Textatelier
BLOG vom: 05.12.2005

CHance21: Intellektuelle Kämpfer gegen die Einheitswelt

Autor: Walter Hess
 
Mitte Oktober 2005 hat mich ein Herr Klaus Fischer auf CH-6335 Weggis telefonisch angerufen und angefragt, ob ich einmal bei der Vereinigung CHance21 (www.chance21.ch) einen Vortrag zum Thema Globalisierung halten wolle. Ich kannte seine Vereinigung nicht, und er wusste nichts von meinem Buch „Kontrapunkte zur Einheitswelt“, hatte aber schon Zeitschriftenartikel von mir gelesen. Da (beziehungsweise obschon) sich identische Interessen abzeichneten, sagte ich gern zu. Ich stellte meine Globalisierungs-Erkenntnisse auf aktuellem Stand zu einem Vortrag zusammen und reiste am 1. Dezember 2005 nach Luzern, um dort in weihnachtlicher Atmosphäre offene Adventstüren einzurennen.
 
Es musste noch schnell ein grösserer Saal organisiert werden, da das Thema Globalisierung zu meiner Überraschung im Raum Luzern, wo eine Art Gross-Luzern (Gemeindefusionen) entstehen soll, tatsächlich lebhaft diskutiert wird. Die wirklichen Gründe für die angestrebte Gemeinde-Fusionswelle (wie die Fusion Luzern-Littau oder die Fusion von 11 Gemeinden im Hitzkirchertal) mit der Rodung und Planierung der feingliedrig und dezentral herangewachsenen Verhältnisse sieht die Vereinigung darin, dass die Gegend wirtschaftlich und politisch für den EU-Binnenmarkt vorbereitet werden soll – zum Vorteil der transnationalen Wirtschaft (im „Info-Blatt 14“ publiziert); denn darum und um nichts anderes geht es ja. Und diese Globalisierung dringt ja in alle Lebensbereiche hinein und hinterlässt Spuren der Verwüstung.
 
Noch selten habe ich nach einem Vortrag eine Diskussion von dieser Lebendigkeit und mit diesem Willen, den Dingen auf den Grund zu gehen, erlebt; ich lernte mindestens so viel wie ich an kritisch aufbereitetem Wissen ausbreiten konnte. Deshalb will ich mich in diesem Tagebuchblatt auf die Publikumsdiskussion und einige Texte aus der Zeitschrift der Vereinigung „info 21“ kaprizieren, zumal das Material von höchstem Allgemeininteresse sein dürfte.
 
Ausgehöhlte Demokratie
Schon aus den Ausführungen des Veranstaltungsleiters, Viktor Rüegg, Rechtsanwalt in CH-6011 Kriens, ging hervor, dass da mit politischem Tiefgang gearbeitet wird. Es wurde insbesondere nach der Erkenntnis der Ursachen der Globalisierung gebaggert. Dies geschah im Bestreben, aus dieser Misère herauszufinden, welche Wirtschafts-, Sozial-, Kultur- und Naturstrukturen zerstört und gerade auch noch die demokratischen Strukturen zerbröseln lässt.
 
Der homöopathisch tätige Hausarzt Peter Mattmann-Allamand hatte im neuen CHancen21-Informationsblatt (Nr. 17) die Gefahren für die Demokratie wie folgt zusammengefasst und am Abend nochmals prononciert aufgezeigt: „Die globalen Interessen einer winzigen Minderheit haben gegen die lokalen Interessen der Mehrheit nur eine Chance, wenn die Demokratie zum Papiertiger wird.“ Und er doppelte nach, die Globalisierung höhle die Demokratie zweifach aus: „Die wichtigsten Gesetze werden nicht mehr unter den Augen der Öffentlichkeit in den Parlamenten gemacht, sondern in den Hinterzimmern der EU-Exekutive. Durch das Verschieben der Kompetenzen in ferne Entscheidungszentren, durch Gebietsreformen und Zentralisierung wird Distanz zwischen Bürgern und Institutionen und Überschaubarkeit geschaffen, so dass aus der Demokratie ein theoretisches Konstrukt wird.“
 
