BLOG vom: 14.11.2005
Wie an den Beinen der Jäger-Hochsitze herumgesägt wird
Autor: Walter Hess
Im Rahmen einer verwandtschaftlichen Geburtstagsfeier in der „Chemihütte" CH-3703-Aeschiried im Berner Oberland, wo hoch über dem Thunersee Sonne, Wolken und Nebel abwechselten und die Landschaft immer wieder neu malten, bin ich dieser Tage wieder einmal an einen mit Berner und Bündner Jägern besetzten Tisch geraten. Man kannte sich gegenseitig. Und obschon ich seit Jahren für die Abschaffung der Jagd anschreibe, wurde ich pfleglich behandelt, vielleicht wie einer, der nicht ganz alle Patronen im Schrank hat und den man aus mitmenschlichen Gründen gewähren lassen muss, da ohnehin Hopfen und Malz verloren sind. Persönlich hatte ich gegen die netten Herren auch nichts einzuwenden; sie machten mir einen liebenswürdigen Eindruck, besonders weil sie unbewaffnet erschienen waren. Wir unterhielten uns überraschend gut.
Ein Jäger aus dem Berner Oberland räumte nach dem Brunch, gestärkt von einer guten Rösti, Milchkaffee, Käse und Aufschnitt, offen ein, dass die Jagd (und damit selbstverständlich auch die Jäger) kein grosses Ansehen mehr hätten, nicht einmal mehr bei Schulkindern. Wenn heute ein Jäger zum Beispiel vor eine Schulklasse geladen werde (wohl im Rahmen des Jägerlatein-Unterrichts dachte ich mir), höre ihm kaum noch jemand zu, sagte er. Die Jagd sei einfach nicht mehr „in“. Sorgenfalten zierten seine gebräunte Stirn.
Ich nützte die Gelegenheit, um eine Erklärung für dieses Phänomen anzubieten: Die Bevölkerung macht sich zunehmend breiter. Die Landschaften sind verstrasst und mit anderen Verkehrswegen wie Bahnlinien durchzogen. Der Freizeitbetrieb verschont kein Naturrefugium mehr (Heli-Skifahren, Deltasegeln usf.), und die Wildtiere werden entweder überfahren oder doch ständig massiv gestört; sie haben kaum noch Rückzugsgebiete. Die Landschaften sind ausgeräumt, maschinengerecht. Und wenn sich unter diesen relativ neuen Voraussetzungen die Jäger benehmen, als ob nichts geschehen sei, dann ist das eine sträfliche Ignoranz der offensichtlichen Tatsachen. Ich bestrich ein Stück Brot mit Butter und Konfitüre und butterte auch rhetorisch noch eine Feststellung drauf: Leider hätten es die Jäger versäumt, sich auf diese neuen Gegebenheiten einzustellen und die nötigen Konsequenzen zu ziehen.
Es herrschte anschliessend ein ziemlich betretenes Schweigen, und zum Glück zogen und stiessen 2 jüngere Damen den Blasbalg ihrer Schwiizerörgeli (kleine Ziehharmoniken) kraftvoll auseinander beziehungsweise zusammen. Die lüpfige Ländlermusik verhinderte ein Absacken der Stimmung. Und einer der Jäger, ein Ehemaliger, der sich inzwischen eines Besseren besonnen und sich zu fragen begonnen hat, ob man Tiere einfach so abschiessen darf, stellte sich vors Buffet beziehungsweise vor dessen Reste, und erzählte dem Publikum aus der Zeit, als er noch jägerisch aktiv gewesen war. Er, der Werner, steht mir verwandtschaftlich und auch freundschaftlich nahe, ist ein origineller Denker und Dichter. Ich mag ihn, auch seine verschmitzte Art.
Der Werner erzählte, dass Bündner Jäger verpflichtet seien, die geschossenen, schweren Tiere selber ins Tal zu tragen. Ich empfinde das als weisen Brauch; Strafe muss sein. Ob Werner nun durch solches Lastentragen seinen Rücken beschädigt hat, liess sich aus seinen Ausführungen nicht genau entnehmen. Ich nahm einfach einmal an, es sei so. Jedenfalls hatte er noch während seiner aktiven Jagdzeit einen Chiropraktiker aufgesucht, der ihm befahl, sich mit dem Bauch voran auf einen mit Leder bezogenen Schragen (Behandlungstisch) zu legen. Werner kam sich laut seinen eigenen Bekanntmachungen vor wie auf dem Rücken eines grossen Hirschs. Er hatte seine damaligen Eindrücke bei diesem Chiropraktiker-Besuch zu einem treffenden Gedicht verbraten, das er gleich aus dem Ärmel schüttelte. Daraus ist mir noch in Erinnerung, dass die schmerzende chiropraktische Prozedur mit einem kräftigen Schlag auf den Hintern endete. Vielleicht wollte der Chiropraktiker noch etwas erzieherisch wirken und die Gelegenheit nutzen, einem Jäger den Hintern zu versohlen. Man gestatte mir diese freie Interpretation in Verbindung mit einer Sympathiekundgebung.
