Das Essen, sagt man, habe eine fundamentale Bedeutung. Aber etwas darf es nicht kosten: Zeit. Es muss immer schneller, sozusagen faster gehen. Vor allem ist das beim Kochen der Fall, ob im Restaurant oder in der eigenen Küche. Bestenfalls werden noch vorfabrizierte Halbfertigprodukte zu irgendwelchem Schnellfood vereinigt und erhitzt. Und wenn man das herunterschlingt, schaltet man aus Gründen des Selbstschutzes die Wahrnehmung am besten aus; der Geschmackssinn stört da nämlich nur.
Sogar die Gewürze sind standardisiert, zum langweiligen geschmacksverstärkten Einheitspulver als beliebige Mixturen verkommen. Undefinierte Mischmixe sind Sinnbilder für die moderne diffuse Lebenshaltung. Es drängt mich, mir endlich einmal meine Gewürzmischungs-Frustration von Hals bzw. vom beleidigten Gaumen zu schreiben.
Vergoldete Gewürze
Es war einmal eine Zeit, da wurden Gewürze von weit her geholt - vor allem aus Asien. Sie waren gewichtsmässig mit Silber gleichwertig. Die Entdeckungsgeschichte lehrt, dass wir sogar die Entdeckung Amerikas den exotischen Gewürzen zu verdanken haben. Kolumbus wollte schliesslich einen neuen Seeweg ins Land der Gewürze, nach Indien, finden, um nicht mehr die Phalanx der schamlosen Abzocker in der arabischen Welt durchbrechen zu müssen; er hat sich aber dummerweise etwas verfahren.
Wenn die ehrenwerten Gewürze tatsächlich an der Entdeckung Amerikas schuld sein sollten, würden sie mir dadurch eher unsympathisch: Ohne diese Entdeckung würden noch viele Naturvölker friedlich leben; sie wären nicht der Gewürze und des Goldes wegen abgeschlachtet worden, und die Welt müsste nicht die amerikanischen Pressionen, juristischen Raubzüge, Umweltzerstörungen, Entlaubungen, Boykotte, Bombardierungen bis hin zu ausgewachsenen Kriegen und Lebensstil-Uniformierungen ertragen. Die freundlichen Ureinwohner mischen sich nicht weltweit ein. . .
Doch wir fanden zu den Gewürzen, auch zu den entlegenen. Wohl niemand hat das schöner, treffender und anschaulicher als Stefan Zweig in "Magellan. Der Mann und seine Tat" (1937) geschildert, voller Ehrfurcht für die Helden, dank deren Abenteuerlust sich das Bild der Erde rundete, Länder ausgebeutet und unterjocht sowie Handelsbeziehungen aufgebaut wurden. Der weltweite Warenaustausch nahm gigantische Ausmasse an. Im Verlaufe des 20. Jahrhunderts standen folgerichtig immer mehr Döschen oder Fläschchen mit einheimischen oder fremden duftenden Körnern (Samen), Kräutern, Nüssen, Wurzeln und Pulvern in den Regalen unserer Lebensmittelläden und Küchen: Anis, Koriander, Kümmel, Muskatnüsse, Nelken, Paprika, Pfeffer, schwarzer und weisser, Vanilleschoten, Wacholder, Zimt usf., wohl etwa 100 an der Zahl. Und 1 oder 2 Currymischungen durften ebenfalls nicht fehlen; das Wissen um die Kunst ihrer Herstellung ist in unserem Kulturkreis nur wenigen Leuten vorbehalten.
Hausgemahlen
Wo immer möglich, kaufte man früher ganze Körner und mahlte beim Kochen frisch. In jedem Rezept schreiben Rezeptautoren, die etwas auf ihre Kunst halten, auch heute noch „Pfeffer aus der Mühle“ – Recht haben sie. Zudem gab es schon damals Salz verschiedener Qualitäten und mit Anreicherungen, auch aus dem Sondermüllsektor (Fluorsalz). Und daneben standen die Maggi-Fläschchen mit den Allerwelts-Würzsaucen, die aus Eiweissstoffen auf unerklärliche Art industriell hergestellt waren, Vorboten einer neuen standardisierten Würzzeit. Küchenkräuter wie Petersilie, Schnittlauch, Bohnenkraut, Dill, Thymian usf. holte man frisch aus dem Garten oder aus dem Blumenkistchen vor dem Fenster.
