Rettich, schmackhafter Kaminputzer für den Unterleib
Wahrscheinlich kann man die Ausnahmen vernachlässigen, wenn man feststellt, dass alle Frischprodukte, die wir uns in möglichst unveränderter Form zuführen, zugleich Gesundbrunnen und sogar Heilmittel sind. Das trifft auch auf Kartoffeln zu, die man zwar kochen muss – man sollte sie nur nicht auskochen, sondern dämpfen, damit der Mineralstoffgehalt intakt bleibt.
„Lasst die Nahrung eure Heilmittel sein“, empfahl Hippokrates (460−375 v. u. Z.) – nach rund 2400 Jahren ist seine Empfehlung leider weitgehend in Vergessenheit geraten. Eines dieser Heilmittel ist der aus Vorderasien stammende Rettich (Radieschen, Radix), eine in unserem Speiseplan eher randständige Erscheinung zwar, die man aber nicht einfach der kleinen Kohlfliege oder der Rettichfliege überlassen sollte.
Je nach Jahreszeit fallen die einzelnen Rettichsorten an. Die kleinen „Eiszapfen“ gibt es bereits ab März. W eisser und rosafarbener Mai-Rettich wird logischerweise im Mai, weisser Sommerrettich wie das „Sommerwunder“ im Sommer und schwarzer oder violetter Herbst- und Winterrettich entsprechend später geerntet. Die dunklen Sorten schmecken herzhafter und schärfer als die Frühlingssorten. D ie würzigsten Rettichwurzeln kann man ab Oktober aus dem lockeren, humosen Boden ziehen und sein eigenes Oktober- oder Novemberfest (mit Weisswurst und Bier) veranstalten.
Die Heilwirkungen
Wenn es stimmen sollte, dass Bier rundlich macht, dann ist Rettich dazu erst recht sinnvoll: Denn man sagt dem Rettich nach, er reinige innerlich die dicken Menschen und vermindere die schädlichen Säfte der Eingeweide. Der Meerrettich seinerseits gilt als reinigend bei Darmpilzen. Doch schadet Rettich laut Hildegard von Bingen einem kranken und ausgetrockneten Menschen. Bei fleissigen Biertrinkern besteht die Austrockungsgefahr weniger . . .
Ähnlich schreibt Rudolf Fritz Weiss in seinem „Lehrbuch der Phytotherapie“: „Ganz allgemein kann man sagen, dass zarte, asthenische (schmalwüchsige, schwache. Red.) Persönlichkeiten durch den Rettich Beschwerden bekommen werden, während pyknische (kräftige, gedrungene) und plethorische[1] Konstitutionen mit Körperüberfülle vortrefflich auf ihn reagieren können. Diese brauchen eben einen stärkeren Reiz. Das Einsatzgebiet sind chronische Gallenwegsstörungen mit Dyskinesie (Fehlfunktionen) der Gallenwege und einer Neigung zu Verdauungsbeschwerden mit Obstipation. Die günstige Wirkung des Rettichs erfolgt über die Beeinflussung des Darmes und hat eine günstige Wirkung auf Galle und Leber.“ Und Pfarrer Kneipp pries den Rettich bildkräftig: „So wie der Wirt die Lumpen herauswirft, wirkt der Rettich auf den Magen. Er ist ein echter Kaminputzer für den Unterleib.“
Schwarzer geschabter Rettich mit Kandis gilt als vorzügliches Linderungsmittel bei Keuchhusten. Dazu schwarzen Winterrettich aushöhlen und mit Kandiszucker füllen. 24 Stunden ziehen lassen. Dann den Saft löffelweise einnehmen.
Rettich als Hustensaft
In der Naturheilkunde gibt es viele Rezepte für die Herstellung eines Hustensaftes aus einem weissen oder schwarzen Rettich; das Timing stimmt ja genau, da die gehaltvollsten Rettiche ausgerechnet zu Beginn der grossen Hustensaison reif werden. Man höhlt einen Rettich von oben her aus, füllt Honig in die Höhle und lässt den Honigrettich, dessen Aussehen an ein Vanillecornet erinnert, einige Stunden an einem warmen Ort stehen. Der abgeschnittene „Kopf“ des Rettichs kann als Deckel verwendet werden. Dann wird der Honig löffelweise genossen – und man entdeckt schöne Begleitumstände von Hustenanfällen und/oder Erkältungen. Die Rettichhülle kann selbstverständlich ebenfalls gegessen werden − man wird sie in dem Fall schälen.
