Wie Kaugummi die Intelligenz verbessert
„Ziehe die Brauen zusammen, und du kommst auf eine Idee“, lautet eine der Weisheiten, die Mao Tse-tung gern zitiert hat, wenn er nicht mehr weiter wusste. Der Wissenschaftler Siegfried Lehrl aus Erlangen (Bayern) zog die Brauen Kaugummi kauend zusammen und absolvierte einen geistigen Höhenflug, als ob er dazu gleich auch noch eine Büchse Red Bull getrunken hätte.
Das Kaugummikauen, so sagte Lehrl, der 1. Vorsitzende der Gesellschaft für Gehirntraining e.V., beflügelt, sei der „tragende Pfeiler der Informations- oder gar Wissensgesellschaft“ des 3. Jahrtausends. Durch dieses Kauen sei mit Leistungssteigerungen um wenigstens das Doppelte zu rechnen. Im Brustton der Übertreibung und bei wissenschaftlichem Grundlagenmaterial, das allerdings eher der Untertreibung zuzuordnen ist, setzte er sich hin und schrieb Deutschlands Kultusministerien an. Das Ziel des Schreibens war es, die Bewilligung zum Kaugummikauen an deutschen Schulen durchzusetzen. Um der stolzen Wissensnation, der es im zunehmend digitalisierten Umfeld weniger an Kaugummi als vielmehr an ausreichend Informatikern mangelte, zu einer intellektuell-innovativen Explosion zu verhelfen, hätte er das Kaugummikauen eigentlich zur Schüler-, Studenten- und Bürgerpflicht schlechthin erklären müssen.
Wahrscheinlich hatte Lehrl die 1939 von der Columbia-Universität in New York herausgegebene Studie über die „Psychodynamik des Kauens“ gelesen, durch welche die weltbewegende Erkenntnis verbreitet wurde, das Kaugummikauen verringere die Anspannung der Muskulatur und führe durch die mahlende Bewegung der Kaumuskulatur zu einer generellen Entspannung. Das geschah zum Zeitpunkt des Ausbruchs des 2. Weltkrieges – von Entspannung war damals keine Spur. Im Gegenteil.
Zudem macht das Kaugummikauen hungrig, weil es den Speichelfluss im Mund verstärkt. Der Speichel enthält Enzyme, die insbesondere Kohlenhydrate vorverdauen. Zudem regt das Kauen die Produktion der Verdauungssäfte an, was die Hungergefühle zusätzlich stimuliert, weil der Körper eigentlich Essbares erwartet – Kaugummi empfiehlt sich somit für Leute mit Essstörungen.
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Kaugummi gehört der Welt des Realen an, wie etwa ein Teppich auch – und deshalb kommt es immer wieder vor, dass Teppich und ausgelutschter Kaugummi eine innige Verbindung eingehen, ebenso wie Tisch-Unterseiten mit den klebrigen Überresten. Die Täter haben offensichtlich den umweltbewussten Ausspruch eines Kehrichteimers nicht gelesen, der silberfarben auf Rot auf jedem Kaugummi der Marke „Hollywood“ (von Kraft Jacobs Suchard France ) steht: „Don't forget the environment. Give me your chewing gum“. Am besten vor dem Kauen in den Eimer werfen, möchte man zusätzlich empfehlen.
Bei der zunehmenden Digitalisierung sollte man glücklich sein, dass uns noch ein paar Realitäten erhalten geblieben sind, wie eben die Kaumasse. Doch der Stadtstaat Singapur sah das nicht ein und verbot den Chewing Gum 1992, nachdem ein Kaugummirest den Türschliessmechanismus einer U-Bahn blockiert hatte und der Verkehr zum Erliegen gekommen war. Kaugummikauer mussten dort mit bis zu 2 Jahren Gefängnis rechnen. Nach 12 Jahren wurde das restriktive Kaugummi-Verbot gelockert: Apotheker dürfen das gefährliche Klebgut seit dem Frühjahr 2004 gegen Angabe von Namen und Passnummer abgeben.