Die Düfte (vorherrschend sind die Terpene wie im Thymian, Phenylpropane wie im Zimt, die Diarylheptanoide wie im Ingwer, die Alkaloide wie im Pfeffer usf.) sind vielfältig. In der Natur haben sie die Aufgabe, potenzielle Bestäuber anzulocken und Fressfeinde abzuwehren. Aber die Menschen ihrerseits liessen sich von den Abwehrmassnahmen eher anlocken; sie würzen wild drauflos und schätzen auch den Gesundheitsnutzen. Die in vielen frischen Pflanzen enthaltenen Bitterstoffe stimulieren den hinteren Teil der Zunge und regen dadurch die Verdauung an, um nur ein Beispiel zu nennen.
Fixfertig gemischt
Doch das gute alte Würzen war einmal. In den Regalen der Läden mussten die Gewürzgestelle markant verlängert werden, weil die Gewürzmühlen zu mischen begannen, was die Rührwerke hielten – zu jedem Gericht tauchte die passende Fertigwürzmischung zum Streuen auf: Pizzagewürz (aus Oregano, Thymian, Rosmarin und scharfer Paprika), italienisches Fischgewürz mit mediterranem Flair (Petersilie, Basilikum, Pfefferminze, Oregano, edelsüsser Paprika, Rosmarin, Knoblauch, Zitronenstücklein und Zitronenmelisse), Geflügelgewürz, Grillgewürz, Salatgewürz, Lebkuchengewürz usf. Und dazu kamen die exotischen Mischungen wie die chinesischen „Fünf Gewürze“ (Anispfeffer, Sternanis, Zimt, Nelken und Fenchel), die französischen „Fines herbes“ (Petersilie, Estragon, Kerbel, Schnittlauch u.a., getrocknet und gerebelt), Knoblauch- und Zwiebelpulver, welche nach der Lagerung besonders delikat schmecken. . ., Panier-Mix u. a. m. Die Mischungen werden gelegentlich mit Getreide- oder Kartoffelstärke gewinnbringend gestreckt.
Auch Glutamat musste als Geschmacksverstärker auf bzw. in den Laden, bald einmal auch Fleischzartmacher, ein enzymhaltiges Pulver, das nach Seifenwasser schmeckt. Ich habe im Herbst 1998 in einer Beiz ein Wildschweinsteak vorgesetzt bekommen, das zweifellos damit behandelt war. Noch Stunden später hatte ich in der schleimig gewordenen Mundhöhle und Speiseröhre das Gefühl, diese Hohlräume würden sich auflösen.
Fertigsaucen
Die alphabetisch geordneten Gewürze wurden bald einmal durch endlose Fläschchen-Batterien mit Fertigsaucen ergänzt, für deren Produktion vor allem die Amerikaner ein hervorragendes Talent zu besitzen scheinen: Cocktailsauce, Tabascosauce (auf der Basis von Chilischoten), das grausam aufdringliche Tomatenketchup aus Tomatenmark, das in unterschiedliche Geschmacksrichtungen verbogen ist und ohne das kein Hamburgerverzehr zu denken ist. Das sind die neuen Naturgesetze im Schnellfrass-Zeitalter.
In diesem traurigen Zusammenhang ist speziell auch auf die Fertigsalatsaucen hinzuweisen, die mit allen möglichen synthetischen Farbstoffen verschönert bzw. verseucht und besonders für Allergiker verhängnisvoll sind. Viele Leute mit Herz für Tiere denken, sie würden etwas für ihre Gesundheit tun, wenn sie in einem Restaurant einen fleischlosen Salatteller bestellen... Schön wärs.