Soweit das Zitat. Die Folgen dieser Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten sind Unzufriedenheiten, Unruhen, Demonstrationen – sogar die Bauern sind schon auf der Strasse. Allgemein herrschte Übereinstimmung darüber, dass Grossgebilde nie menschengerecht sein können, ob es sich nun um Äcker, fusionierte Gemeinden, Wirtschafts- oder Länderzusammenschlüsse handelt. Ein Diskussionsredner sagte, man könne nicht genug nach den Ursachen für diese Vorgänge, die von Menschen gemacht und keine Naturereignisse sind, nachdenken; denn genau dieses Nachdenken zwinge zu anderen Standpunkten. Wichtig seien Wurzeln, wenn nicht alles schief laufen soll, und die Sprache gehöre zu den wichtigsten Wurzeln.
 
Internationalisierung und Globalisierung
„Wir sind eine weltoffene Bewegung und hegen grossen Respekt vor der Vielfalt auf unserem Planeten. Wir achten Würde und Wert aller Volksgruppen und Kulturen. Ihre eigenständige Entwicklung muss gegen Übergriffe einer globalisierten Kommerzkultur und vor ,multikultureller’ Gleichmacherei gestärkt und gefördert werden.“ Das steht am Anfang der Leitsätze der lockeren Vereinigung „CHance21“ („wer wir sind. was wir wollen“).
 
„Wir sind keine Abschotter, sondern weltoffen“, wurde auch in der Diskussion gesagt, doch will man verhindern, dass die Schweiz in eine ausweglose Situation nach deutschem Vorbild gerät. Zu Recht wird die Internationalisierung, wie es sie schon seit Jahrhunderten gab, akzeptiert, selbstverständlich mit gebührenden Ausnahmen: Wenn zum Beispiel das offizielle Frankreich den Schulen zurzeit gerade vorschreibt, die Phase der Kolonialisierung dürfe nur noch positiv dargestellt werden, lässt das tief blicken – und das kommt auch einer Entmündigung der Historiker und Lehrer gleich. Aber die überbordete neoliberale „Kultur“ der Unterdrückung von Völkern und deren schamlose Ausbeutung müssen gebrandmarkt werden.
 
Die Frage ist unter solchen Vorzeichen, ob man sich nun sorgsam abwägend oder provokativ verhalten soll. Der Historiker und historiographische Schriftsteller Pirmin Meier sagte in der Diskussionsrunde (ich zitiere aus dem Gedächtnis): „Der Platz des Gerechten auf Erden ist zwischen Stühlen und Bänken – im Himmel aber sitzt er zur Rechten Gottes.“ Meier gewann der Internationalisierung (auch im historischen Zusammenhang) einige positive Seiten ab, ohne gleich der Globalisierung das Wort zu reden. Und auch Versammlungsleiter Rüegg räumte ein, dass es einige Bereiche gebe, die nur im internationalen Verbund lösbar seien, so die Luft- und Meeresverschmutzung, die Kriegsverhinderung und die Aspekte rund um die Weltraumnutzung. Und zudem könnten ausländische (internationale) Einflüsse unannehmbare Zustände wie etwa die Einschränkungen des Internets in China beheben helfen.
 
Gegen solche Argumente war nichts einzuwenden. Ich selber bezeichnete die Provokation als ein heute notwendiges Mittel, um die irregeleiteten Menschen zum Nachdenken und zum Handeln zu bewegen und verwies auf die Rolle der kommerzialisierten, in den vereinheitlichten Prozess eingebundenen Presse, die sich um die wesentlichen Probleme herumdrückt und einschläfernd wirkt. Ein Diskussionsteilnehmer fügte bei, die Mediengewalt in der Schweiz sei bald einmal nur noch in den Händen von 1 bis 2 Personen. Das begründet die Gleichschaltung.
 
