Am Anfang war das leere Blatt
Da kommt etwas viel zusammen: Die Angst vor dem leeren Blatt und das Bestreben, einen fulminanten Einstieg hinzulegen, wie er zur Hohen Schule des Schreibens gehört. Vor allem im Journalismus ist ein attraktiver Start gefragt, weil es darum geht, den Leser zu fangen und zu fesseln. Der erste Satz muss den Leser in den Text hineinziehen; ist er einmal gewonnen, verdaut er auch die folgende Kost, selbst wenn sie schwerfälliger ist.
Paul Valéry soll gesagt haben, erste Sätze würden einem geschenkt. Vielleicht ist das gelegentlich der Fall; manchmal muss aber auch darum gerungen werden. Ein vorangestelltes Zitat oder eine humoristische Einlage, eventuell ein Witz, können dem Schreiber Einstiegshilfe leisten, wenn sie sich nicht in den Niederungen des Abgedroschenen bewegt, sondern frisch wirkt. Solche Beigaben dürfen auch nicht an den Haaren herbeigezogen sein und weit abseits des behandelten Themas liegen. Dann sind sie so etwas wie Leuchttürme, von denen aus man seine Gedanken und Informationen unbeschwert weiterspinnen kann.
Anstelle des zusammenfassenden Vorspanns (Lead) nach agenturjournalistischer Manier ist die atmosphärisch beschreibende Einleitung die für den Leser angenehmere Lösung. Die verschiedenen Überschriften (Ober-, Haupt- und Untertitel) sagen im Allgemeinen genügend darüber aus, worum es in einem Artikel geht. Die Einleitung kann eine Art Vorwort sein, in dem die Redaktion oder der Autor erklärend auf gewisse thematische Begleitumstände hinweist. Das Thema und sein Umfeld können beschrieben werden. Das weckt nicht nur die Neugier des Lesers, sondern trägt auch zum Verständnis der anschliessenden Abhandlung bei.
In einer Einleitung werden z.B. der Autor vorgestellt und allenfalls gewisse Einzelheiten geliefert, welche für das Verständnis der nachfolgenden Arbeit nötig sind. Die Einleitung stimmt auf den Artikel ein, vielleicht nur als Stimmungsbild, etwa durch die Beschreibung einer Person, eines Darstellers, etwa von Ian McKellen im Film "Der Herr der Ringe" in "Der Spiegel" (51-2001): "Mit seinem Bart könnte er sich bei den Taliban bewerben oder als Samson-Double in der 'Sesamstrasse'; er trägt am liebsten kurze Kaki-Hosen, Modell Altkleidersammlung, dazu ein buntes Polohemd. Besucher empfängt er bevorzugt barfuss (...) Würde irgendjemand diesem Mann einen Gebrauchtwagen abkaufen?" Diese ruhige, unspektakuläre Form des Einstimmens in die Thematik gewinnt in dieser modernen, lärmigen Zeit, in der man von überall her angeschrien wird, zunehmend an Sympathie, besonders wenn sie anschaulich wirkt. Das schafft Behaglichkeit; das Lesen wird zum stillen Vergnügen.
Der ehemalige unkonventionelle Börsenguru André Kostolany brauchte keine spektakulären Anfänge. Seine Erwähnung als Autor genügte, und die nach Anlagetips dürstenden Leser waren ihm sicher. So schrieb er in selbstbewusster Art eine unspektakuläre, sachliche Einleitung zu einer seiner unzähligen Kolumnen; das hier zitierte Exemplar stammt aus der "Weltwoche" vom 15. November 1978: "'Ich lehre nicht, ich erzähle', sagte der französische Philosoph Michel de Monaigne. Ich werde nun eine dramatische Episode der Finanzgeschichte erzählen, aus der die Devisenhändler, Spieler und Makler mehr lernen werden als aus mehreren Jahren Studium der Betriebswirtschaft. Sie wurde mir vor 50 Jahren von dem 80jährigen Wall-Street-Börsianer erzählt, der sie selber als Augenzeuge erlebt hat. Man schrieb September 1869. Der Dollar war Gegenstand eines heftigen spekulativen Angriffes...." Und so fort.
In den gleichen Novembertagen des Jahres 1978 war mir ein Traktätchen der Freien Christengemeinde des Distrikts Aarau in die Hände gedrückt worden: "Der Weg der Errettung." Da ging es zwar nicht um die Errettung aus Finanznöten durch Börsengewinne, sondern um Überirdisches. Aber dennoch schien mir, es könnte von Kostolany verfasst worden sein, nicht etwa des Inhaltes, sondern des Stils wegen: "Lieber Leser, dieser Tag kann der grösste Deines Lebens werden. Heute kannst Du eine Erfahrung machen, nach der Du Dich - ob Du es weisst oder nicht - in der Tiefe Deines Herzens schon lange sehnst." In beiden Fällen werden die spekulativen, beziehungsweise die christlichen Gemüter gepackt - ein bisschen Spekulation (auf eine bessere Zukunft) war schliesslich schon immer auch im religiösen Leben inbegriffen.