Nach dem Gang durch eine Grossstadt kommt ein gewisses Verständnis für Restriktionen auf; die Kaugummi-Entfernung kostet die Städte Millionen. Auch der Iran ist seit 1995 ein kaugummifreies Land, da die weisen Ajatollahs einen Sittenzerfall durch den Import all des westlichen Plunders befürchteten.
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Doch zurück nach Europa: Die angeschriebenen deutschen Kultusministerien begutachteten den Kaugummi-Kult beziehungsweise die Kultur des schulmässigen Kauens mit skeptischer Zurückhaltung. Die Antworten sollen gar ablehnend bis abwartend gewesen sein. Zum einen liege die Erlaubnis zum Kaugummikauen im Ermessen der Lehrkräfte, hiess es in der Antwort, und zum anderen müsste dieses Kauen für bestimmte Fächer ohnehin untersagt werden. Im Klartext: „Die klare Artikulation und Lautbildung der Schülerinnen und Schüler sowohl im Sprachunterricht als auch in den übrigen Fächern kann dadurch beeinträchtigt werden“, schrieb das Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, eine Institution von offensichtlich grossen Geistesgaben; denn es wies im gleichen Atemzug auf eine sinnvolle Ersatzlösung hin: auf das Kauen von gesundem Obst und Vollkornbrot in den Pausen.
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Das Kauen ist eine Lust, die wahrscheinlich schon in der Frühzeit des Menschen entdeckt worden war. Die Sammler und Jäger überspielten ihren Hunger mit dem Kauen von Baumharzen, wie man annimmt. Die Indianer wählten eine Mischung aus Fichtenharz und Bienenwachs. In vielen Kulturen diente das Kauen der Ablenkung, der Verbesserung des Atems und zur Anregung (Tabak, Betelnuss).
Der erste Kaugummi wurde 1870 vom Amerikaner Thomas Adams aus dem eingekochten Milchsaft des Sapotillbaums sowie Zucker, Vanille, Pfefferminz- und anderen ätherischen Ölen hergestellt. Und traditionelles Kaumaterial traf kürzlich in meinem Briefkasten ein: Elisabeth Stadler Rahmán aus Winterthur sandte mir freundlicherweise einige Zahnputz-Stäbe aus handgeschnittenen afrikanischen Hölzern, die vielen Globetrottern ebenso bekannt sind wie das Süssholzraspeln. Es ist wirklich angenehm, auf diesen Stäbchen herumzubeissen, zu „chätsche“, ohne im Mund gleich eine Chemikalienkloake zu entfalten.
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Artikulation: „Ein Kaugummi im und die Hände vor dem Mund stören die Verständlichkeit“, kann man in jeden „Richtlinien zur Vortragsgestaltung“ nachlesen, die Wesentlichem zugetan sind. Das ist auch im persönlichen Gespräch so; es ist ekelhaft, mit einem ständig malmenden Wesen zusammen zu sein, dessen Kieferbewegungen in absehbarer Zeit nicht zu einem Abschluss kommen werden. Schlimm ist es, wenn das bei offenem Mund geschieht: Kaugummi kauende Referenten sind gleichermassen unerträglich wie solche, die sich mit defokussiertem Blick (ins Leere) in Putzgesten verlieren (am Kopf kratzen, Haare streichen, Kleidung ordnen): Das zeigt Unsicherheit an.
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Die Amerikaner sind die im Kaugummikauen führende Nation, Weltspitze auch hier: Sie geben pro Jahr rund 2 Milliarden USD dafür aus. Wohin das artikulationsmässig führt, weiss jedermann: zum Kaugummi-Amerikanisch . In den USA ist das Englische die Amtssprache. Doch was man an Queens-Englisch in Grossbritannien zu hören bekommt, ist etwas ganz anderes als die US-Sprache. Als ich das erste Mal in Boston ankam und ein Auto mieten wollte, habe ich kein Wort verstanden - und der Vermieter auch nicht. Das kommt daher, dass die Amerikaner jedes Wort mehrmals im Mund sozusagen hamburgermässig verknödeln, die vermantschte Masse zweimal um den Kaugummi herum wickeln, und was heraus kommt, ist dann das Amerikanische. Da dieses Vorgehen eigentlich nur mit dem Englischen möglich ist, sprechen Amerikaner niemals eine andere Sprache als ihre eigene. Und wegen der verbreiteten Unfähigkeit, etwas zu lernen, muss bald die ganze Welt amerikanisch kauderwelschen.