Es ist also nötig, andere, entgegengesetzte Standpunkte mit Kraft einzubringen, und dafür haben wirklich unabhängige Menschen wie die Alten, die nicht mehr um ihren Arbeitsplatz und um Aufträge bangen müssen, hervorragende Möglichkeiten. Diese Alten haben geradezu eine Pflicht, ihre Erfahrungen und sich selber einzubringen, und neben anderen Angelegenheiten auch die Politik als Lebensäusserung zu betreiben – zum Wohle einer kontinuierlicheren und weniger desaströsen Entwicklung. Die politische Mitwirkung kennt glücklicherweise keine Altersguillotine. Die Stimmberechtigung lässt sich nicht frühpensionieren.
 
Wir Alten haben noch einen Überblick, wenigstens über die letzten 60, 70 oder mehr Jahre, und wir haben schmerzlich miterlebt, wie es gelungen ist, fast die ganze Traditionsindustrie in wenigen Jahren entweder zu zerstören oder tauglich für eine Übernahme durch US-Konzerne zu machen. Wir haben beobachtet, wie die Demokratie mehr und mehr zur Scheindemokratie bzw. zur Demokratur geworden ist, je mehr sich die Schweiz der Geschäftstätigkeit wegen globalisieren liess und die Regierungen und Parteien zu Handlangern der globalen Vereinheitlichung geworden sind. In der 15. Ausgabe von „info 21“ liest man dazu: „Die Schweizer Konzernwirtschaft (economie suisse) bildet mit dem Bundesrat und den Parteien eine Kampagnenorganisation, in die alle Parteien, alle einflussreichen Politiker, alle Verbände, ja neuerdings sogar die Kirchen und Hilfswerke eingepackt werden. Die Millionen der grossen Wirtschaft und zum Teil auch Steuergelder werden hauptsächlich dazu verwendet, die Gegner der Globalisierungsvorlagen als ‚Abschotter, Isolationisten und Fremdenfeinde’ zu beschimpfen und zu isolieren.“
 
Ruhe und (Un-)Ordnung
Im Kapitel über den Neokonservativismus hatte ich in meinem Vortrag darauf hingewiesen, wie die Staatsmächte zur Durchsetzung von Ruhe und Ordnung zur Beruhigung der beunruhigten, demonstrierenden und randalierenden Bevölkerung zu drastischen Massnahmen greifen müssen. Und dasselbe passiert auch auf der globalisierten Ebene. Dazu ein weiteres Zitat von Peter Mattmann: „Ohne Waffengewalt lässt sich die Macht der grossen Weltkonzerne und der reichen industrialisierten Länder nicht aufrechterhalten. In allen europäischen Ländern wurden die Milizarmeen, die der nationalen Verteidigung dienten, in Berufsarmeen umgewandelt, die im Rahmen der Nato als Hilfstruppen der US-Army zur Verfügung stehen. Sie führt überall auf der Welt, wo sie ihre Interessen bedroht sieht, offensiv Krieg – Völkerrecht oder Uno-Charta hin oder her. Auch die Schweiz hat sich entwaffnet. Ihre Armee hilft mit bei Aufräumarbeiten nach Nato-Einsätzen.“
*
Vor dem Vortrag hatte ich zusammen mit meiner Frau einen Bummel durch die festlich beleuchtete Luzerner Altstadt unternommen, dabei einem Russen zugehört, der mit seinem gewaltigen Bass festliche Lieder in einer Gasse erschallen liess und einen Musikanten aus der Karibik bewundert, der zu seinem virtuosen Spiel 2 Puppen tanzen liess. Und in der Nähe eines Juweliergeschäfts wachte ein pflichtbewusster Sicherheitsbeamter.
 
