Delete im Kopf: Gedächtnisschwund, Erinnerungslücken
Autor: Emil Baschnonga
Verschiedene Blogs waren dem Pianomann gewidmet. Erstaunt las ich gestern, dass dieses Beispiel von totalem Gedächtnisschwund Schule zu machen scheint. Ein Engländer namens Douglas Bruce erwachte in einer Untergrund-Passage in New York und wusste nicht mehr, wer er ist oder war. Dies widerfuhr ihm vor 2 Jahren. Jetzt ist seine Geschichte unter dem Titel „Unknown White Male“ (Unbekannter weisser Mann) verfilmt und wird am „London Film Festival“ vom 19. Oktober bis 3. November 2005 gezeigt.
Seine Art von Amnesie wurde als „psychogenic retrograde amnesia“ bezeichnet. Dieses Fachwort prägt sich natürlich augenblicklich und unauslöschbar im Gedächtnis ein, wiewohl es bei mir, kaum geschrieben, schon zur Erinnerungslücke geworden ist.
Sind Gedächtnisschwund und Erinnerungslücken Anzeichen von Alterschwäche? stelle ich mir besorgt die Frage. Wie ich mich erinnere, litt ich darunter bereits als Kind. Wie leicht ich meine Hausaufgaben vergessen konnte! Mir wurde damals aufgetragen, ein dramatisches Gedicht auswendig vor der Klasse zu rezitieren. Ein Freund fragte mich während der Stundenpause, ob ich das Gedicht gut auswendig gelernt habe. Dazu reichten mir die 10 Minuten Gnadenfrist nicht aus. Ich stand wirklich blöd vor der Klasse und wurde vom Lehrer bald mit Tadel zur Schulbank zurückgeschickt.
Wer dieses Gedicht geschrieben hatte und worum es ging, habe ich längst vergessen, ausser dem Versbruchstück: „Gib ihn heraus!“ Das beweist, wie leicht man Reinfälle aus dem Gedächtnis löscht. Ich bin ihm jetzt im Internet nachgepirscht. Das Gedicht heisst „Die Füsse im Feuer“ und stammt von Conrad Ferdinand Meyer. Ich hätte wohl eine halbe Woche gebraucht, um die vielen Zeilen auswendig zu lernen.
Das Gedächtnis muss von früh auf trainiert werden. Ich kannte eine chinesische Cembalistin in London. Ihr gestrenger Vater und Schriftsteller hatte darauf beharrt, dass sie Hunderte von Volksweisheiten auswendig lerne. Das hat gefruchtet: Wie ein Schwamm saugte ihr Gehirn die Partituren auf. Telefonnummern merkte sie sich mit der Tonleiter als Eselsbrücke. Summend gab sie die Nummer mühelos ins Telefon, indessen ich sie immer wieder nachschlagen muss und manchmal sogar meine eigene Hausnummer vergesse. Dafür habe ich eine gute Ausrede: Ich rufe mich ja selbst nicht an…
Den Namen vieler Leute vergesse ich ebenfalls leicht. Unterwegs zum Geschäftstreffen grüble ich umsonst und gebe auf. Meistens kommen mir die vergessenen Namen im allerletzten Augenblick zugeflogen, wenn ich den Sitzungsraum betrete. Somit bin ich nicht unbedingt ein ganz hoffnungsloser Fall.
Im Traum – und auch in der Wirklichkeit – vergesse ich hin und wieder, wo ich meinen alten Golf parkiert hatte. Als Strohwitwer für einen Tag ging ich eines Abends in der Nähe indisch essen. Ich schwöre, dass ich nicht mehr als ein Glas Bier getrunken habe. Zunehmend besorgt suchte ich nachher mein Auto, doch umsonst. Der Polizeiposten war in nächster Nähe, wo ich den vermeintlichen Diebstahl anzeigte und mich dann zu Fuss auf den Heimweg machte.
3 Wochen später hatte ihn ein Freund meines Sohnes in einer Seitenstrasse ganz in der Nähe des indischen Restaurants entdeckt – mit Busszetteln übersät. Mir war ungeheuerlich zu Mute, und ich ging der Sache nach. Nicht in der 1., sondern in der 2. Seitenstrasse hatte ich das Auto abgestellt. Beide Strassen glichen sich wie ein Ei dem andern. Es brauchte anschliessend viel Verhandlungsgeschick und Belege vom Polizeiposten, um der heftig kumulierten Parkbusse zu entkommen.
Inzwischen bin ich punkto Gedächtnisschwund und Erinnerungslücken zum Fatalist geworden. Ich nehme mir den PC zum Vorbild. Dort gibt es die beliebte Taste „Delete“, um den im Computergedächtnis angehäuften Ballast loszuwerden. Mir scheint es, dass mein Kopf so programmiert ist, dass er dies von selbst tut. Ich hoffe nur, dass es dabei nicht zum „Crash“ kommt und ich mir nicht, wie Douglas Bruce, abhanden komme.
Hinweise auf Blogs zum Thema Gedächtnislücken
13. 10. 2005: „Lärm an der Wurzel anpacken; Zurück zu Sense & Co.“
22. 08. 2005: „Der Pianomann: Ist das Rätsel jetzt wirklich gelöst?“
27. 07. 2005: „Die Geschichte über den Pianomann spinnt sich fort“
18. 05. 2005: „Das Mysterium über den Pianomann vertieft sich ..."
17. 05. 2005: „Der stille Pianomann, der sich abhanden kam“
Hinweis auf weitere Blogs von Faber Elisabeth
Spinnennetze – Fallen in der Natur
Kanadagans, die grösste Gänseart in Europa
Gebänderte Prachtlibelle
Neuntöter – ein Spießer unter den Vögeln
Schwarzblauer Ölkäfer oder Maiwurm
Marienkäfer als Mittel gegen Läuse
Der Kleiber – ein Hausbesetzer
Der Star in der Welt der Singvögel
Szenen aus dem Spatzenleben
Flatternde Farbenpracht
Erdmännchen wachsam und gesellig
Libellen – Die Kunst der Flugtechnik
Sumpf-Herzblatt, Lotusblume und ein fliegender Storch
Das Freiburger Münster aus meiner Sicht