Verständnis für den alten Henry
Autor: Emil Baschnonga
„Er ist einfach ins Wasser gelaufen“, wiederholte der Schüler fassungslos. Sein Freund und er hatten den alten Mann bei East Molesey aus der Themse gezogen. Eine Schwester vom nahen Altersheim kam und beugte sich über den Mann. „Ja, er gehört zu uns“, bestätigte sie. Der Polizist notierte die Personalien des Toten. Der Arzt verabschiedete sich. Jemand liess das Wort „senil“ fallen. Die Menge verstreute sich. Zurück blieben die Fussstapfen auf der sacht abfallenden Sandbank. Neben der Spur hatte sein Spazierstock Löcher und Streifen hinterlassen. Trieb der Stock, noch von der Strömung mitgetragen, meerwärts, oder hatte er sich bereits im Ufergestrüpp verfangen?
Nach dem Mittagsschläfchen zog der alte Mann wie gewohnt seine Taschenuhr auf. Das Teegeschirr klirrte. Zufrieden blinzelte er gegen den heiteren Himmel. Gestern hatte ihn der Regen vom Gang ins Pub abgehalten. Die Schwestern liessen es nicht mehr zu, dass er sich bei schlechtem Wetter vom Heim entfernte. Er könnte ausrutschen und sich ein Bein brechen. Seine straff gespannten Halssehnen zuckten fortwährend. Ein einziges Glas Bier, schluckweise genossen, erwies sich dagegen als beste Arznei. Tee oder Wasser linderten das atembeengende Zucken nur vorübergehend. „Nur nicht ungeduldig, Henry“, beschwichtigte die Schwester, als sie ihm aufhalf. Nach dem Liegen schmerzte der Rücken, und er konnte sich nicht mehr bücken. Er schwieg diesmal, als sie ihm die Schuhe wieder zu satt band. Etwas früher als sonst verliess er das Haus. Die Münzen, sorgfältig abgezählt, trug er lose in der Tasche. Aber das Pub war noch geschlossen. Deshalb wählte er den für seine Beine umständlicheren Uferweg. Durst quälte ihn. Er schluckte leer und seufzte. Manchmal bekam er ein Freibier, wenn er einige leere Gläser klirrend zusammenschob. Natürlich wusste er, dass der Wirt um seine Gläser bangte.
Beide durchschauten einander im besten Einvernehmen und achteten beiderseits, dass auf keiner Seite Missbrauch aufkam. Ab und zu setzte sich Therese an seinen Tisch. Immer klagte sie über Pension und Preise. Sie machte noch Figur und brauchte nicht zu dürsten. Ermattet unterbrach der alte Mann seinen Gang. Sobald Fred, Will oder der Pole aufkreuzten, liess ihn Therese achtlos zurück. Dem Polen war sie besonders zugetan, verabreichte er ihr doch nach kontinentaler Sitte einen Handkuss. Ausserdem offerierte er ihr Gin statt Bitter. Wenn sie ihr schrilles Lachen anstimmte, war es Zeit für ihn zum Aufbruch. Bis vor einem Jahr hatte er in diesem Kreis noch gerne seine Erinnerungen aufgefrischt. „Phantasierst wieder“, hatte ihm Fred einmal das Wort abgeschnitten. Seither blieb er sitzen. Man nahm ihn also kaum mehr zur Kenntnis.
Wieder zog sich der Muskelstrang um seinen Hals zusammen. Die Sonne glitzerte im Flussspiegel. Der Krampf raubte ihm den Atem und liess nicht locker. Niemand in Sichtweite, der ihm beistehen könnte. Die Atemnot trieb ihn ans Wasser. Vom Schmerz befreit sank er in die Tiefe.
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PS: Ich wollte Ihnen, lieber Leser, bloss noch sagen, dass dieses Tagebuchblatt 1973 geschrieben und damals in „Die TAT“ publiziert worden ist. Jetzt, nachdem ich ein bisschen älter geworden bin, verstehe ich den Henry noch besser.Hinweis auf weitere Blogs von Baschnonga Emil
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