Der Leseroller
Alois Dotterweich, städtischer Bibliothekar und heimlicher Erfinder, hat fahles, enganliegendes Haar, streng in der Mitte von einem Scheitel durchzogen, als sei irrtümlich ein Messer angesetzt worden, um sein zwetschgenförmiges Haupt zu halbieren. Seine Nase ist Höherem zugespickt, wie ein haftender Nasenstüber. Jeder, der ihn nicht kennt, meint, er schnuppere nach des Gegenübers Füssen. Das Zwiespältige in seiner Natur blinkt aus seinen feuchten Schwärmeraugen und schwingt aus dem glattrasierten, spitzen Kinn. All dies, mitsamt der Weisheit seiner 55 Jahre, lastet auf einem mageren Hals mit hüpfendem Adamsapfel. Ein Erfinderstolz schwillt verschwiegen in seiner Brust und ist Ursache seiner tägllich mehrmals vor sich hingemurmelten Worte „umwälzend, todsicher, handleicht“, die einst dem Fräulein von der Kartei ein vielsagendes Lächeln entlockt hatte. 30 Jahre lang der Nächste des gleichaltrigen Bibliothekleiters zu sein, wenn da einer nicht überschnappt ...
Woher kommen Einfälle? Gewiss müsste in einer ehrlichen Statistik unter den ersten 5 Punkten ein stilles Örtchen genannt werden, wo es bestenfalls nach Deodorant riecht. Henry Miller ist einer der wenigen, die es unverblümt zugaben. Mancher Literatur merkt man förmlich an, wie sie entstanden ist: mehr Magenbrennen oder hartnäckige Verstopfung, die sich gehässig-bitter, doch unerlöst kundtut.
Doch zum Thema zurück: Dotterweich konnte an keiner Papierrolle mehr zupfen, ohne dankbar zu sein für den Lebensinhalt, die sie ihm vermittelt hat. Anstatt wie bislang auf Format zugeschnittenes Papier zu schreiben oder zu tippen, wäre es wesentlich zweckmässiger, Rollen zu verwenden. Hinter der Schreibmaschine müsste nur ein Behälter angehängt werden, der Rollenträger, und das Schreiben könnte genau dort abgetrennt werden, wo es aufhört. Das zeitraubende Einspannen neuer Seiten erübrigte sich, und jeder Brief bliebe einseitig.
Das Buch in einer Rolle verfolgt seinen Gedanken weiter, geschützt in einer Kartonhülse. Das Konzept ist alt (Papyrus), aber diese Anwendung ist brandneu, schrieb Dotterweich in seiner Gebrauchsanweisung, womit er den Prototyp seines Leserollers dem Patentamt einreichen wollte. Radio, Fernsehen und Kino haben dem gedruckten Wort das Alleinherrscher-Recht strittig gemacht, und sollte es nicht noch mehr einbüssen, bräuchte es eine „umwälzende“ Erfindung, unserem Drang nach Bequemlichkeit entgegenkommend. Auf 2 Walzen eingespannt, könnte die Lektüre von einem lautlosen Elektromotor, auf individuelle Lesegeschwindigkeit eingestellt, vor uns abrollen und das ablenkende, Gedanken unterbrechende Umblättern ersparen. Auch bliebe die zuletzt gelesene Seite stets aufgeschlagen. Ein eingebautes Lämpchen sorgte erst noch für augenschonendes Lesen. Das Volkswohl dürfte den Behörden angelegen sein: Die Zahl der dienstuntauglichen Brillenträger würde abnehmen. „Aus erzieherischen Gründen“, schrieb Dotterweich, „würde ich in Schulen die Verwendung mit Handkurbel empfehlen und auf besonders robuste Bauart des Apparätchens bedacht sein”. Endlich blieben auch die letzten Buchseiten lasterhafter Neugier entzogen Völker würden zu Lesern geformt.
Eine Geschichte ohne Tragik, wo führte das hin? Fachliteratur über den Elektromotor und Bastelbücher hatte er, doch kein mechanisches Geschick, um die Rollen zum Rollen zu bringen. Im Glauben, jeder trachte darnach, ihn um sein eifersüchtig behütetes Geheimnis zu bringen, blieb er allein auf sich angewiesen. Selbst die Walzen, Rädchen und Schrauben kauft er in verschiedenen Handlungen, darauf bedacht, üble Neugier zu umgehen.
Die in verschlossener Truhe gehäuften Bestandteile hätten genügt, den Jahresbedarf eines mittleren Elektrofachgeschäfts zu decken. Bereits zieht er allmonatlich einmal aus zur Nachbarstadt, um sich die auf einem verschlüsselten Zettelchen notierten Teilchen zu besorgen.
Inzwischen ahnt die Welt nichts vom Ringen dieses Mannes, und ungewiss bleibt, ob sie je darum wissen wird.
Emil Baschnonga
11. November 1964
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