D und CH: Wahlen, Abstimmungen und Kosmopolitismus
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
Die Völker wählten und stimmten ab: In Deutschland ging es am 18. September 2005 um die Zusammensetzung des Bundestags. Die staatstragenden Parteien CDU/CSU und SP verloren Wähler. Alle riefen sich nach geschlagener Schlacht zwar zum Sieger aus, aber niemand war mehr mehrheitsfähig. Und seither wird über Koalitionen in allen Grössen und Regenbogenfarben diskutiert und getalkshowt, dass sich die angehefteten Mikrofone biegen.
Und in der Schweiz fand am 25. September 2005 die Abstimmung über die Ausdehnung des Personenfreizügigkeitsabkommens auf die 10 neuen EU-Staaten und die Revision der flankierenden Massnahmen statt. Rund 56 % stimmten mit einem Ja. Ein Deutscher, der seit langem im Kanton Schwyz in der Schweiz lebt, dieses Land in den höchsten Tönen lobt und den wir am Sonntag besucht hatten, sagte kopfschüttelnd, als er vom Entscheid aus dem Fernsehen erfuhr: „Die Schweizer haben sich wieder anschmieren lassen.“ Wir haben viele Ausländer im Land, die mehr Zuneigung zur Schweiz haben als wir Schweizer selber, weil sie vergleichen können.
Sogar in Afghanistan wurde am 18. September ein Parlament bestimmt (250 Mitglieder); doch braucht man dort zum Auszählen Zeit bis etwa Mitte Oktober 2005. Bis dahin dürften auch unsere freundlichen deutschen Nachbarn mit ihrem Koalitionsgerangel ein Stück weiter sein. Sie können sehr gut zählen, wissen nur nicht genau, was das Volk überhaupt gemeint haben könnte. Wahrscheinlich ist es einfach unzufrieden.
Das Jekami
In der FAZ schilderte am 18. September 2005 Nils Minkmar die Lage in den Wahllokalen: „Jeder kann kommen, jede Stimme zählt gleich viel. Der letzte überschuldete Leistungsverweigerer und Schwarzarbeiter hat das gleiche Recht wie ein halb Berlin duzender Verbandsfunktionär oder gar jene Lichtgestalt der politischen Rhetorik dieses Wahlkampfs, die berühmte allein erziehende Krankenschwester. Und niemand protestiert dagegen. Mancher ist sogar stolz darauf.“
Ja, das ist Demokratie. Jeder kann mitmachen. Am Schluss hat man einige Summen aus individuellen Gedankengängen beisammen, und die in ihren Kanälen gefangenen Berufs-Interpreten orakeln dann über den Sinn des Ganzen und tun so, als ob ein einziger fester Volkswille in hochstrategischen, ausserordentlich ausgeklügelten Überlegungen ein Resultat aus einem Guss zurechtgezimmert hätte, in dem viele verschlüsselte Botschaften sind. Dabei gibt es in Tat und Wahrheit keine Volksseele. Völker bestehen aus Millionen von verschiedenen Seelen. Bei Wahlen und Abstimmungen reduzieren sie sich auf die Wahl einer Farbe oder auf ein Ja oder Nein. Oder man enthält sich, macht nicht mit. Auch das ist eine Meinungsäusserung.
Der Demokratie-Schein trügt
Oder ist das, was sich Demokratie nennt, nur eine Scheindemokratie? Martin Eitel schrieb kürzlich aus Deutschland, dieser übergrossen Schweiz, ans Blogatelier mit Bezug auf die Verhältnisse in seinem Lande eine persönliche Antwort: „Trotz der Möglichkeit, hin und wieder einmal bei Kommunal-, Landes- und Bundeswahlen abzustimmen, handelt es sich im Prinzip um eine Art Scheindemokratie. Denn Einfluss auf die Kandidatenlisten haben im Wesentlichen nur die etablierten Parteien und einige unbedeutende Parteien, während parteiunabhängige Kandidaten, abgesehen von Kommunalwahlen, so gut wie keine Chance haben. Das hat der in Speyer lehrende Prof. Hans Herbert von Arnim überzeugend dargelegt.
Das Grundproblem in Deutschland ist, dass entgegen der Verfassung (Art. 21. GG) und dem Parteiengesetz die Parteien nicht nur bei der politischen Willensbildung mitwirken, sondern sich praktisch den Staat unter den Nagel gerissen haben, indem sie ausser Parlamenten und Regierungen auch noch die wesentlichen Kontrollgremien wie Rechnungshöfe, oberste Bundesgerichte, öffentlich-rechtliche Medien unter ihre Kontrolle gebracht haben, indem sie dort die wesentlichen Posten unter ihren Parteigängern aufgeteilt haben. Und einen direkten Einfluss auf einzelne Fragen wie z. B. über Bürgerentscheide gibt es so gut wie nicht.
