Vor Sonnenaufgang in Zürich
Autorin: Rita Lorenzetti
Heute will ich die Zeit bis zum Sonnenaufgang wieder einmal bewusst erleben. Ich verlasse das Haus kurz nach 7 Uhr und streune in der unmittelbaren Umgebung herum. Wie ein Hund. Im Geschäftshaus, unseren Reihenhäusern gegenüber, brennt schon Licht. Die Kantinen-Küche ist hell erleuchtet. Ich kann 5 Köchen zuschauen, wie sie im Trab sind und Vorbereitungen für das Mittagsmahl treffen. Ihre hohen weissen Hauben tanzen.
Noch immer ist Nachtschwärze am Himmel über der Stadt Zürich. Doch zur grossen Überraschung haben sich die Wolken, die ich beim Aufstehen vorgefunden habe, fast alle verzogen, und über mir leuchten die Sterne. Von ihnen fühle ich mich gehalten. Wir grüssen einander.
Aus den Kaminen steigen Räuchlein auf. Raben kreischen. Das Tram fährt ein. Frauen und Männer eilen ihren Arbeitsorten zu. Einige lachen und schwatzen angeregt. Ich gehe ans Limmatufer, laufe ostwärts. Blesshühner und Enten machen sich hier bemerkbar. Am Himmel sehe ich die dünnen Wolken nach Norden abziehen. Jetzt sind sie wie zu einem grossen Flügel formiert. Ein Engelsflügel? Das Licht kündigt sich an. Der Himmel wird türkisblau, etwas gläsern. Später zieht ein rosa Licht einher und erhellt die Waldkanten am Zürichberg. Dann mache ich gelbes Licht aus. Aber es vergeht noch eine weitere Stunde, bis mir die Sonne ins Antlitz schaut.
Im Gegenlicht erscheinen Bäume, Häuser und mir entgegenkommende Menschen wie schwarze Scherenschnitte. Als Kontrast flackern Autolichter nervös über die zweistöckige Limmatbrücke und die Strassen rechts und links des Flusses. In kurzen Intervallen braust die S-Bahn in den Tunnel nach Oerlikon. Die Unruhe nimmt zu. Jogger keuchen an mir vorbei. Eltern stossen ihre schlafenden Kinder Richtung Kinderhort. Aggressive Velofahrer drängen Fussgänger zur Seite. Einige Mitmenschen grüssen, andere gehen schlaftrunken einher. Wie immer, stehe ich auf der Höhe des Wipkingerparks eine Weile still und schaue dem wirbligen Weg des Wassers zu. Hier kann ich lauschen.
Auf dem Rückweg ist es hell genug, dass ich die Tafel am Hardturm lesen kann. Dieser bewohnte mittelalterliche Wohnturm gehört zu den ältesten Gebäuden von Zürich. Nur gerade die Spitze seiner Wetterfahne überragt die neue Wohnsiedlung Züri-West. Und einst war er ein Kontroll- und Wehrturm.
Alt und neu, Urbanität und Natur, Stille und Hektik. Das ist mein Lebensumfeld, mein Standort, von dem aus ich im Blogatelier berichten werde. Heute also zum ersten Mal.
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