Die Weihnacht der Tiere
Es war Heiligabend, und die Glocken begannen die Mitternachtsmesse einzuläuten. Feierlich hallte ihr Ruf in den weissen Winter hinaus, so dass die Schneekristalle vor Entzücken silbern aufblitzten und die Sterne am samtschwarzen Himmel zu tanzen begannen.
Dunkel lag der einsame Bauernhof in der tiefverschneiten Mulde am Waldrand, kein einziges der vielen kleinen Fenster war erleuchtet: Die ganze Familie mitsamt Grosseltern und Kindern war unterwegs zur Kirche im 2 Kilometer entfernten Dorf. Der angekettete Hofhund blickte traurig auf die Wegbiegung hinaus, hinter der die beiden Bauernkinder Lisbeth und Peter in die Nacht hinein verschwunden waren. Er legte die Schnauze auf die Vorderpfoten und versuchte zu schlafen, da es in dieser heiligen Nacht ohnehin nichts zu bewachen gab.
Plötzlich ertönte hinter Karo so hiess der Hofhund ein lauter metallischer Knall. Hellwach sprang er auf alle seine 4 Pfoten und knurrte drohend. Als er sich zu dem vermeintlichen Feind hinter ihm umdrehte, sah er die zerrissene Kette sie war zersprungen wie ein morscher Baumast. Karo benutzte sofort seine neue Freiheit und lief zum Stall auf der Rückseite des Bauernhofs. Die Stalltür stand weit offen, und die schwarzweiss gefleckten Kühe kamen in einer langen Reihe heraus. Um ihre Hälse baumelten immer noch die entzweigerissenen Stricke, mit denen sie angebunden gewesen waren. Den Schluss des Zuges machte das Pferd Prinz, das aufgeregt tänzelte und Karo zurief: „Komm mit auf die Weide, wir feiern dort die Weihnachtsrevolution der Tiere!“ Karo bellte zustimmend, rannte aber noch zu der etwas abseits stehenden Scheune, in der die Käfighühner untergebracht waren, um sich zu vergewissern, dass auch sie ihre Freiheit erlangt hatten. Tatsächlich verliessen sie, obwohl etwas strapaziert und hinkend, ihre Batteriekäfige und flatterten mit viel Gegacker zur Weide hinauf.
Dort herrschte ein grosser Trubel: Ein Katzenchor sang Revolutionslieder, und er war gerade bei der 2. Strophe von „Die grosse Zeit ist angebrochen…“ angelangt, als Karo, der Hofhund, mit flinken Beinen mitten in die Festfreude hineinsprang. Fast hätte er dabei ein paar Mäuse umgerannt, die zum melodischen Gesang der Katzen Ringelreihen tanzten. Missbilligend schüttelte er seinen zottigen Kopf und setzte sich neben die Schweine, die sich so eifrig dem Festschmaus widmeten, dass ihre rosaroten Bäuche fast platzten. Jetzt spitzte Karo, der Hofhund, die Ohren, denn Prinz das Pferd hatte als Einleitung zu einer Ansprache laut gewiehert. Der Katzenchor verstummte, die Mäuse unterbrachen ihren Tanz, die Hühner hörten zu gackern auf und schnarrten nur noch leise. Sogar die Schweine stellten ihr geniesserisches Schmatzen ein und wandten sich mit aufmerksam geringelten Schwänchen Prinz dem Pferd zu. Dieses hob den rechten Vorderhuf und begann in der jetzt fast feierlichen Stille zu reden:
„Liebe Freunde, wir dürfen zum ersten Mal unsere Freiheit geniessen wie die Menschen. Der heilige Franz von Assisi hat vom lieben Gott die Erlaubnis erhalten, für die heutige Weihnachtsnacht alle Tiere zu befreien.“ Ein kläffender, maunzender, meckernder Applaus brach aus. Nachdem er verebbt war, fuhr Prinz, das Pferd, fort: „Wir wollen uns zwar an diesem Fest freuen, aber es ist unerlässlich, noch heute Nacht einen Plan zu entwerfen, der es uns ermöglicht, diese Freiheit auch nach Weihnachten zu behalten. Die Diskussion ist eröffnet, ich bitte um Ideen!“
