Die Glokalisierung als Reaktion auf die Globalisierung
Autor: Walter Hess
Aus der Art unseres Konsumverhaltens ergibt sich die Konsumkultur, und diese ist auch von geschichtlicher beziehungsweise regionalgeschichtlicher Bedeutung. Die Rolle und Eigenart des Konsums in einer Region – das kann ein Land, eine Provinz, eine Subregion oder eine historische Landschaft sein – ist ein klassisches Thema der historisch-beschreibenden Volkskunde. Die Eigenarten des Austauschs von Konsumgütern sind also ein wichtiger Bestandteil der Totalgeschichte.
Im Moment ist wegen des überreichlichen Warenangebots und der damit verbundenen Arbeitsplätze ein eigentlicher Konsumterror vorhanden. Das Konsumieren wird ebenso wie das Kranksein zur Bürgerpflicht (siehe Blog vom 5. Juli 2007), alles im Interesse von Gewinnaufhäufungen und Arbeitsplatzsicherungen, wenn nötig auf Kredit. Der umworbene Konsument bestimmt mit seinem Einkaufsverhalten den Wandel von Wirtschaft, Politik, Kultur und Gesellschaft wesentlich mit, wiewohl er umgekehrt selbstverständlich davon auch beeinflusst wird. Mit solchen Fragen hat sich der in Zofingen aufgewachsene und heute an der Universität Leipzig lehrende Hannes Siegrist in einer fundierten Arbeit über die „Konsumkultur des 20. Jahrhunderts in regionalgeschichtlicher Perspektive“ befasst (Untertitel: „Zwischen Verräumlichung, Vergesellschaftung und Individualisierung“). Der bemerkenswerte Text findet sich im Buch „Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18.−20. Jahrhundert)“, Frankfurt a. M. 1997.
Aus familiären Gründen kenne ich den Autor, der geschäftsführender Direktor des Instituts für Kulturwissenschaften der Leipziger Universität ist. Wir nehmen die zwar eher seltenen Begegnungen (letztmals am 7. August 2005 bei uns in Biberstein) jeweils für lebhafte Gespräche wahr. Es geht meistens um die Spannungsverhältnisse zwischen der grossen Weltpolitik und dem persönlichen Lebensstil, eine faszinierende Thematik, die auch in meinem Buch „Kontrapunkte zur Einheitswelt“ zum Ausdruck kommt. Sie ist gewissermassen auch zum Leitthema unseres Verlags geworden (bitte beachten Sie unsere Subskriptionsangebote): Dem Thema Konsum nimmt sich Heinz Scholz’ Brevier „Richtig gut einkaufen“ an. Und das 3. Buch aus der Verlag Textatelier.com GmbH beschreibt die Aspekte einer Region („Bözberg West“, Autor: Heiner Keller) exemplarisch; auch darin geht es um Konsum, Geld und Subventionen als einer Spezialform der Kunst des Melkens, die sich nicht allein in der Landwirtschaft findet. Die Melktechnik ist allerorten ständig perfektioniert worden.
Die Universalisierungs- und die Partikularisierungsthese
Bei der Betrachtung des Konsums zwischen Regionalisierung und Globalisierung unterscheidet Hannes Siegrist zwischen der Universalisierungs- und der Partikularisierungsthese.
Die Universalisierungsthese postuliert, dass das Kaufen, Gebrauchen, Verbrauchen und Besitzen von alltäglichen Verbrauchsgütern und langfristigen Konsumgütern in der modernen arbeitsteiligen Wirtschaft und Gesellschaft der Moderne immer weniger durch die natürliche Ressourcenausstattung, die traditionelle Wirtschaftsstruktur und die materielle Kultur im Rahmen der Mentalitäten eines Territoriums (Gemeinde, Region oder Nation) bestimmt ist. Die ehemals territorial begrenzten Konsumkulturen werden aufgeweicht, überlagert und aufgelöst. Waren aus der ganzen Welt überschwemmen den Markt: Kleider aus China, Reis aus Thailand, Bananen und Kaffee aus Afrika, grüne Äpfel aus Südafrika, Hormonfleisch aus den USA, Möbel aus Skandinavien usw. Der Konsum wird ortlos, regions-indifferent, hat also keinen Bezug zur Region mehr. Er steht zunehmend für universelle zivilisatorische Werte, ist von marktbeherrschenden Namen (Nike, Sony, Toyota, Nestlé, Coca Cola, Novartis usf.) geprägt.
