Vom Chaos, von Chaoten und ihren Theorien
Autor: Walter Hess
Das mechanistische Weltbild, dem ein grosser Teil der Wissenschaft noch heute huldigt, ist überlebt. Nach dem 17. Jahrhundert erklärten die meisten Physiker alle Naturerscheinungen auf der Basis der Mechanik. Sie waren den Ideen René Descartes’ (1596−1650) zugetan. Alles wurde zum Rad einer grossartigen Weltmaschine, in deren Umgebung Erfahrungen keinen Platz mehr hatten. Isaac Newton (1643−1727) schuf die dazu passenden mathematischen Formeln. Was nicht gemessen werden konnte, gab es nicht. Der Mensch seinerseits wurde in Körper und Geist aufgeteilt, wodurch die verhängnisvolle Entwicklung der Schulmedizin eingeleitet wurde. Und damit war die reduktionistische Welt der Mechanik geschaffen, aus deren Bann sich auch die heutige Wissenschaft noch nicht hinreichend befreien konnte.
So einfach mechanistisch ist es allerdings nicht, wie schon Albert Einstein (1879−1955) darlegte; die Dimensionen von Zeit und Raum sind nicht absolut. Daraus entwickelte sich dann die Quantentheorie, die auch die mikrophysikalischen Erscheinungen berücksichtigt. In der Natur ist alles subtil strukturiert, vielschichtig, umschlingend. Das trifft in etwas vereinfachter Form auch auf das Wirtschaftsgeschehen zu; das noch immer schlicht und ergreifend dem simplen mengenmässigen Wachstum huldigt, da dieses eine mathematische Grösse ist und obschon es keine Zukunft haben kann. Die Erde ist begrenzt. Die feiner nuancierten, gewissermassen mikroökonomischen Einwirkungen begreifen wir nicht.
Die Managementlehrer und Wirtschaftsberater erkannten am Ende des 20. Jahrhunderts allmählich die Komplexität, Diskontinuität und Dynamik in der Wirtschaft ansatzweise, ausgerechnet als sich diese zu globalisieren und zu dynamisieren begann. Da kam etwas viel aufs Mal zusammen. Den Managern und ihren Beratern lief die Sache aus dem Ruder, wie man ja nach all den Fusionen, Konfusionen und Zusammenbrüchen von Industriebetrieben weiss. Das daraus entstandene Chaos offenbarte sich in einer wachsenden Zahl von Konkursen, Groundings und Arbeitslosen. Aber das sei unbedingt nötig, trösteten die Chaoten das schwer geprüfte Volk, denn nur auf der Basis von einem Chaos könne Neues heranwachsen. Also: Chaos muss sein. Und Chaos ist gut.
Man löste sich von den gewachsenen Strukturen, die auf Rationalismus gründeten, aus der vermeintlichen Vorstellung also, die Sache dank rationalen (vernunftmässigen) Denkens im Griff zu haben. Merkwürdigerweise war das trotz allen Mängeln noch vergleichsweise einigermassen gut gelungen. Aber dann kam die Phase des Loslassens, des Umdenkens, der Neuorientierung, der Anpassung an neue Sitten. Es war auch die Phase der Zerstörung von Traditionen und der totalen Abschaffung von Erfahrungen, soweit diese noch übrig geblieben waren. Und so musste eine passende neue Theorie her: die Chaostheorie entstand.
Man sah ein, dass man nichts wusste, dass es keine objektive Wahrheiten und keine Linearitäten gibt. Wie ein Naturereignis bildete sich das fraktale Unternehmertum heraus: Die einzelnen, selbstähnlichen Teile des Unternehmens sind ein Abbild des Ganzen, genau wie das Blatt eines Baums alle Eigenschaften des Baums enthält. Die Natur wird mit solchen komplexen Strukturen meisterhaft fertig. Der Mensch weniger. Von den Chaostheorien bleibt meistens tatsächlich nur das Chaos übrig, das automatisch für schlanke und immer schlankere Strukturen bis zum Zerfall sorgt.
Ist dieses Chaos denn ein Naturgesetz? Wahrscheinlich schon. Die Entstehung und Ausformung der Erde, die noch lange nicht abgeschlossen ist, wie Vulkane, See- und Erdbeben sowie Erosionen lehren, hat mit einem Chaos begonnen. Und dieses musste sich ordnen, um zu dem zu werden, was wir heute unter Natur verstehen. Anhänger der Chaostheorie könnten daraus den verhängnisvollen Schluss ziehen, aus dem Chaos entstehe stets Grossartiges. Das stimmt vielleicht in dem Fall, dass der beschränkte Mensch seine Finger davon lässt und der Natur hinreichend Zeit zur Verfügung steht – Millionen von Jahren.
Auch die Natur ist zu den Chaoten zu zählen; sie bricht diesbezüglich geradezu Rekorde. Das Seebeben im Indischen Ozean hat ein riesiges Chaos verursacht. Viele menschliche Werke wurden in eine heillose Unordnung verwandelt. Tiere, die noch einen Naturbezug haben, konnten meist flüchten, die Menschen in der Regel kaum mehr und blieben unter den Fluten oder Trümmern. Aber niemand wird sich über dieses Chaos und das damit verbundene Elend freuen, weil daraus wieder Neues wachsen wird, vorerst nur nach menschlichem Mass und mit internationaler Hilfe.
Das Chaos in den asiatischen Küstengebieten wurde nicht inszeniert, nicht bestellt. Man muss es als unabwendbares Schicksal hinnehmen und das Leid ertragen. Es ist ein Naturereignis, das uns lehrt, dass wir auf einer dünnen Platte leben, auf einem Vulkan tanzen, den wir nicht beherrschen können. Wir sind nur durch eine brüchige Eierschale einigermassen geschützt. Der Vergleich mit dem Ei hinkt allerdings: Zwar ist die Erdkruste verhältnismässig etwa so dünn wie eine Eierschale, aber sie ist weniger kompakt. Schichten schieben sich unter- und übereinander, aneinander und voneinander weg. Dagegen können wir nichts tun, sondern nur die Bewegungen verfolgen und bei Gefahrenlagen vielleicht warnen.
Einflussreicher sind wir dafür hinsichtlich der Veränderung der Schale als solcher und unserer ebenfalls dünnen Atmosphäre. Hinsichtlich unserer Lufthülle geben wir uns durch die übermässige, ständige Produktion klimawirksamer Gase alle Mühe, ein weiteres Chaos zu inszenieren, das sich bereits abzeichnet. Wir können, wie es scheint, offenbar gar nicht genug von solchen bekommen.
Die Hoffnung, dass dann schon einmal etwas Vernünftiges daraus heranwachse, lassen wir uns auf jeden Fall nicht nehmen.
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