Le Passe-muraille: Luftschlösser sind gratis zu haben
Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
Luftschlösser sind im Schlaraffenland. Man erreicht sie am besten auf einem fliegenden Teppich. Kaum dort eingetroffen, kommt der Kellner mit dem Zauberstab – und schwups – wartet das „Tischlein deck dich“ dem Schlemmer auf, mitsamt Tafelmusik, von Engeln gespielt. Nach dem Mahl kann der Gast erst noch im Jungbrunnen baden. Er entsteigt ihm erquickt und verjüngt.
Luftschlösser kosten nichts. Am liebsten suche ich sie vor dem Einschlafen auf. Ich glaube, wir alle neigen dazu, gelegentlich Luftschlösser zu bauen; denn dazu braucht niemand Steine zu heben und sie aufeinander zu türmen – und man kommt folglich nicht ins Schwitzen.
Weil das besser als alle Traumdeuterei ist, frage ich – wenigstens in Gedanken – Bekannte, welche Luftschlösser sie am liebsten bewohnen, oder ich versuche es zu erraten. Dann weiss ich, mit wem ich es zu tun habe.
Gewisse Luftschlösser suche ich regelmässig auf. Ich wette, auch Sie sind dort, wie ich, schon oft frei wie ein Vogel herumgeflogen. Das ist viel angenehmer als im Flugzeug eingepfercht zu fliegen oder im Stau festzustecken. Vage erinnere ich mich an die Geschichte „Le Passe-muraille“ des französischen Schriftstellers Georges Duhamel (1894–1996), worin von einem Mann erzählt wird, der seine Gabe entdeckte, durch Mauern zu gehen. Was man dabei nicht alles zu sehen bekommt! Hin und wieder stelle ich mir vor, dass ich es Monsieur Passe-muraille gleichtun kann und habe dabei meinen Spass im Luftschloss. Nur besteht die Gefahr, dass man dabei entdeckt werden könnte, etwa wenn man über einen Stuhl stolpert. Dem ist mit einem Überwurf leicht abzuhelfen, der mich unsichtbar macht.
Vorgestern bin ich vor dem Einschlafen auf Stelzen gelaufen. Nein, die Stelzen haben mich gelaufen. Ich brauchte sie nur zu besteigen, und sie trugen mich fort wie auf Siebenmeilenstiefeln. Bald kann ich diese Erfindung patentieren lassen, denn inzwischen kann ich sie beliebig verlängern, etwa um den Lord Nelson auf seinem hohen Sockel am Trafalgar Square in London besser zu sehen. Ein leichter Zwick am rechten oder linken Handgriff genügt, damit die Stelzen einem Hindernis mit einem Seitenschritt mühelos ausweichen. Inzwischen sind meine Stelzen rutschfest und geländegängig geworden; bei Bergwanderungen sind mir Felsblöcke keine Hindernisse mehr. Ich bin eingeschlafen, als mich die Stelzen tief ins Traumland trugen.
Der echte Materialist wird sich mit solchen Luftschlössern nicht zufrieden geben. In seinem Luftschloss zieht er etwa das grosse Los und wird zum Multimillionär. Er wird sehr missgestimmt erwachen ... der arme Schlucker. Desgleichen einer, der im Luftschloss ins Bett einer Schönen gefallen ist.
Am Tag sind Luftschlösser zu meiden, sonst verliert man den Faden zu den täglichen Obliegenheiten. Abends wirken sie besser als Schlaftabletten (ich schlucke keine); manchmal verhindern sie den Schlaf, weil man sich in den langen Gängen dieser Schlösser leicht verlaufen kann. Selbst in Luftschlössern kann das Missgeschick unverhofft aufwarten. Als miserabler Violinist wurde ausgerechnet ich eingeladen, ein Solo zu spielen. Zuversichtlich betrat ich das Podium, hatte aber die Partituren vergessen. Irgendwie musste ich mir aus dieser Patsche helfen, denn ohne Noten geht es bei mir nicht. Aber weil ich in meinem Luftschloss war, begann ich zu improvisieren und erntete Beifall.
Wörter und Begriffe belieben mich in Luftschlössern anzufliegen. Sie gedeihen dann am leichtesten zu Aphorismen. Ich muss mich beim Aufwachen an sie erinnern, befehle ich mir, denn ich habe weder Bleistift noch Notizblock auf dem Nachttisch, und aufstehen mochte ich nicht. Mein Gedächtnis gehorcht diesem Befehl leider nicht. In Luftschlössern gibt es nichts zu erzwingen, sonst verschwinden sie im Nebel.
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