Geistesgegenwart: Knifflige Fragen geschickt parieren
Autor: Emil Baschnonga
Manchmal werden wir mit kniffligen oder indiskreten, direkt an uns gestellten Fragen überrascht, wenn nicht überrumpelt und bedrängt. Es sind Fragen, die wir nicht auf Anhieb beantworten können oder wollen.
Solche Fragen treffen uns oft aus dem Blauen im Beisein von anderen Leuten. Sie sind entweder taktlos, von allzu persönlicher Art oder mit hinterhältiger Absicht beziehungsweise mit aufdringlicher Neugier gestellt. Beispiele: „Wie viel verdienst du eigentlich?“ Auf einen Kratzer auf meine Wange deutend (von einer Brombeerranke verursacht): „Hast du dich mit deiner Frau gestritten?“ Varianten sind: „Planst du einen Stellenwechsel?“ – „Rauchst du noch immer?“ – „Warum kaufst du dein Auto aus 2. Hand?” (Der Fragesteller hat eben einen funkelnagelneuen Mercedes erworben.)
Zur letzten Frage liegt die Antwort auf der Hand: „Ja, denn ich bin nicht fürs Abstottern.“
Beliebte Abwehrmassnahmen sind: Die Frage einfach zu ignorieren oder sie mit einer Gegenfrage zu entschärfen, notfalls den Fragesteller zurechtzuweisen: „Das geht dich nichts an.“ Sie sind jedoch nicht immer einsetzbar.
Der Schachspieler nimmt sich zum Gegenzug Zeit, besonders wenn sein König – also der Ich-Wert – gefährdet ist. Vor weit über 20 Jahren, zur Zeit der 1. Erdölkrise, fragte mich jemand an einer Konferenz, wie hoch der Preis eines Fasses Erdöl klettern könne. „Bis zu 50 USD“, antwortete ich unüberlegt ... und erweckte damit allseits Erstaunen. Meine damalige Voraussage bewahrheitet sich erst jetzt. Beim „commodity forecasting” (Gebrauchsartikel-Vorhersagen, siehe nachstehenden Hinweis) ist es am besten, sich möglichst viel Spielraum in einer weiten Bandbreite zu sichern. Auch die zweigeteilte Antwort „Einerseits und anderseits“ bietet einen Durchschlupf.
Früher, als man noch ungestraft seine Pfeife stopfen, nachstopfen und immer wieder in Brand stecken durfte, gewann man dadurch viel Zeit, ohne in Verlegenheit zu geraten. Heute gibt es andere Hilfsmittel: Der Brillenträger kann die Gläser behauchen …, was als Verzögerungstaktik allzu offensichtlich ist. „Bitte, ich habe Ihre Frage nicht ganz mitgekriegt ...“ ist eine andere beliebte Finte. Wiederholungen verschaffen Zeit zum Antworten. Und wenn es hart auf hart geht, kann man noch immer – nach reiflicher Überlegung – grundehrlich zugeben: „Das kann ich nicht beantworten.“
Im beruflichen Umfeld ist Geistesgegenwart sehr wünschenswert. Wiederum vor langer Zeit: Auf der Bahnfahrt mit meinem Vorgesetzten und einem Abteilungsleiter aus den USA sass ich mit meinem Stellvertreter plaudernd im Abteil irgendwo auf der Durchfahrt in Deutschland.
Mein Stellvertreter, ich nenne ihn Nutkin, betreute das Marketing und hatte eine grosse Klappe. Er tat sich sehr hervor und liebäugelte mit meiner Stelle, was nicht unbemerkt blieb. Eine musikalische Frage wurde aufgeworfen. Nutkin wandte sich etwas herablassend an mich, nachdem er mit seinem Quatsch geantwortet hatte: „Was meinst du dazu als Musikkenner?“ Ich schmunzle heute wieder, wenn ich mich an den Vorbau meiner Antwort erinnere: „Als Vokalist hast du es gut getroffen, aber ich als Instrumentalist meine …” Den Rest meiner Antwort habe ich vergessen. Die beiden Amerikaner schmunzelten breit. Nutkin schwieg betreten. Aber auf Geistesgegenwart ist im Übrigen wenig Verlass.
In der Politik plustern sich Fragesteller rhetorisch gern auf. Nicht eine Frage, ein halbes Dutzend bringen sie ins Spiel und treiben damit ihrem Höhepunkt zu. Sie erwarten keine Antworten, denn sie wollen unbedingt ihre eigenen vom Stapel lassen. Darauf haben ihre politischen Gegner oder gewiegte Journalisten bloss gewartet. Unbarmherzig haken sie in die Schwachstellen der vorliegenden Antworten ein.
Folglich ziemt es sich, seine eigenen Fragen sicherheitshalber nicht selbst zu beantworten (oder wenn schon, dann im stillen Kämmerlein).*
Hinweise
Zum Begriff Commodity forecasting: Der Begriff commodity bezieht sich auf Waren allgemein, doch spezifisch auf Erdöl, Minerale, Gold und andere Edelmetalle. Er ist näher an Rohware gerückt, doch damit nicht übereinstimmend. Die Banken sprechen dabei von commodity trading, wie sie den Handel mit diesen benennen. Auch viele Früchte wie Äpfel und Zitrusfrüchte werden in diesem Bezug als „commodities“ eingestuft, im Gegensatz zu „exotischen Früchten“ ... Das zeigt, wie schwer Fachbegriffe manchmal zu übersetzen sind.
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