Die Partikularisierungsthese ihrerseits, die auch Singularisierungsthese oder Differenzierungsthese genannt wird, betont, „dass manche Güter und Konsumpraktiken auch in der modernen Konsumkultur orts- und raumspezifische (lokale, regionale, transnationale, zivilisationstypische) Bedeutungen tragen und Funktionen übernehmen“ (Siegrist). Sie sind für die regionalen Bedürfnisse hergestellt und Zeichen für die Eigenschaften und Werte der Region oder des Regionalen, etwa ein „Elfinger“-Wein, ein Walliser Roggenbrot, Freilandeier ab Hof, Chüttiger Rüebli (Küttiger Karotten), St. Galler Bratwürste aus der Dorfmetzgerei usf.
Homogenisierung und Polarisierung
Tatsächlich gibt es beide der erwähnten Konsumwelten nebeneinander, wobei sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts offensichtlich die amerikanisierende, europäisierende, verwestlichende, veröstlichende und schliesslich die globalisierende Rolle des Konsums immer stärker durchgesetzt hat. Diese Homogenisierung, die zum Multikultibrei geworden ist, hat in der wissenschaftlichen Welt ebenfalls verschiedene Thesen heraufbeschworen:
ÂÅ“ Die Homogenisierungsthese (nach George Ritzer: „Die McDonaldisierung der Gesellschaft“) vertritt die Auffassung, „dass die Prinzipien der Fast-Food-Restaurants immer mehr Gesellschaftsbereiche in Amerika und in der ganzen Welt beherrschen“.
ÂÅ“ Die Polarisierungsthese geht davon aus, dass sich gegen die homogenisierende globale amerikanische Massenkultur kämpferische Gegenkulturen ausbilden (Benjamin R. Barber: „Coca Cola und heiliger Krieg. Wie Kapitalismus und Fundamentalismus Demokratie und Freiheit abschaffen“, Bern 1996).
ÂÅ“ Der von Roland Robertson eingeführte Begriff der Glokalisierung (englisch: Glocalization) drückt aus, dass das Lokale (womit auch das Regionale und Nationale gemeint sind) nicht nur eine Reaktion auf die Globalisierung darstellt; vielmehr bringt nach dieser These die Globalisierung auch wieder das Lokale hervor: Homogenisierung und Heterogenisierung (im Sinne von Verschiedenartigkeit) „gehen Hand in Hand (...), weil globale Anbieter ihre Produkte auf differenzierte lokale Märkte zurechtschneiden (‚divertisty sells’) und weil immer mehr lokale Symbole nicht nur der USA, sondern auch aus der so genannten Dritten Welt oder Peripherie global verbreitet werden“ (Siegrist).
ÂÅ“ Das damit verwandte Konzept der Kreolisierung des Kulturanthropologen Ulf Hannerz (in: „Kokoschka’s Return. Or, the Social Organization of Creolization“, 1996, Seiten 65−78) schliesslich geht davon aus, dass kulturelle Vermischungsprozesse nicht nur durch den Druck des Zentrums, sondern durch ein komplexes Zusammenspiel von Zentrum und Peripherie zustande kommen. Diese Kreolisierung steht für eine Kombination aus Verschiedenheit, Verbundenheit und Innovation im Kontext globaler Zentrum-Peripherie-Beziehungen. Dabei bezieht sich diese Verschiedenheit nicht auf verschiedene homogene Kulturen, sondern meistens auf neue Verbindungen getrennter Traditionen.