Werner erwähnte dann auch noch den Bären, der vor wenigen Monaten im Bündnerland aufgetaucht war und wieder spurlos verschwunden ist. Er, Werner, sprach mich an und sagte, ich hätte sicher erwartet, dass er in den Bündner Bergen abgeschossen würde. Meine Antwort kam spontan: „Sicher.“
Der Bär sei abgewandert, heisst die offizielle Version. Er habe sich in Luft aufgelöst, empfinde ich. Aber können sich Bären in einem Kanton, in dem es sehr viele jagdfiebrige Jäger gibt, in Luft auflösen? Hatte da vielleicht der grosse Zauberer David Copperfield die Hand im Spiele? Man weiss nichts Genaueres.
Aargauer Aktivitäten gegen die Hetzjagd
Selbstverständlich erzähle ich diese netten Jagd-Geschichten nicht ohne Hintergedanken. Denn am 27. November 2005 findet bei uns im Kanton Aargau die Abstimmung über die aargauische Volksinitiative „Jagen ohne tierquälerisches Treiben“ statt. Sie verlangt, das kantonal-aargauische Gesetz über Wildschutz, Vogelschutz und Jagd (Jagdgesetz) vom 25. Februar 1969 sei so zu ändern, „dass die Treibjagd durch Hunde, Menschen oder Hilfsmittel aller Art untersagt ist“. Mit dem Initianten, Peter Suter aus Kölliken AG, hatte ich bei der Ausformulierung des Texts auch den Titel besprochen und ihm dringend empfohlen, den Ausdruck „tierquälerisches Treiben“ in der Überschrift zu belassen. Diese klare Bezeichnung des Sachverhalts wird nun auch in den Medien und überall zitiert. Sie ist aus Gründen des Tierschutzes nötig und dürfte bereits einen aufklärerischen Effekt haben und den Jagdnimbus, der lange genug nicht hinterfragt wurde, etwas relativieren.
Der Regierungsrat des Kantons Aargau, der den Jägern näher als den Tierschützern steht, hatte offensichtlich alle Mühe, die Initiative, welche die Jagd als reines Freizeitvergnügen darstellt, in die Pfanne zu hauen. Er griff zur abgedroschenen Leier, wonach Jäger sogar eine Pflicht hätten, „die nötigen Abschüsse zu tätigen, um das Wild gesund zu erhalten und übermässige Wildschäden zu verhüten“. Abschiessen als Gesundheitspflege ... Ein grossartiger therapeutischer Gedanke! Wildtier-Management.
Und weil die Anforderungen an die Jäger nach regierungsrätlicher Ansicht sogar zugenommen haben, „wurde seit Jahren darauf verzichtet, die Jagdpachtzinsen zu erhöhen und der Teuerung anzupassen“ (aus der Antwort der Regierung auf die Interpellation Rainer Klöti). Mit anderen Worten: Indirekt wird die Jagd noch subventioniert, vielleicht auf der Basis des Deppern-Mottos „Ohne Jagd kein Wild“. Eine tolle Sache. Die Jäger können dann mehr in Geländefahrzeuge, Gewehre, Hunde und Uniformen investieren, obschon sie sich das alles ohnehin leisten können, auch eine massive Propaganda gegen die Initiative, die wahrscheinlich abgelehnt, aber immerhin mit Bestimmtheit gewisse Spuren hinterlassen wird.