Aber auch die tatsächlich gewählten Abgeordneten haben nur begrenzten Einfluss. Sie können nicht bei allen Themen, über die Beschlüsse gefasst werden, vollständig informiert sein. Bei vielen Themen müssen sie sich letztlich auf die Angaben der Experten der Regierung verlassen, und deren Meinung wird im Wesentlichen auf den G8-Treffen und innerhalb der Trilateralen Kommission ausgemauschelt.
Insoweit muss sich der Bürger im Klaren darüber sein, dass es letztlich weithin ziemlich unerheblich ist, wo er bei Abstimmungen sein Kreuzchen platziert.“ Soweit das bemerkenswerte Schreiben.
Mit dem Volkswillen inkompatibel
Aus der Zurückdrängung des Staats im Rahmen der herrschenden neoliberalen Philosophie zugunsten von mehr Markt, mehr Wirtschaft, diesen heute dominanten Grössen, und den sich verstärkenden Mauscheleien wachsen dann Unentschlossenheit und Politikverdrossenheit heraus. Das Giga-Mauscheln findet auf globaler Ebene statt. Was soll das Mitmachen an der Urne unter solchen Umständen noch? „Die in Bern machen ja sowieso, was sie wollen“, heisst es in der Schweiz. Dabei haben wir es noch verhältnismässig gut, können uns zu allen möglichen politischen Geschäften verbindlich äussern, eine Besonderheit, weltweit betrachtet. Das Zitat bezieht sich auf den Interpretationsspielraum beim Umsetzen der Volksmeinung. Die deutschen Wahlen zeigen gerade, dass dieser gelegentlich schon fast unendlich ist.
Das Volk hat immer Recht, egal wie es wählen oder abstimmen möge. In der Demokratie müssen Volksentscheide akzeptiert werden; und das ist gut so. Aber man darf sich immerhin noch fragen, wie es dazu kommen konnte – die Interpretationen sind auch bei solchen Gelegenheiten frei. Dabei ist eine neue Form von Globalsteuerung zu berücksichtigen, die ein gesamtwirtschaftliches System anvisiert. Wer nicht mitmacht, wird mit Sanktionen bestraft, boykottiert; Individualismus wird überall immer weniger toleriert. Die Schweiz, die sich durch ihr Abseitsstehen von der EU noch relativ viel von individueller Freiheit herausnimmt, musste das über bilaterale Verträge einzurenken versuchen. Die sind nun unter Dach und Fach.
Im Prinzip gab es für die Schweizer keine andere Möglichkeit als dem ausgedehnten Personenfreizügigkeitsabkommen zuzustimmen, im vollen Bewusstsein, dass dies nicht im Interesse der werktätigen Bevölkerung des Landes sein kann, die ohnehin allmählich wegrationalisiert wird. Sonst müsste man nicht gleichzeitig mit verstärkten flankierenden Massnahmen die grössten Schäden abzuwenden versuchen. (Das vollständige Protokoll zum Freizügigkeitsabkommen ist im Internet unter http://www.admin.ch/ch/d/ff/2004/5943.pdf abrufbar.)
Krankhafter Kosmopolitismus
Wenn also der Kosmopolitismus aus einem Überlebenszwang heraus akzeptiert werden muss – sonst wird man wirtschaftlich an die Wand gedrückt – und damit die Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Nationalstaaten illusorisch werden, ist logischerweise auch die Demokratie am Ende. Und selbst die dahinter stehende Arbeitsplatz-Rechnung geht nicht auf. Das rücksichtslose Wirtschaftswachstum nach dem brutalen US-Stil frisst Arbeitsplätze (und die Natur auch gerade noch), zerstört also unsere Lebensgrundlagen, nützt nur den Konzernen und den Konzerngewaltigen bei einer zunehmenden sozialen Misère. Selbst die CDU/CSU erlag zunehmend den neoliberalen Tendenzen, die in Deutschland nicht gut ankommen, was sich auf das unerwartet schlechte Wahlergebnis ausgewirkt haben dürfte. Ich spüre das hinterfragende Bewusstsein auch an der begeisterten Aufnahme meines globalisierungskritischen Buchs „Kontrapunkte zur Einheitswelt“ in unserem liebenswerten nördlichen Nachbarland.
Die politisch gereiften Menschen möchten sich nicht weiter als dumm verkaufen lassen, wenden sich von den Regierungen und den grossen Parteien ab, die ihnen das alles eingebrockt haben. Sie suchen bei politischen Randerscheinungen Zuflucht, die dadurch immer mehr Bedeutung erhalten. Sie sorgen innerhalb des abgekarteten Spiels für etwas Opposition und bringen wieder etwas von der verlorenen Vielheit zurück.
Die Globalisierungs-Allmacht
Ob bewusst oder unbewusst, ob artikuliert oder nicht, jeder politische Entscheid steht heute im Zeichen der Globalisierung; die konzentrierte und konzertierte Desinformation der Menschen schafft die Voraussetzungen dafür. Überstaatliche Organisationen wie die EU sind wichtige Schritte auf dieses Ziel hin und werden als sakrosankt behandelt. Nationalstaaten werden ausgehöhlt und dann wahrscheinlich wegrationalisiert wie unprofitable Zweigniederlassungen von Grossbetrieben.