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Damit sind wir beim Zusammenhang zwischen Bildung und Kaugummi : Lehrl hätte auf seine spärliche Erforschung der Auswirkungen des Kauens auf das Gehirn mit Hilfe vereinzelter Probanden verzichten können, denn ein Massen-Feldversuch läuft wie gesagt seit Menschengedenken in den USA. Die Resultate sind hinlänglich bekannt. Um 1945 schleppten die US-Soldaten ihren „Chewing Gum“ in Europa ein. Und so kaut man jetzt auch in diesem amerikanisierten Kulturraum unter anderem auf einer Kaugummimarke namens „Hollywood“ herum, als ob Kinos und TV nicht schon überreichlich davon auf unkritische Menschen loslassen würden.
Das amerikanische Bildungsniveau, unverkennbar ein „Chewing Gum“-Resultat , ist hinlänglich bekannt, was an einem prominenten Exempel statuiert werden kann. Der Republikaner George W. Bush jr. hat nicht einmal eine Ahnung von Politik und Geografie: Bei einem ABC-TV-Interview wusste er u. a. nicht, wer in Argentinien, Pakistan, Indien und Taiwan Präsident ist; die Griechen wurden zu „Gräziern“, und die Slowakei verwechselte er mit Slowenien. Bern, das wahrscheinlich irgendwo in Schweden liegt, kannte diese präsidiale Berühmtheit selbstverständlich auch nicht im Entferntesten. Da hat offensichtlich selbst Kaugummi nichts mehr bringen können.
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Woraus besteht dieser intellektualisierende Kaugummi? Viviane Amacher aus CH-3638 Blumenstein im herrlichen Berner Oberland hat uns vor einiger Zeit gebeten, die Kaugummi-Geheimnisse zuhanden der Textatelier-Nutzer endlich einmal gründlich zu lüften. Ich habe an dieser Aufgabe lange herumgekaut, bis herausgefunden war, was es mit der so deklarierten Kaumasse (französisch: Gomme de base) auf sich haben könnte.
Zuerst der angenehme Teil: Eine sympathische Lösung hatten die Maya gefunden, die aus dem Saft des Sapotillbaumes die natürliche, latexähnliche Kaumasse „Chicle“ gewonnen haben und sich auf dieser Grundlage im mittelamerikanischen Raum des heutigen Nord-Guatemala, der Halbinsel Yucatán, Chiapas und Honduras zu einem künstlerischen und wissenschaftlichen Höhepunkt der indianischen Kultur aufschwingen konnten. Diese zerfiel dann aber - trotz „Chicle“ - und wurde ab 1524 durch die christlichen Spanier endgültig ausgelöscht. Die Spanier kauten nie. Aber die Nordeuropäer nutzten zu diesem Zwecke das Birkenharz, das wegen der Terpene eine leicht berauschende Wirkung hat. Südeuropäer vergriffen sich am Mastixharz [1].
Es gibt verschiedene natürlich vorkommende Harze und Wachse, aus denen Kaugummi hergestellt werden kann. Dazu gehört der Candelillawachs (E 902) aus Pflanzen, die zur Familie der Wolfsmilchgewächse (Euphorbiaceen) gehören und die in Mittel- und Südamerika vorkommen. Das Wachs wird oft als Überzugsmasse verwendet, weil es weich ist. Inzwischen bestehen die meisten Kaugummisorten aus einer synthetischen Masse namens Butadien-Styrol-Copolymerisat oder ähnlichen Kunststoffen wie Polyvinylester , die unverdaulich sind. Wenn Kleinkinder die Masse schlucken, kann sich im Dickdarm ein Gummipfropf festsetzen. David Milov von der Nemours Kinderklinik in Orlando (Florida) beschrieb 1998 in der Zeitschrift „Pediatrics“ mehrere Fälle vom Schicksal kleiner Kaugummischlucker, die unter schweren Verstopfungen litten; die Verschlüsse mussten mit komplizierten Prozeduren beseitigt werden.