Naturregulierung mit Abschussplänen
In seinem Buch „Bözberg West. Landleben zwischen Basel und Zürich“, das vor wenigen Wochen in unserer Verlag Textatelier.com GmbH erschienen ist, hat der Ökologe Heiner Keller das Latein, mit dem die Menschen über die Thematik Jagd und Jäger seit je verdummt werden, nicht ohne Ironie klargestellt: „Man muss den Jägern für die Herstellung des Gleichgewichts bei essbaren oder Schaden stiftenden Tierarten richtiggehend dankbar sein. Als Gegenleistung schaut man grosszügig darüber hinweg, dass sie in eigenem Ermessen Fahrverbote im Wald ignorieren und sich mit Hochsitzen und neuen Techniken Annehmlichkeiten zur Ausübung des Jagdhandwerks verschaffen (...) Die Jäger sind selbstbewusst, gut organisiert, vernetzt und integriert. Getragen von der Bevölkerung, Jagdgästen, Edeltreibern und Politikern vereinahmen die Jäger auch die Natur- und Vogelschutzvereine. Niemand mit politischer Vernunft riskiert einen Krach mit den Jägern.“
Heiner Keller hat der Jagdkritik in seinem geistreichen Buch, in dem er auch zu anderen brisanten Themen Klartext spricht, erfreulich viel Platz eingeräumt. Er stellt zum Beispiel fest, dass im Kanton Genf nach der Abschaffung der Jagd (gemäss Volksabstimmung vom 19. Mai 1974) die Zahl der Wasservögel auf der Rhone sprunghaft zugenommen hat, ohne dass das Gleichgewicht kippte oder sonst etwas geschah. Wörtlich: „Wieso sollen wohl übermässige Vermehrungen ausgerechnet bei den jagdbaren Tieren einer besonderen Regulierung bedürfen? Wieso ist die Natur so schwach, dass sie sich von den Jägern helfen lassen muss?“ Wenn die Jagd so nötig wäre wie die Abschusspläne suggerieren, brauchten die Jäger nicht so viel Werbung in eigener Sache, stellt Keller noch fest. Und, so möchte man beifügen, dann brauchte es keine Jagdschutzvereine, die, wie ihr Name ehrlich sagt, die Jagd schützen (aber sicher nicht das Wild), sich als „Ordnungs- und Regulierungsfaktor“ hervortun und sich damit über die Natur setzen.
Aus solchen Erkenntnissen heraus ergibt sich nach meiner persönlichen Interpretation die Folgerung, dass die Jagd heute schon gar keine Existenzberechtigung mehr hat. Zudem ist die Wildfleischproduktion eine Domäne der diversifizierten Landwirtschaft geworden. Doch im Aargau geht es vorerst nur um die tierquälerische Treibjagd, eine mittelalterliche Fehlentwicklung, die sogar im schiessfreudigen England in Bezug auf die Füchse abgeschafft werden musste.
Bei dieser perfiden Jagdform werden die Wildtiere durch abgerichtete Hunde und menschliche Jagdgehilfen (Treiber) aus ihren Verstecken gedrängt. Sie flüchten auf den gewohnten Wegen (Wechsel genannt), die den Jägern bekannt sind, und diese können dann, ohne sich gross selber bemühen zu müssen, die aufgescheuchten Tiere elegant abschiessen. In dieser effizienten Niederknallerei, die dem Wild keine Chance lässt, erkennt der Regierungsrat sogar Vorteile. Wo da noch gewachsene Ansprüche der Jägerschaft sind, welche die lustige Treibjagd betreiben und ihre Abschussfronten aufbauen, ist mir mindestens so schleierhaft wie ein dichter Novembernebel bei uns im Aaretal.
Treibjagden seien gesellschaftliche Anlässe mit Fress- und Trinkgelagen („Aser“), schrieben die Initianten der Volksinitiative, die 3520 gültige Unterschriften auf sich vereinigte (meine gehörte dazu) auf einem Flugblatt, auf dem ein Jagdhund die Halswunde eines toten Rehs leckt, das wahrscheinlich verblutet ist.
Peter Suter aus Kölliken, Präsident des Vereins zum Schutze der bedrohten Wildtiere, hat sich seit Jahren für die Feldhasen eingesetzt, deren Bestand nach seiner eigenen Feststellung „völlig ruiniert“ ist; aber sie sind immer noch jagdbar. Er kann nicht begreifen, dass auch auf bedrohte Vogelarten geschossen werden darf – dazu gehören Blässhühner, Reiher, Tafelenten und Rostgänse. Wenn Wildtiere nichts Gescheiteres zu tun hätten als Denkmäler zu errichten, sie würden dem Peter Suter eines errichten. Er und seine Anhänger haben viel für sie getan, und sie alle haben meine Wertschätzung.
Es wäre schön, wenn die Totsignale aus den Jagdhörnern bald einmal nicht mehr den Wildtieren, welche schwer verletzt das Leben aushauchten, sondern der Jagd als überflüssiger, anachronistischer Institution gelten würde. Dann empfände ich jene schrillen Töne als schöne Musik – ähnlich den Alphornklängen, weil Alphornbläser auch nicht zuerst eine Kuh abschiessen müssen, bevor sie ihre getragenen Töne von sich geben.
Halali.
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