutzung  gehört freilich längst der Vergangenheit an.“
    
   Aus  den Färberflechten  (Roccella tinctoria) stellte man früher die bekannten Farbstoffe  Lackmus und Orseille her. Durch eine besonderes Verfahren wurden aus Orseille  verschiedene Purpurfarben wie Französischrot, Persischrot und Karminrot  gewonnen. Die nicht lichtechten Flechtenfarben wurden jedoch schnell durch die  Teerfarben verdrängt. Lackmus wird noch in Labors als Säure-Basen-Indikator  (Lackmuspapier) gebraucht. Früher diente Lackmus zum „Bläuen der Wäsche“ und  zum Färben von Wein, Backwerk, Likör, Käse, Schminke und Zuckerpapier.
Flechten als Arzneipflanzen
  Die Flechten wurden schon im alten Ägypten als Heilmittel genutzt. Im Mittelalter  stiegen die Anwendungsmöglichkeiten erheblich. So war man der Ansicht, dass  Pflanzen, die bestimmten Körperteilen ähnelten, auch für diese hilfreich seien.  Man verwendete die Bartflechte als Haarwuchsmittel, die Lungenflechte gegen Lungenkatarrh und eine gelbe Flechte gegen Gelbsucht. Epileptiker erhielten  Flechten, die auf Totenschädel wuchsen.
Betrachten wir einmal 2 Flechten, die heute arzneilich genutzt werden. Es ist das Isländische Moos (Cetraria islandica) und die Bartflechte (Usnea barbata).
Isländisches Moos: Die Flechte wird als Tee zur Förderung der Schleimhautdurchblutung eingesetzt, ferner bei Katarrhen der Atmungsorgane, bei Reizungen im Magen- Darm-Trakt, Lungentuberkulose, Keuchhusten und zur Appetitanregung. Prof. H. Mommsen empfahl Isländisches Moos vor allem Sängern, Schauspielern, Lehrern, also solchen Menschen, die ihre Stimmbänder stark beanspruchen müssen. Durch dieses Naturmittel (z.B. Isla Moos Pastillen) werden die Schleimhäute gepflegt, der Hustenreiz gemildert oder der Heiserkeit entgegengewirkt.
Die  Flechte enthält antibiotische Substanzen, Bitterstoffe (Flechtensäuren) und  Schleimstoffe mit der Hauptkomponente Lichenin. Durch den Schleimüberzug in  Mund- und Rachenraum wird die Reizung der Schleimhäute herabgesetzt.
   Die  antibiotische Wirkung der Flechtensäuren erstreckt sich auch auf Problemkeine  wie Staphylococcus aureus und Heliobacter pylori.
Bartflechte: Die Bartflechte, auch  Bartmoos, Baumbart genannt, wurde früher gegen Schleim- und Blutfluss,  Durchfall und Magenschwäche gebraucht. Heute ist die Verwendung eine ganz  andere. 
   Auch  in der Bartflechte sind antibiotischen Substanzenenthalten undwirkengegen grampositive Keime und  Staphylokokken. Im Extrakt konnte eine antientzündliche und  zellteilungshemmende Wirkung nachgewiesen werden. Die Verwendung einer Tinktur  ist bei Akne und unreiner Haut angezeigt. Der Extrakt wirkt unterstützend auch  bei Fusspilz, Furunkeln und Abszessen und gilt als Deowirkstoff und als konservierende  Komponente in Kosmetika.
Im  Handel ist auch eine Kombinationspräparat mit Bartflechten-Extrakt aus dem  Bergwald, Akaziengummi und Birnensaft-Konzentrat (Granobil Lutschpastillen).  Diese Naturstoffe legen sich wohltuend auf die Schleimhaut des Mund- und  Rachenbereiches und bringen eine Erleichterung bei Husten und Heiserkeit. Das  Mittel hilft auch bei Reizungen der oberen Atemwege und Kratzen im Hals.
   Den  Sängern in  unserer privaten Wandergruppe  empfahl ich die erwähnten Lutschpastillen. Wie sie mir erzählten, verschwanden  Heiserkeit und das Kratzen im Hals. Sie waren höchst erfreut, als sie wieder  eine klare Stimme bekamen. Die Pastille dürfte auch bei Rednern und Rauchern  für eine gute Stimme sorgen.
   Verzehrsempfehlung:  3 – 4mal täglich nach Bedarf 1 -2   Lutschpastillen langsam im Mund zergehen lassen.
Interessante Flechteninhaltsstoffe
   Es  sind inzwischen mehr als 600 verschiedene Flechtenstoffe nachgewiesen. Die  interessantesten sind die Flechtensäuren (Depside, Depsidone, Depsone und die  erwähnte Usninsäure). Die Flechtensäuren, die nur in den Flechten vorkommen,  haben wichtige Aufgaben zu erfüllen. Zunächst schützen sie die Pflanze auf  Grund der antibiotischen Eigenschaften vor Mikroorganismen und Insekten. Ferner  sind die aromatischen Flechtenstoffe befähigt, die Metallionen aus der  Gesteinsunterlage herauszulösen, zu chelatisieren und somit diese ihrem  Stoffwechsel zugänglich zu machen. Es gibt sogar Flechten, die in der Lage sind,  den härtesten Fels (Quarz) in wasserlösliche Komplexe überzuführen.
   Die  gelbgrüne Färbung der Bartflechte und anderen Flechten geht auf den Gehalt von  Usninsäure zurück, während Parietin (ein Vertreter der Anthrachinone) für die  gelbe bis rote Färbung verantwortlich ist. 
Internet
   https://de.wikipedia.org/wiki/Flechte 
   www.spektrum.de 
   www.avogel.ch/de/verlag/ 
   www.grandel.de 
   www.isla.de
Literatur
   Achmüller,  Arnold: „Wickel, Salben und Tinkturen“,  Edition Raetia, Bozen 2016.
   Kirschbaum,  Ulrich; Wirth, Volkmar: „Flechten  erkennen, Luftgüte bestimmen“, Eugen Ulmer Verlag, Stuttgart 1995.
   Scholz,  Heinz: „Erlebte Natur: Flechten –  Lebewesen aus Alge und Pilz“, „Chrüteregge“ Nr. 3, 1983.
   Vogel,  Alfred: „Der kleine Doktor“, Verlag  A. Vogel, Teufen, 68. Auflage.
   Wirth,  Volkmar: „Indikator Flechte – Naturschutz  aus der Flechten-Perspektive“, Stuttgarter Beiträge zur Naturkunde, Serie C  – Wissen für alle, Heft 50, 2002.
   Herausgeber:  Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart und Gesellschaft zur Förderung des  Naturkundemuseums in Stuttgart.
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