Die moderne Konsumkultur
Nach den Feststellungen von Hannes Siegrist sind Globalisierung und Glokalisierung keine kürzlich aufgetauchten Ereignisse, sondern sie waren seit der frühen Neuzeit zentrale und vorantreibende Momente in der Herausbildung der modernen Konsumkultur: „Die neuzeitliche Konsumgeschichte beruht über weite Strecken darauf, dass Güter überregional und weltweit ausgetauscht und dabei im jeweiligen Kontext mit neuen Bedeutungen und Funktionen versehen werden. Man denke nur an die Geschichte des Zuckers, Kaffees und Tabaks, der Kartoffel und der Baumwolle, deren Funktion und Bedeutung je nach Zeit und Ort erheblich variierten“ (Quellen: Roman Sandgruber: „Bittersüsse Genüsse. Kulturgeschichte der Genussmittel“, Wien 1996; Sidney Mintz: „Die süsse Macht. Eine Kulturgeschichte des Zuckers“, Frankfurt am Main 1987 usf.).
Die Globalisierung hat die „Region“ also wieder aufgewertet, nach meiner Auffassung eine unbeabsichtigte und begrüssenswerte Gegenreaktion. Ich selber bin beim Konzipieren meines Buchs über die „Einheitswelt“ zur Forderung nach einer vermehrten Betonung des Regionalen gelangt, als es darum ging, Lösungen aufzuzeigen, wie der globalen Nivellierung ganz unten entronnen werden kann. Wahrscheinlich stellt sich dieser Prozess der Zuwendung zum Regionalen von selbst ein, zumal das globalisierte Disneyland, in denen Konsumtrottel blindlings zu schlucken haben, was ihnen vorgesetzt wird, ja wohl für denkende Menschen kein erstrebenswertes Ziel sein kann, selbst wenn man in dieser kindischen Umgebung noch zwischen der Micky-Maus- und der Donald-Duck-Rolle wählen kann.
Das Individualitätsstreben reicht tief: Die Regionalisierung wird in der Wissenschaft „als kulturelles und gesellschaftliches Raum-Konstrukt“ begriffen. Und in kulturwissenschaftlicher Perspektive erscheint die Region als „Sinnordnung, die dem Raum seinen bestimmten Gehalt und seine eigentümliche Fügung“ (Siegrist) gibt, das heisst, die Region wird auch gestaltet, und das ist wahrscheinlich auch das Faszinierende daran, zumal die Einflussmöglichkeiten mit zunehmender Distanz immer geringer werden. Mit anderen Worten: Die Region bietet persönliche Entfaltungsmöglichkeiten.
Die Regionalisierung des Konsums
Innerhalb dieser Region geschieht auch die „Regionalisierung des Konsums“, die in eine regionale Sinn-, Handlungs- und Güterordnung eingeordnet ist. Sie ist nach den Feststellungen des Leipziger Wissenschaftlers territorial verankert und begrenzt oder mit dem Namen einer Region verbunden. Die Akteure bestimmen, was zur regionalen Kultur und Lebensweise gehört. Das Regionalisieren geht fliessend in den Regionalismus über, in ein zusammenhängendes, geschlossenes ideologisches System aus regionalen Normen, Prinzipien, Einstellungen und Weltbildern. Bestimmte Güter und Gebrauchsformen werden dem regionalen Alltag zugeordnet, andere bei herausgehobenen Anlässen und Festtagen im Jahreskalender inszeniert und sakralisiert.
