Textatelier
BLOG vom: 23.12.2005

Eine Weihnachtsgeschichte: Das Bistro „Zum Déjeuner“

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Ein Mann, nicht mehr ganz so jung, fuhr verdrossen spät am Freitagnachmittag auf einer Nebenstrasse durchs Schneegestöber und suchte den Anschluss an die Autobahn nach London zurück.
 
Aloys war verstimmt und hatte dazu gute Gründe. Das Geschäftstreffen, diesmal im Kleinstädtchen Market Harborough, hatte sich wieder einmal sehr in die Länge gezogen. Den ganzen Tag hatte er nichts ausser einem schlappen Sandwich gegessen und 4 Tassen Kaffee getrunken. Wiederum stand ihm ein langweiliges Wochenende bevor. Aloys ist seit drei Jahren geschieden. Inzwischen hatte er die Nase voll von weiblichen Zufallsbekanntschaften, die zu nichts führen. „In einer Woche war Weihnachten. Wozu?“ haderte er.
 
Eine dicht gedrängte Autoschlange fuhr ihm stockend aus der Gegenrichtung entgegen. Die Lichter blendeten ihn. Der Wind wirbelte die Schneeflocken auf und trieb sie an die Scheiben. Monoton wippte der Scheibenwischer hin und her. Fuhr er in der falschen Richtung? Die Räder eines Lastwagens vor ihm verspritzten Matsch.
 
Aloys gewahrte das beleuchtete Schaufenster einer Bäckerei, als er vor einer Ampel innehielt. Er fuhr nicht weiter, sondern bog in den Vorplatz vor der Bäckerei, weil er sich erkundigen wollte, ob er in der richtigen Richtung fuhr. Er löste den Sitzgurt und schaute hoch. „Déjeuner“ las er verdutzt die wuchtig gelben Lettern auf dem oberhalb des Ladens angebrachten Schild. Eine Bäckerei namens „Déjeuner“ ausgerechnet in diesem trostlosen Kaff? Drinnen im Laden räumte die Verkäuferin schon die Gestelle ab.
 
Aloys betrat den Laden. „Ja, Sie haben sich verfahren“, bestätigte ihm die Verkäuferin. Aloys drehte sich um: Eine mit Lichtern beschuppte Autokette schlängelte sich draussen langsam voran.
 
„Hat es hier schon um diese Zeit immer einen solchen Riesenstau?“ fragte er die Verkäuferin besorgt, „schliesslich ist es erst kurz nach 4 …“
 
Sie nickte: „Besonders am Freitag und beim heutigen Wetter.“
 
„Und Sie schliessen auch schon?“ bemerkte er betrübt und wies gegen die abgeräumten Gestelle.
 
„Was wollen Sie“, gab sie ihm zur Antwort, „um diese Zeit kommt niemand mehr.“
 
„Ausser ein ausgehungertes ‚Ich’. Vielleicht haben Sie noch etwas für mich übrig?“
 
„Das Einzige, was ich Ihnen anbieten kann, ist die aufgewärmte Tagessuppe, Erbsensuppe als Vorspeise“, schlug sie vor und fügte schmunzelnd hinzu, „und allenfalls eine Portion Pommes frites mit Gemüse nachher, wenn Sie wollen.“
 
„Was man heute nicht alles in einer Bäckerei bekommt!“ staunte Aloys, „und erst noch ‚Frites’ statt ‚Chips’ hier in England!“ Dankbar jedoch nahm er ihren Vorschlag an. Mehr noch als die Aussicht auf Nahrung erweckte das schmucke Geschöpf seine Lebensgeister.
 
„Bäckerei? Ich bin im Gastgewerbe tätig und beliefere Kunden im Industriepark mit Essen über die Mittagszeit“, klärte sie ihn auf. „Auch biete ich einen ,Party Service' für besondere Anlässe."
 
„Das also erklärt den Namen ,Déjeuner' – Apropos ,Party Service' …“
 
„Tout à fait“, unterbrach sie ihn ein bisschen schnippisch, wie eine Kindergärtnerin, und wies ihn ohne Umschweife ans kleine Tischchen. Kurz später brachte sie ihm den Teller, der bis zum Rand mit dampfender Erbensuppe gefüllt war. Im Nu hatte er sie ausgelöffelt. Von der Suppe erwärmt, hatte sich seine Laune inzwischen beachtlich verbessert.
 