Ich liebe Volksmusik, besonders wenn es sich nicht um US-Pop handelt. Und ich habe Verständnis für Sicherheitsvorkehrungen in den Städten. Das Eine hat für mich mit einer begrüssenswerten Internationalisierung zu tun, das Andere aber mit Globalisierungs-Auswirkungen, mit den Folgen der Öffnung der Armut-Reichtum-Schere. Und als ich am Schluss der Veranstaltung im Luzerner „Unterschachenhof“ von Viktor Rüegg gebeten worden war, der Vereinigung „CHance21“ einen Wunsch ins neue Jahr 2006 zu geben, brach es spontan aus mir hervor: „Eine weite Verbreitung Ihrer Tätigkeit und Ihres Gedankenguts, landesweit, ja global.“
 
Dann könnten die Demokratien wieder aufleben und der besagte Sicherheitsbeamte abgezogen werden.
 
Hinweise auf Blogs zum Thema Globalisierung
02. 12. 2005: „Swisscom und Fusionswahn:’S’isch gnueg Heu dunne’“
16. 11. 2005: „Kapitalismus, Neoliberalismus und Neokonservativismus“
09. 11. 2005: „Globalisierungsaussicht: Brennt es nach Paris bald überall?“
07. 11. 2005: „Die Integration ist gescheitert: Elendsleben in Gettos“
28. 10. 2005: „Apartheid-Aufarbeitung: Wo Rassismus sein darf und wo nicht“
10. 10. 2005: „Bananenrepubliken, Gen-Diktaturen und WTO-Sklaven“
04. 10. 2004: „Die entfesselte Welt: Ordnungsrahmen fehlen überall“
01. 10. 2005: „’Crash. Boom. Bang’: Kein Mittel gegen Hollywood-Schund“
26. 09. 2005: „D und CH: Wahlen, Abstimmungen und Kosmopolitismus“
22. 09. 2005: „Röpke: Das masslos überdehnte ‚Mass des Menschlichen’“
16. 09. 2005: „’Crash. Boom. Bang’: Hollywoods Kriegsverherrlichung wirkt“
12. 09. 2005: „Belebende Töne in Dur: Regionalorganisation dreiklang.ch“
11. 09. 2005: „Reflexionen über religiöse Dimensionen der US-Kriegswut“
09. 09. 2005: „Henry David Thoreau und die Pflicht zur Ungehorsamkeit“
07. 09. 2005: „Die USA schreiben verschlungene Schützenpanzerwege vor“
06. 09. 2005: „Die tödliche Gefahr der zentralistischen Globalisierung“
04. 09. 2005: „Das Sprachkopieren als geistige Unterwerfung unter die USA"
03. 09. 2005: „New Orleans: Katastrophenbewältigung mit Schiessprügeln“
20. 08. 2005: „Alle Achtung beiseite – bei den fetten Manager-Katzen“
15. 08. 2005: „US-Kriege der Zukunft: Täuschen, tarnen, effizient töten“
13. 08. 2005: „Die Glokalisierung als Reaktion auf die Globalisierung“
06. 08. 2005: „Und sie sagten kein Wort ...: Beispiel Niger (Nigerien)“
25. 07. 2005: „,Shoot to kill' - oder: Auf dem langen Weg zur Einsicht“
24. 07. 2005: „Warum nicht einmal die Terrorismus-Ursachen ergründen?“
21. 07. 2005: „Übel aus dem Osten, aus dem Westen nichts Neues“
11. 07. 2005: „Wie man den Kindern das Töten und Schlagen beibringt“
07. 07. 2005: „Bomben in London City: Die Olympiade der Gewalt“
07. 07. 2005: „Wieder Terrorismus in dieser besten aller Welten“
04. 07. 2005: „Bush-Rede: Ein Kommafehler im Dienste der Ehrlichkeit“
21. 06. 2005: „SP und Gewerkschaften verschaukeln ihre Genossen“
12. 06. 2005: „Das Lügen wie gedruckt hat eine sehr lange Tradition“
06. 05. 2005: „Globalisierung, OECD, G10 und die Beruhiger vom Dienst“
02. 04. 2005: „Der Neoliberalismus, ausrangierte Alte und der Papst“
04. 03. 2005: „Hunter S. Thompson und die fiktive Wirklichkeit“
01. 02. 2005: „WEF 2005: Schminke über Globalisierungspleiten“
31. 12. 2004: „Bilanz 2004: Überhaupt nichts im Griff“
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