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Zum Klebrig-Klumpigen kam das Künstliche, das zunehmend auf die Zutaten übergriff. Pflichtbewusst habe ich zur Vorbereitung dieses Berichtes einige Kaugummisorten gekauft, bis ich nach dem 5. Test eine leichte Benommenheit sowie Kopfschmerzen verspürte und mir fast übel war, wie das beim Inhalieren von künstlichen Zuckerarten häufig ist. Beschwerden waren in diesem Fall durchaus begründet; denn es ist unglaublich, was da alles in die undefinierte Kaumasse eingelagert wird: Neben den erwähnten Zuckeraustauschstoffen künstliche Aromen, Farbstoffe, Antioxidantien bis hin zu einer „Phenylalanin-Quelle [2]“.
Dieser Hinweis, welcher warnenden Charakter hat, richtet sich vor allem an Leute mit der angeborenen Stoffwechselerkrankung Phenylketonurie. Ihnen fehlt das Enzym Phenylalaninoxydase, und daher kann die essentielle Aminosäure Phenylalanin nicht in Tyrosin umgewandelt werden; die Folge sind schwere geistige Defekte, wenn nicht rechtzeitig eine strikte Diät eingehalten wird. Und die nächste Warnung kommt auf der Kaugummi-Inhaltsdeklaration sogleich: „Kann bei übermässigem Konsum abführend wirken“, was den armen Kaugummi-Schluckern allerdings sehr entgegen kommt. Selbstverständlich können auch Vitamine und Schmerzmittel in Kaugummis verpackt werden. Das mildert dann die Symptome etwas.
Mehr als 100 Kaugummi-Sorten sind auf dem Markt, weil man die Chemikalien ganz unterschiedlich zusammenstellen kann, für jeden Typ die richtige Mixtur: „Wrigley's Doublement“ für den korrekten, steifen Bankangestellten, „Freident“ für Menschen mit künstlichem Gebiss („haftet nicht am Zahnersatz“), für Leute also, welche die Zuckerfreiheit zu spät entdeckt haben, „Odol N'ice“ für den gesundheitsbewussten Mundgeruchgegner und „Stimorol Original“ für coole Typen, wie die Trendforschung gerade lehrt. Jeder kann sich seinen eigenen artgerechten Gummi auswählen und sich ganz nach individuellem Wunsch an Erdbeeren, an Pfefferminze, an ein Apotheken-Labor bzw. ans Spülwasser, das einem manchmal Zahnärzte vorzusetzen wagen, und dergleichen Zeug erinnern lassen.
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Und was sollen wir Gestressten denn kauen? Irgendeinen Kaugummi. Wenn wir in Stress geraten, z.B. wegen des Platzens von Kaugummiblasen, steigt scheints der Adrenalinspiegel, und der Speichelfluss wird gehemmt. Die Kehle trocknet aus. Dieser Vorgang schreit geradezu nach Kaugummi. Oder noch viel besser: nach einem Apfel, der neben einem Hochstamm hing: der führt sogar Flüssigkeit zu, fast hätte ichs vergessen. Und das herzhafte Hineinbeissen baut Aggressionen ab. Auch das Apfelkauen entspannt die Psyche. Probieren Sies ruhig einmal aus!
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[1]Mastixharz erfreut sich im Orient nach wie vor grosser Beliebtheit, genau wie das Betelnuss-Kauen, wovon die rubinroten Lippen und Zähne vor allem von älteren Frauen hinweisen. Selbst am Ende von Hochzeitsfesten in Dakka (Bangladesh) werden Betelnüsse gekaut. – Mastixperlen sind auch in der Schweiz wieder erhältlich. Sie sind besonders für jene Leute zu empfehlen, die an schwerer Paradentose leiden, da das Kauen die Blutzirkulation anregt und die Inhaltsstoffe nicht nur desinfizierend, sondern auch heilend wirken.
[2]Phenylalanin ist eine von 2 Aminosäuren, aus dem Aspartam mit der 200fachen Süsskraft von Zucker zusammengesetzt ist.
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