Reineke Fuchs, der als ungebetener Gast vom Waldrand her auf die Festweide geschlichen war, rief verbittert: „Wir müssen die Menschen alle vergasen.“ Aber Prinz, das Pferd, schüttelte so heftig den Kopf, dass seine Mähne flatterte, und entgegnete: „Das können wir nicht tun. Du hast ja Deine Freiheit schon und bist nicht auf die Menschen angewiesen. Wir aber brauchen sie, so wie sie uns brauchen. Sie sorgen immerhin dafür, dass wir sommers und winters genug Futter haben. “Nun öffnete Fleck, die Kuh, ihr grosses weiches Maul und meinte bedächtig: „Wenn wir alle Frauen in einen Stall sperren und sie jeden Tag melken, haben wir genug Futter: Milch, Käse, Butter…“ Da mischte sich Tiger die Katze ein: „Aber wir brauchen doch auch Fleisch!“ Grunz, das Schwein, flippte mit seinen Schlappohren, was hiess, dass es etwas Gescheites zu sagen habe. Alle Blicke richteten sich erwartungsvoll auf Grunz, das Schwein, welches erklärte: „Wir stecken die Menschenkinder in Käfige und mästen sie. Sobald sie rundlich sind, schlachten wir sie, dann haben die Katzen und die Hunde genug Fleisch.“ Aber Karo, der Hofhund, wehrte entsetzt ab: „Dieses Fleisch könnte ich nicht essen… Wir müssen eine andere Lösung finden, wenn -"…
Er konnte nicht ausreden, denn in diesem Augenblick hüpften 3 Affen mitten auf den Festplatz. Sie trugen Halsbänder mit Nummernschildchen und hatten ernste, fast traurige Augen. Prinz, das Pferd, begrüsste sie: „Willkommen an unserem Fest! Sicher seid ihr auch Tiere, denn ihr habt ein Fell und Pfoten, obwohl diese fast aussehen wie die Hände der Menschen. Wer seid ihr, woher kommt ihr?“ Der grösste der 3 Affen setzte sich artig vor Prinz hin und erklärte: „Wir sind eine Delegation aus der Stadt, aus den Laboratorien der chemischen Fabrik, und sollen hier alle Labortiere vertreten. Neben mir sitzt Totenkopfäffchen Nummer 33, er dort ist Rhesusaffe Nummer 22, und ich bin Pavian Nummer 7.“
Alles scharte sich um die 3 neu Angekommenen, die ganz verlegen wurden ob soviel Aufmerksamkeit. Sprigeli, das Huhn, gackerte misstrauisch: „Was ist das, Labortiere?“, und Mauz, der Kater, fragte neugierig: „Warum habt ihr Nummern und keine Namen?“ Der Pavian ergriff wieder das Wort: „Wenn die Menschen krank werden, brauchen sie Medikamente. Aber sie befürchten, dass die Medikamente, die sie selbst erfinden und herstellen, wirkungslos sein oder Gift enthalten könnten. Deshalb testen sie ihre Medikamente an den Tieren, bevor sie sie selber schlucken, und da dies in so genannten Labors geschieht, nennen sie uns Labortiere. Die meisten von uns haben ein sehr kurzes Leben, das sie grösstenteils in Kellern fristen, deshalb halten es die Menschen für überflüssig, uns Namen zu geben. Es ist viel praktischer für sie, uns mit Nummern zu bezeichnen, denn sie halten uns zu Hunderten – gewisse Arten, zum Beispiel die Labormäuse, sogar zu Tausenden.“
Atemlos fragte Pipa, die Maus: „Und wenn wirklich Gift drin ist in den Medikamenten…?“ „Dann stirbt eben das Labortier an einer Vergiftung“, antwortete das Totenkopfäffchen mit nüchterner Sachlichkeit. Jetzt ging ein empörtes Schnattern, Miauen, Krächzen und Grunzen durch die Festgesellschaft, bis Gumpi, die Ziege, ausrief: „Wir müssen bei unserem Freiheitsplan daran denken, dass wir Labormenschen brauchen. Wir könne ja auch krank werden.“ Aber Prinz, das Pferd, wusste es besser: „Wenn wir frei bleiben und so leben dürfen, wie wir wollen, werden wir bestimmt nicht krank. Wir werden einander helfen, und niemand sollte zuviel essen, auch die Schweine nicht. So bleiben sicher alle gesund bis ins hohe Alter.“ Die ganze Versammlung applaudierte, mitsamt den 3 Affen, und dann ging das Singen, Musizieren und Tanzen von Neuem los.
In dem lauten Lärm stellte Karo, der Hofhund, plötzlich die Ohren steil in die Höhe. Sein scharfes Gehör täuschte ihn nicht: Im fernen Dorf hatten die Kirchenglocken wieder zu läuten begonnen die Mitternachtsmesse war aus. Er gab Prinz, dem Pferd, ein Zeichen, und dieses wieherte zum zweiten Mal: „Liebe Freunde, unsere Revolutionsfeier wird bald vorbei sein. Die Mitternachtsmesse der Menschen ist aus, was bedeutet, dass auch unsere Frist abgelaufen ist. Da wir leider noch keinen richtigen Plan für die Erhaltung unserer Freiheit entworfen haben " In diesem Augenblick ertönte ein dumpfer Knall: Der Sturmwind hatte das offene Fenster zugeschlagen, und ich erwachte aus meinem Traum die Revolution der Tiere verblasste und löste sich auf im Dunkel der Nacht…
Lislott Pfaff
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