... denn es war ein heisser Augusttag: Die Wespe
Autorin: Lislott Pfaff
Sie war glücklich. Denn es war ein heisser Augusttag, die Sonne hüllte ihren Körper in wohlige Wärme, und im Garten lockte ein süsser Saft. Elegant landete sie auf dem schmalen Grat des hohen Glaszylinders, balancierte mit ausgebreiteten Flügeln, um den aufsteigenden Duft geniesserisch einzusaugen. Sie musste der Quelle dieses Duftes unbedingt näher kommen ...
Gefüllt mit gelbem Süssmost aus garteneigenen Äpfeln standen die Gläser auf dem runden Tisch. Ringsum sassen ein Dutzend Frauen, ehemalige Klassenkameradinnen. Sie waren bereits beim Thema Grosskinder angelangt. Wie kleine Bälle schwangen die Worte hin und her über den grossen Glaskrug mit dem bernsteinfarbigen Getränk. „Jetzt sind wir doch in dem Alter, da man die Freuden des Lebens noch geniessen sollte.“ − „Wenn man noch kann, trotz des Alters ...“ Lachen spritzte auf, Erdnüsse und Pommes Chips wurden zwischen volle oder schmale, gelassen gewölbte oder resigniert gesenkte Lippen gesteckt ...
„Ah, diese Wespen!“ Eine sorgfältig manikürte Hand griff nach dem leeren Glas, in dem sich die Wespe allein nach unten tastete. Ihre Kolleginnen kamen scharenweise angeflogen, zeichneten Ellipsen und Spiralen, vollzogen gewagte Sturzflüge und weiche Landungen. Sie wollten mithalten beim Trinkfest der Menschen, die flinken Wespen, stürzten dabei oft in den Abgrund der Gläser und zappelten dann in tödlicher Angst in einem goldenen See, aus dem sie sich nicht mehr retten konnten, weil die Kraft fehlte. Manchmal tauchte ein barmherziger Löffelstiel in ein Glas, um eine Ertrinkende der Freiheit zurückzugeben. Diese liess dankbar ihre hauchdünnen Flügel vibrieren, bis sie wieder trocken waren.
Die einsame Wespe war langsam an der glatten Wand hinab gekrochen, hatte ihre Fühler suchend ausgestreckt − dort unten, ganz unten roch sie die letzten Tropfen Süssmost im leergetrunkenen Glas. Sie flog nicht überstürzt darauf zu; sie hatte Erfahrung und ging mit Umsicht vor bei diesem Abenteuer. Schon kostet der Saugrüssel das erste Tröpfchen − ah wie herrlich! −, da spürt sie, wie sich der Boden , auf dem sie sich niedergelassen hat, bewegt ... Schwungvoll wird sie nach oben gehievt und ist gleich darauf gefangen im gläsernen Käfig des auf den Kopf gestellten Trinkgefässes. Verwirrt sucht sie einen Ausweg, prallt ab an der Rundung ihres durchsichtigen Gefängnisses, nimmt einen neuen Anlauf, um nach oben auszuweichen, wo sie die blaue Freiheit schimmern sieht − vergeblich. Immer wieder stösst sie gegen die unsichtbare Mauer, welche sie umgibt. Ihre Flügel beginnen zu schmerzen von den harten Schlägen gegen diese Mauer, ihre Verwirrung steigert sich zur Panik.
Nun liegt sie auf der Tischplatte, erschöpft, zitternd, nichts mehr begreifend. Sie kennt die Todesgefahr des gefrässigen Vogelschnabels und der starr machenden Kälte, sie weiss die Wege zwischen ihrem Nest und den Orten, wo sie Nahrung findet, hat gelernt, die Gifte des Menschen zu meiden und sich trotzdem an den Resten seiner Gelage zu laben. Das aber, diese tödliche Enge ohne Fluchtmöglichkeit, das versteht sie nicht, hat sie noch nie erlebt ... Es ist schlimmer als alle Gefahren, denen sie bisher entronnen ist. Vor Angst gelähmt, bleibt sie schliesslich reglos liegen.
Und nochmals ergreift die sorgfältig manikürte Hand das umgestülpte Glas, hebt es geschickt einen Millimeter weit hoch und senkt den Rand langsam, gezielt auf den Wespenleib hinab. Scharf gräbt sich der Glasrand zwischen die gelben und braunen Streifen. Die Wespe krümmt sich, spürt den knirschenden Schmerz ... Noch ein Beben der Flügel, ein Zucken der Beine − ein paar menschliche Sekunden verstreichen, die für die Wespe Stunden sind. Dann liegt der schlanke Leib entzweigeschnitten auf der weissen Unschuld des Gartentisches. Mit einer raschen Bewegung fegt die sorgfältig manikürte Hand die beiden Hälften der massakrierten Wespe auf den sorgfältig geschnittenen Rasen.
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