Mit einer knallharten Einleitung wurde der "FAZ"-Leser am 11.Dezember 1978 in die Realität hineinversetzt, wie man sie bei einem Besuch in einer Strafanstalt empfindet: "Umgeben von Mördern, Totschlägern, Räubern und Sexualverbrechern führt der stellvertretende Direktor seinen Gast durch einen Gang der Strafvollzugsanstalt. Die Häftlinge sind von der Arbeit zurückgekehrt, es ist Mittagszeit, und das Essen wird aufgeteilt. Einige schauen weg, andere grinsen, manche grüssen und nehmen die Gelegenheit beim Schopf, den leitenden Herrn anzusprechen." Das ist eine vorbildliche Schilderung, die mehr aussagt, als es ein Bild tun könnte.
Der rote Faden muss von Anfang an vorhanden sein; von ihm kann man sich bei der Wanderung durch verschlungene Textpfade leiten lassen, damit man sich nicht irgendwo im Gedankendschungel verirrt. Er ermöglicht eine geschickte Leserführung. Hat man den richtigen Start erwischt, läuft alles Weitere wie von selbst. Man kann das Folgende wunderschön daran anknüpfen und weiterspinnen. Ist der Beginn aber verkorkst, wird man die Geschichte kaum mehr zu einem flüssigen Ablauf zwingen können; der Gedankenfluss mäandriert, verzweigt sich und versickert an einer undichten Stelle. Die Leser haben dann nur noch den einen Wunsch: sich aufs Trockene zu retten. Sie möchten sich nicht einfach Zeit stehlen lassen und laufen davon. Aktion Leservertreibung.
Ein guter einleitender Einstieg kann aus der Beschreibung des Ortes und der Akteure bestehen, aus einem Stimmungsbild also. Stichwortartig tat es "Der Spiegel" Ende 2001 in einer Randglosse: "Neulich bei Ikea in Dresden. Kurt (Jahreseinkommen: 400'000 Mark) packt den letzten Artikel, einen Badezimmerflickenteppich aus dem Einkaufswagen." Wenn der Leser durch eine prickelnde Atmosphäre so an den Ort des Geschehens herangeführt wird, liest er mit gespannter Aufmerksamkeit weiter, um die anschliessenden Ereignisse zu erfahren. Glänzend war der Anfang eines Berichtes über einen bereits Geschichte gewordenen CDU-Parteitag, als der Vorsitzende Helmut Kohl einen Denkzettel erhielt und eine neue Mannschaft um sich scharte. In der "FAZ" vom 27. März 1979 startete Thomas Meyer seinen Bericht mit einer atmosphärischen Einstimmung so, wie es bei Romanen üblich ist: "Draussen rüttelt und zerrt ein kalter Regensturm an den Wänden. Aber unter dem Dach im weiten Geviert der Kieler Ostseehalle steht Schweiss auf den Gesichtern der weit über tausend Menschen. Im gleissenden Licht der Scheinwerfer wirbelt die Thermik von ungezählten Kilowatt den Tabakqualm in bizarren Mustern der Decke entgegen. Die Unruhe ist für Minuten verebbt."
Solch faszinierende Kunstgriffe sind nicht nur erlaubt, sondern erwünscht und empfohlen. Der Leser möchte erfahren, wie es weitergeht; er vermutet ein Geheimnis. Das Weiterlesen ist gewährleistet, weil der Schreiber offensichtlich die Kunst der Schilderung beherrscht. Da muss man ihm nicht nach Fernsehmoderatoren-Vorbild bittend bis befehlend ständig zurufen: "Bleiben Sie dran!"
Im Anfang eines Schriftstückes liegt tatsächlich vieles. Weiter unten sollten die Sätze allmählich eher einfacher werden; die Dramatik aber muss zunehmen oder zumindest erhalten bleiben. Man geht vielleicht vom Bekannten zum weniger Bekannten und landet beim Unbekannten. Der Leser soll unterwegs keine Leere spüren; man darf ihm höchstens gelegentlich eine Verschnaufpause gönnen. Bereits eine kleine Wortspielerei kann auflockernd wirken: "Das ist die Berliner Kluft" [1] (weil sich die Stadt schwertat, einen Kultursenator zu finden) oder: "Helmut Schön, der Mann mit der Mütze, nimmt den Hut."
Nur wenn es dem Autor gelingt, seine Leser davon abzuhalten, ebenfalls den Hut zu nehmen, kann er seine Informationen und Gedanken vollumfänglich mitteilen und den Leser in einer Stimmung der Erbauung zurücklassen. Andernfalls erinnert er sich an Karl Kraus: "Es genügt nicht, keine Gedanken zu haben. Man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken."
Walter Hess
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[1] Anklang an das populäre Lied "Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft..." von Paul Lincke (18661946).
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