Selbstverständlich sind die immer zahlreicher werdenden Konsumgüter heute keine lokalen oder regionalen Spezialitäten, und der „Konsumregionalismus“, der durch die Vertreibung von Kleinläden, Gaststätten mit Lokalbezug usf. weitgehend verloren gegangen ist, müsste sich zuerst wieder zurückbilden. Doch ist ein solches Zurück zur guten alten Zeit unmöglich und illusorisch, wie Hannes Siegrist mir gegenüber betonte. Die Zeit geht immer vorwärts, aber dieses Vorwärts kann eine neue Ausrichtung erhalten und – meine persönliche Auffassung – durchaus wieder Zustände anvisieren, die es schon einmal gab, zum Beispiel durch die Förderung von kleinbäuerlichen Betrieben statt der weiteren Forcierung des Grossbauerntums nach den Vorstellungen von Monsanto und Syngenta sowie den globalisierungsbesessenen politischen Behörden, welche die uniforme Landwirtschaft mit der damit verbundenen Gentechnologie tatkräftig fördern, die wegen der Auswirkungen ihrer Monotonie wie ein Patient auf der Intensivstation betreut werden muss. Jede Gleichförmigkeit ist krank.
Auswüchse der Massenkultur
Aus meiner persönlichen Sicht gebärt die globale Vermassung ihre eigene Massenkultur, die zwingend mit Auswüchsen belastet ist (Industrienahrung mit Chemikalienzusätzen, Intensivlandwirtschaft abseits natürlicher Kreisläufe mit Agrochemie und/oder gentechnologischen Eingriffen, Krankheitspflege statt Heilungen, konformistische Informationsvermittlung durch Medien im Interesse des Ganzen usf.).
Gegen den weltweiten Handel und insbesondere den Warenbezug aus Armutsländern, die dringend auf Absatzmöglichkeiten angewiesen sind, ist nichts einzuwenden, im Gegenteil. Ich berücksichtige solche Quellen bewusst und bevorzuge sie. Es geht also nicht um einen überbordenden Konsumregionalismus, um keine Aufforderung nur „Einheimisches“, „Regionales“ zu kaufen, wie es während der Weltwirtschaftskrisen üblich und vorgeschrieben war, abgestützt auf kriegswirtschaftlichen Dirigismus mit Rationalisierung. Das Ziel muss vielmehr sein, das individuelle Schaffen und Produzieren zu unterstützen, um Gegensteuer zur Massenkultur, zur Verarmung im Bereich der Lebensmittel und Gebrauchsgüter und zur Abhängigkeit von marktbeherrschenden Grossanbietern zu geben.
Bemerkenswert in Siegrists Schrift ist der Hinweis auf die Zustände nach 1945 im Macht- und Einflussbereich der Sowjetunion, so etwa in der damaligen DDR: „In der staatssozialistischen Plan-, Zentralverwaltungs- und Versorgungswirtschaft wurden die Produktion, die Verteilung und der Gebrauch der Konsumgüter nach universellen Regeln gestaltet.“ Und was diese globalen Regeln bedeuten, wird so beschrieben: „Regionale Spezialitäten und Konsumpräferenzen wurden ignoriert oder als Ausdruck ‚reaktionärer’, ‚kapitalistischer’ und ‚imperialistischer’ Traditionen marginalisiert und bekämpft.“
Diesen interessanten Feststellungen möchte ich beifügen, dass solche Prozesse heute nicht mehr durch staatliche Verordnungen ablaufen, sondern durch die Macht der Grosskonzerne mit ihren Werbekanonaden, welche die Möglichkeit haben, lokale oder regionale Anbieter ins Abseits zu drängen oder aus dem Wettbewerb zu werfen, um dann unbehindert schalten und walten zu können. Wir sollten uns genau das nicht bieten lassen.
Die einzigen, die Widerstand gegen solche Abläufe leisten können, sind wir, die im Regionalen verhafteten Konsumenten, die das Besondere schätzen – selbstverständlich auch dann, wenn dieses aus fernen Ländern kommt, aus selbstbewussten Ländern, welche die Glokalisierung über Globalisierung stellen.
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