Während Aloys auf den nächsten Gang wartete, fasste er die junge Frau näher ins Auge. Sie trug ihr langes, dunkles, eigentlich kastanienbraunes Haar gewellt, von einem roten Seidenschal umwickelt. Nachlässig über die Schultern geworfen war ein kunterbunter langer Schal, mit langen Fransen behangen. „Pashmina“ fiel ihm das treffende Wort dafür ein. Das gab ihr einen exotischen Anhauch. Darunter trug sie eine weit gebauschte, rauchblaue, mit Rüschen besetzte Chemisierbluse. „Etwas exzentrisch zwar“, urteilte er, „doch die Kleidung steht ihr gut, passt zu ihr.“
 
Aloys stutzte und zäunte seine streunenden Gedanken, denn sie kam eben mit dem 2. Gang. „Danke, Nigella“, sagte er entgegen seiner Art vertraulich dreist.
 
Jetzt stutzte sie ihrerseits, aber lachte plötzlich vergnügt auf. „Sie sind nicht der Einzige, der mich Nigella nennt“, gestand sie. „Ich gleiche ihr wohl sehr.“ (Dies bezog sich auf die ähnlich angenehm geformte dunkelhaarige britische Fernseh-Köchin, Nigella Lawson.)
 
Wie er den geleerten Teller zur Seite schob, sagte er, halb aufseufzend zur Wanduhr hochschauend, die schon auf 5 Uhr vorgerückt war: „Fürs Leben gern möchte ich länger hier bei Ihnen verweilen“, gestand er. Das war ihm wohl etwas zu vertraulich über die Lippen gerutscht. „Wissen Sie, um diese Zeit schaue ich mir immer gerne ‚The Weakest Link’ an. Das macht Spass, wie die böse Ann Robinson die Teilnehmer zerrupft. Vielleicht können Sie mir ein Hotel hier in der Nähe empfehlen, denn zum Weiterfahren habe ich bei diesem furchtbaren Wetter wirklich keine Lust mehr.“
 
„Weakest Link“, wiederholte sie baff, „das ist auch mein Lieblingsprogramm! Wenn Sie es nicht verpassen wollen, können sie es ja bei mir anschauen. Bis dann hat sich der Verkehr wohl gelegt.“ Aloys zierte sich nicht und nahm spontan ihre Einladung an. Er stand auf und reichte ihr den Teller über die Anrichte hinweg. Eine Erinnerung rempelte ihn an. Wie kam es, dass sie ihm irgendwie bekannt vorkam? Er musste ihr zuvor schon einmal begegnet sein, grübelte er. Das Wort „Déjeuner“ hatte er auch schon in einem besonderen Zusammenhang gehört – ja, tatsächlich und ausgerechnet im „Weakest Link“ vor annähernd einem halben Jahr. Er hatte damals sogar bedauert, dass sie als drittletzte Spielerin aus dem Quiz ausschied. Ann hatte sie spitz gefragt, warum sie so einen ausgefallenen Namen für ihr „take away“ gewählt habe. Schlagfertig hatte sie pariert: „Das ist die Hausmarke für meinen Gastrobetrieb, keineswegs verwechselbar mit einem gewöhnlichen ‚take away’ – also so etwas wie Ihr ‚Weakest Link’.“
 
Nigella war verblüfft. „Das kommt doch nicht vor? Sind Sie mir nachgepirscht?“ fragte sie ihn misstrauisch. Hoch und heilig versicherte er ihr, dass dies keineswegs der Fall und auch nicht seine Art sei. Einzig der pure Zufall habe die Hand im Spiel! Hatte er ihr Misstrauen zerstreut?
 
„Es ist nicht das erste Mal, dass mich jemand verfolgt, und ich bin vorsichtig geworden“, sagte sie und schaute ihm mit erhobenen Augenbrauen noch immer ungläubig ins Gesicht.
 
„Ich glaube, ich muss weiterfahren“, sagte er mit fahler Stimme. „Ich hole bloss das Geld aus dem Auto“, wandte er sich zur Türe. Mit dem Geld in der Hand kam er zurück und bat sie um die Rechnung.
 