In Privathaushalten fällt es niemandem ein, Salatsaucen kübelweise auf Vorrat herzustellen. Das Zusammenrühren von passendem Essig oder/und Zitronensaft sowie hochwertigen Ölen, etwas Salz, Pfeffer, eventuell Senf und frischen Kräutern ist innert weniger Minuten vollendet, und so schmeckt jede Sauce individuell, der Stimmung des Tages und dem Salat angepasst. Da gibt es nichts Abgestandenes, keine endlosen Wiederholungen, keine normierte Langeweile. Jeder Salat ist täglich ein neues Erlebnis – ohne E-Nummern, die auf Polyglycerin-Polyricinolet (E 476) hindeuten und ohne Stabilisatoren und Geliermittel. Wer bewusst eigenhändig mischt, abschmeckt, abstimmt, der entwickelt sein Kochtalent täglich weiter.
Es ist schlichtweg unmöglich, das ganze Einzel- und Mischgewürze-Arsenal und die Saucenbatterien in der eigenen Küche aufzureihen. Doch die Kreativität der Anbieter kennt keine Grenzen; sie sind in ihrer Innovation nicht zu bremsen. Das Bequemlichkeitsangebot wird neuerdings auch mit Sprühprodukten aus den auch kulinarisch degenerierten USA bereichert: Den Geschmack nach Knoblauch, Zwiebeln oder Italianità sprüht man aus der Druckdose über den Frass. Im letzteren Fall ist er mit rötlichen Farbstoffen verziert. Es scheint, als ob der gastrosophische Tiefpunkt noch immer nicht erreicht sei. Man wird immer wieder aufs Neue zu Kopfschütteln, begleitet von Brechreizen, veranlasst.
Die verlorenen Duftnoten
Bei all dem Überangebot, die eiligen Köchinnen und Köche müssen sich allerdings zwangsläufig auf jene Mischungen konzentrieren, die sie gelegentlich einsetzen. Je häufiger sie auf solche Fertigprodukte zurückgreifen, desto stärker verbreitet sich am Tisch die Lustlosigkeit; denn obschon man etwas mehr oder weniger Gewürzmischung beifügen kann, die Sache schmeckt halt doch immer gleich. Und weil da noch ein Haufen Lebensmittelchemikalien drinnen ist, schmecken die Gerichte immer gleich schlecht. Die Gewürze sind staubfein gemahlen und haben ihren Duft irgendwo unterwegs abgegeben.
Gemahlenes Nelkenpulver ist nach einem Jahr geschmacklos; ganze Nelken aber können bei geeigneter Lagerung jahrelang aufbewahrt werden. Das heisst also, dass gemahlene Gewürze alle 2 bis 3 Monate neu gekauft werden müssten – meistens längst bevor das alte Fläschchen aufgebraucht ist. Das führt zu einer enormen Verschwendung wertvoller Pflanzenteile. Ersetzt man die Ware nicht rechtzeitig, tragen die hinterbliebenen Aromen nur zur Verschlimmerung der Gerichte bei. Hoffentlich sind dann wenigstens die Farben noch nicht ganz vergilbt.
Den Geschmack überlisten
Wenn die Kost nicht schmeckt, wird man das Essen unter möglichster Umgehung der Geschmackspapillen im Zungen- und Gaumenbereich in sich hineinschaufeln. Die entsprechende Technik besteht darin, nicht zu kauen und nicht zu kosten. Wenn es schnell genug geht, reicht die Zeit nicht aus, die Geschmackswahrnehmungen ans Gehirn weiterzuleiten. So wird bei bitter und süss der Geschmack erst nach ungefähr einer Sekunde wahrgenommen, da die Informationsverarbeitung aufwändiger und zeitraubender ist als bei süss und salzig; beim Essen hat man es aber praktisch immer mit Mischempfindungen zu tun.
Statt das Schmecken und Riechen zu trainieren, werden diese Sinne, die der Wahrnehmung dienen, bewusst oder unbewusst abgewürgt. Das sind gerade bei zunehmendem Alter verhängnisvolle Prozesse, da sich die rund 10 000 Geschmacksknospen [1] auf der Zunge, in der Wangenschleimhaut, auf Rachen und Kehlkopf und in der Speiseröhre laufend reduzieren, auf 2000 bis 600.