Politik und Medien haben uns bereits in Weltbürger umfunktioniert. Wir sind zum entstehenden globalen Dorf hin irregeleitet und darin integriert worden. Man hat uns zu einer konsumtauglichen, gleichgeschalteten Masse gemacht, die jetzt aber endlich aufzumucken beginnt. Sie setzt ihre Kreuzchen auf den Wahlzetteln nicht mehr ganz so brav wie einst dort, wo man es von ihnen verlangt.
Was aus den Arbeitsplatz-Hoffnungen wird
Das Arbeitsplatz-Versprechen hat an Wirkung verloren. Denn diese werden ja abgebaut. Das Rationalisierungspotenzial ist ja noch immer nicht ganz ausgeschöpft.
Ein paar Schlagzeilen aus den letzten wenigen Tagen gefällig?
20. 09. 2005: „Siemens baut mehr al 10 000 Stellen ab“
20. 09. 2005: „Nationalversicherung baut 140 Vollzeitstellen ab“
20. 09. 2005: „Siebel-Aktionäre klagen wegen Übernahme durch US-Softwareriesen Oracle“
21. 09. 2005: „Sony schrumpft sich gesund“: Jede 14. Stelle wird gestrichen (weltweit 10 000)
22. 09. 2005: „,New York Times’ baut in einem Jahr 500 Stellen ab“
22. 09. 2005: „Radikalkur für Delta Airlines: Lohnsenkungen und Abbau bis 9000 Stellen“
23. 09. 2005: „Telekom plant massiven Stellenabbau“ (in den vergangenen Jahren sind im Schnitt jährlich 10 000 Stellen weggefallen.
23.09.2005: Seit sich der Chiphersteller Infineon entschlossen hat, sein Stammwerk in München-Perlach zu schliessen, gehen viele der 800 Beschäftigten auf die Strasse.
... und so weiter.
Die Fortsetzung finden Sie täglich in Ihrer Zeitung.
Die Globalisierungs-Maschine frisst ihre Kinder in ihrer schrankenlosen Gier. Die Zwecklügen, die dazu führen, werden sich in Zukunft selber noch deutlicher enttarnen und an den Urnen ihre Folgen zeitigen – falls es bis dahin nicht gelingt, die Demokratie sterben zu lassen. Fussvölker mit einer eigenen Meinung stören den Globalisierungs-Gottesdienst nur. Und die neue Weltreligion kennt kein Erbarmen mit jenen, die von ihrem Papst und den Kardinälen den Bösen zugeordnet werden.
Hinweise auf Blogs zum Thema Globalisierung
22. 09. 2005: „Röpke: Das masslos überdehnte ‚Mass des Menschlichen’“
12. 09. 2005: „Belebende Töne in Dur: Regionalorganisation dreiklang.ch“
09. 09. 2005: „Henry David Thoreau und die Pflicht zur Ungehorsamkeit“
06. 09. 2005: „Die tödliche Gefahr der zentralistischen Globalisierung“
20. 08. 2005: „Alle Achtung beiseite – bei den fetten Manager-Katzen“
13. 08. 2005: „Die Glokalisierung als Reaktion auf die Globalisierung“
21. 07. 2005: „Übel aus dem Osten, aus dem Westen nichts Neues“
04. 07. 2005: „Bush-Rede: Ein Kommafehler im Dienste der Ehrlichkeit“
06. 05. 2005: „Globalisierung, OECD, G10 und die Beruhiger vom Dienst“
02. 04. 2005: „Der Neoliberalismus, ausrangierte Alte und der Papst“
01. 02. 2005: „WEF 2005: Schminke über Globalisierungspleiten“
31. 12. 2004: „Bilanz 2004: Überhaupt nichts im Griff“
Hinweis auf weitere Blogs von Hess Walter
Verkehrsmedizinische Untersuchung für Alte: das Auto-Billett
Aargau: Leben im freiesten Kanton des glücklichsten Lands
Reaktionen auf Blogs (158): Nachwehen zur Blatter-Wahl 5
Auf US-Befehl skandalisierte Fifa. Medien spuren unverzüglich
Reaktionen auf Blogs (157): Duftendes aus dem Ideentopf
Schweiz: Plädoyer für eine selbstbewusste, mutige Politik
Markwalders Kasachstan: Im Dienste der Destabilisierung
Reaktionen auf Blogs (156): Von Günter Grass, vom Lesen
Ein neues Umweltdebakel in Sicht: Solarpanel-Sondermüll
Gerhard Ammann: Naturaufklärer und Auenschutz-Pionier
Ulrich Weber: der Erfinder der 1. Bundesrätin ist nicht mehr
Der Zickzack-Kurs des Weltgeschehens: Desorientierung
Chaos-Praxis: Im Labyrinth der Erkenntnis-Widersprüche
Die Wirkungen von Staatsbesuchen: Hollande in der Schweiz