Eine weitere Zubereitungsart des Hustenmittels, das früher auch zur Linderung von Keuchhusten eingesetzt wurde, ist diese: Der Rettich wird in dünne Scheiben geschnitten und diese im Wechsel mit dem Honig in eine Schüssel geschichtet. Diese scharf-süsse Schichtenfolge wird zugedeckt mindestens 8 bis 10 Stunden ziehen gelassen. Der bakteriostatische (bakterienhemmende) Saft, der sich gebildet hat, wird über etwa 24 Stunden verteilt eingenommen. Danach sollte der Saft wieder frisch zubereitet werden. Er wirkt nicht allein bei (Reiz-)Husten, sondern auch bei Hals- und Brustverschleimungen.
Variantenreiche Salate
Auch bei normalem Konsum entfalten Rettiche ihre guten Seiten, inklusive das zartere Radieschen, das mit dem Rettich verwandt ist; es hat ähnliche Eigenschaften. Man verwendet die Radieschen als würzende Zutat zu Salaten oder, in Scheiben geschnitten, auf einem Stück währschaftem Brot. Wie gemacht für starke Persönlichkeiten sind die grösseren Rettichwurzeln, von denen es viele Sorten gibt, mit ihrem unterschiedlichen Gehalt an Senfölen. Die Schärfe ist wohltuend.
Man kann die leuchtend roten Rettichkügelchen bei der Salatzubereitung (in Scheiben schneiden, hobeln oder raffeln) durch Zugabe von etwas Rahm, Sauerrahm oder Joghurt mildern. Einen gewissen bereichernden Neutralisationseffekt haben auch Salz, Gurken, Apfelstreifen oder ein milder Käse, zum Beispiel Emmentaler. Auch Honig findet man oft in delikaten Rettichsalaten. Dill passt als Gewürz zum Rettich bestens. Die Marinade kann aus Weinessig, Öl, Salz, Pfeffer und vielleicht etwas Schnittlauch bestehen.
Rettichsalat mit Gurken 1 weisser Rettich Den geschälten oder geschabten Rettich und die geschälte Gurke in dünne Scheiben oder mit dem Rettichschneider in Spiralen schneiden. Äpfel in Streifchen schneiden und mit dem Zitronensaft beträufeln. Den Rettich, die Gurke und die Apfelstreifen mischen. Für die Sauce Apfelsaft mit Essig und Honig verrühren. Mit Salz, Pfeffer und Tabasco würzen. Öl mit einer Gabel unterschlagen. Schnittlauch in Röllchen schneiden und unter die Sauce rühren. Die Sauce über den Salat giessen und vorsichtig untermischen, kurz durchziehen lassen. |
Meerrettich-Salat
Über 150 Jahre alt ist das nachstehende Rezept. Die Quelle: „Neues Berner Kochbuch oder Anleitung, die im gewöhnlichen Leben sowohl als bei Fest-Anlässen üblichen Speisen auf die schmackhafte Art zuzubereiten; nebst einer bildlichen Darstellung, wie die Gerichte auf dem Tisch gefällig zu ordnen sind“, herausgegeben von L. Rytz, geb. Dick:
„Man reinigt den Meerrettich von der Rinde, reibt ihn am Kässchaber, giesst ein paar Löffel heisse Fleischbrühe daran, lässt ihn einige Minuten zugedeckt stehen, und macht ihn mit Pfeffer, Öl und Essig an. Oder man lässt in einem Tüpfi ein Stückchen frischen Anken schmelzen, thut den geschabten Meerrettich mit ein paar Löffel Fleischbrühe darein, lässt ihn ein paar Minuten kochen, und beim Anrichten ein paar Löffel Essig darunter.“
Radikal
Der Rettich beziehungsweise sein lateinischer Name (Radix) hat seit geschichtlichen Zeiträumen nicht allein eine gesundheitliche, sondern auch eine sprachliche Bedeutung: Das Wort „radikal“ kommt vom lateinischen Wort „radix“, auf Deutsch: „Wurzel.“ Jeder Mensch ist in einer bestimmten Gedankenwelt, Tradition und Weltanschauung verwurzelt. Deshalb ist er noch lange kein Rettich, aber offenbar so etwas wie ein Radikaler. Der Begriff wird allerdings ausschliesslich für Menschen benutzt, die einer anderen Weltanschauung angehören bzw. die in einer anderen Gedankenwelt als der üblichen verwurzelt sind, wobei man dann eine gewisse Gewalttätigkeit und Rücksichtslosigkeit heraushört. Ausgerechnet der „radikale“ Rettich aber ist es, der beim Umgang mit diesem Begriff etwas milder stimmt.
Walter Hess
[1] Medizinisch steht Plethora für einen vermehrten Blutandrang.
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