Wie der Geruchssinn funktioniert
Ähnliches lässt sich auch hinsichtlich des Geruchssinnes sagen; die über 500 Geschmackssensoren sind in der Nasenschleimhaut mitbeteiligt. Im Gegensatz zu den wenigen Geschmacksrichtungen ist das Spektrum der Duftmarken unendlich gross, so dass fein abgestufte Duftbilder entstehen. Jede Speise gibt chemische Moleküle an die Luft ab, die über die Atemwege zur Nasenschleimhaut gelangen, und die Nervensignale werden im Gehirn verarbeitet, eingeordnet, als scheusslich (faule Eier, verweste eiweissreiche Tierleichen), gefährlich (Gasgeruch) oder wohlschmeckend identifiziert; meistens tauchen Erinnerungen an vergangene Essen auf. Hat man früher ein Gericht in einer belasteten Atmosphäre erhalten, wird man es eher ablehnen als eine Speise, die Erinnerungen an Mutters erstklassige Küche, an ein entspanntes Essen in Ferienatmosphäre usf., auslöst.
Nicht umsonst werden Düfte auch zu Verführungszwecken eingesetzt; sie dienen der Orientierung und neuerdings manchmal auch der Desorientierung. Duftstoffe, Essenzen und ätherische Öle gibt es in Parfüms, Kosmetika, Seifen, in Läden und Wohnräumen. Sie beeinflussen das Wohlbefinden, trösten (wie der Rosenduft), heilen aromatherapeutisch (wie die Kräuterkissen) und verschönern die Atmosphäre. Das Tierreich käme nicht ohne die Pheromone aus; dies sind überlebenswichtige biochemische Wirkstoffe, die das Paarungsverhalten und Gebietsmarkierungen ermöglichen.
Die Abschaffung der Sinne
Für alle Lebewesen besteht gleichermassen die Notwendigkeit, die Sinne auszubilden, zu schulen, zu benützen. Doch normierte Fabrikkost hat den gegenteiligen Effekt. Sie wirkt gleich wie jene Glaubensrichtungen und -gemeinschaften, die darauf angelegt sind, bei ihren Anhängern das kritische Denken auszuschalten, um die Menschen gefügig, untertan zu machen. Die Menschen verkommen zur Manipuliermasse. Der Verlust der geistigen (und bei toter Nahrung auch der körperlichen) Widerstandskraft ist die verhängnisvollste Auswirkung der modernen Lebenshaltung. Die sozialen Konsequenzen sind bei herabgesetzter Handlungsfähigkeit unabsehbar; die Unfähigkeit, situationsangemessen mit Konflikten umzugehen und diese zu lösen, führt zum Verlust, Entscheidungen zu fällen und die Verantwortung dafür zu übernehmen und zu Abhängigkeiten. Am Ende blüht nur noch der Psychomarkt.
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Damit haben die Gewürzmischungen ab Stange eine Symbolkraft für unsere auf Bequemlichkeit und Gedankenlosigkeit ausgerichtete Lebenshaltung. Sie gaukeln ähnlich wie die digital beschallte Welt mit dem Kunstlicht und ihren Plastikdekorationen ein angenehmes Leben auf hohem Niveau vor und verdecken unter Farbe, Verstärkern mit den schrillen Tönen den Verlust an wertgebender Substanz.
Nehmen wir uns deshalb vor, den Pfeffer im Handumdrehen unbeirrt weiterhin frisch zu mahlen!
Walter Hess
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[1] Es gibt 4 verschiedene Typen von Geschmackspapillen: Pilz-, Wall-, Blätter- und Fadenpapillen. Die Wallpapillen sind 1 bis 3 mm gross und liegen an der Grenze zum Zungengrund; der Mensch hat davon nur 7 bis 15 Stück; in jeder von ihnen befinden sich 100 bis 150 Geschmacksknospen. Pilzpapillen sind über die ganze Zungenoberfläche verteilt; nur die Hälfte von ihnen enthält (in der Regel 3 bis 4) Geschmacksknospen. Die Blätterpapillen mit je 50 bis 100 Geschmacksknospen befinden sich an den hinteren Zungenrändern. Im vorderen Zungenbereich sind die Fadenpapillen angesiedelt, die fürs Schmecken aber nur eine untergeordnete Rolle spielen. Im vorderen Zungenbereich wird der süsse Geschmack wahrgenommen, an den Seitenrändern vorn salzig, dahinter sauer und am Zungenrand bitter. Weitere Geschmacksempfindungen sind: scharf, metallisch usf.