„Sie finden ein ‚B&B’ (,Bed and Breakfast', eine Art von Pension oder Hotel Garni) beim Ortsausgang“, meinte sie. Hatte er richtig gehört? „Es sei denn, Sie bevorzugen ‚bed and déjeuner’ hier bei mir.“
 
Sie hiess Irene und war französisch-irischer Abstammung. Zu oft hatte sie sich viel zu impulsiv und treuherzig hinreissen lassen und dabei etliche Enttäuschungen im Umgang mit Männern eingesteckt. Was fiel ihr ein, schon wieder einen solchen törichten „faux pas“ zu begehen! Längst schon glaubte sie sich von der echten Liebe ausgeschlossen. Vielleicht war sie dazu überhaupt nicht fähig, mutmasste sie öfters. Zum Glück durchbrach ihre überschäumende Lebensfreude immer wieder diese Schranke. Ganz besonders heute!
 
Von diesem Hintergrund hatte Aloys natürlich keine Ahnung. Auch er selbst war der wirklich echten Liebe nicht begegnet und erwartete sie nicht mehr. Sein Herz war wie eine Münze abgegriffen. Selten entäusserte er sich seiner Gefühle freimütig. Er musste zugeben, dass es diese Fee ihm angetan hatte. Wie so viele Menschen, lebte Aloys mit klein gedrosselten Empfindungen und unterdrückte somit sein ursprüngliches Naturell mehr und mehr. Gemeinhin wird das der Lebenserfahrung zugeschrieben.
 
Wie er ihr durch den Laden ins Wohnzimmer im Anbau folgte, hatten sie beide – ohne sich dessen bewusst zu sein – beschlossen, alles Gestrige einfach heute beiseite zu schieben, als hätten sie ihre Vergangenheit vergessen. Dem Augenblick galt Vorrang.
 
Irene stocherte im Kamin, bis die Kohlen aufglühten und legte Holz darauf. Die Flammen leckten und loderten auf. Nachher kam sie mit einer Flasche Rotwein aus der Küche zurück, „Beaujolais Nouveau“, sagte sie und reichte ihm die Flasche mitsamt Zapfenzieher. „Aufs Wohl!“ stiessen sie an.
 
Als das Programm genau Viertel nach Fünf begann, rätselten sie munter miteinander um die Wette, wer der Gewinner sein könnte. Zusammen konnten sie die meisten Fragen beantworten, doch hatte keiner ihrer bevorzugten Kandidaten das Spiel gewonnen. „Gegen das Ende wird viel zu taktisch gespielt“, bemerkte sie.
 
„Das macht nichts“, sagte er wohlig entspannt, „denn schliesslich sind wir diesmal die Gewinner und sollten das feiern.“ Er schenkte ihr Wein nach.
 
„So? Das hört sich ja ganz viel versprechend an“, sagte sie zurückhaltend. Er hörte aus ihrer Stimme, dass sie wieder auf der Hut war.
 
„Darf ich dich zum Abendessen einladen?“ fragte er sie. Er wollte ihr zu verstehen geben, dass er keine Nebenabsichten hegte.
 
„Bist du aber heisshungrig!“ staunte sie, aber nahm seine Einladung gerne an. Sie kenne ein Lokal, ein echtes „Bistro“, ganz in der Nähe, eine Viertelstunde mit dem Auto entfernt, ausgerechnet in Market Harborough.
 
Im Mantel und Wollschal vermummt erschien sie. Beim Aussteigen half er ihr nach: „Vorsichtig, es ist glitschig!“ Dabei fasste er sie behutsam beim Ellbogen. Nur nicht vorprellen, hämmerte er sich erneut ein.
 
Der Wirt begrüsste sie jovial und wies sie an einen Tisch in der Nähe des Kamins. Aloys half ihr aus dem Mantel. Irene hatte sich zum Ausgang gerichtet und trug jetzt eine weisse, offenherzige Bluse. Er befreite sie aus dem burgunderroten Jäckchen und legte es ihr über die Schultern. Ihr langes Haar wellte diesmal auseinander.
 
Sie hatten einen spielerisch-leichten, beinahe schäkernden Plauderton, angeschlagen. Dieser verhinderte allzu persönliche Fragen. Irene kam mit ihrem Gastro-Betrieb einigermassen über die Runden, erfuhr er. Jetzt, vor Weihnachten, war Hochbetrieb. Morgen musste sie ein Mittagessen für 40 Personen in einem Privathaus vorbereiten und auftischen.
 
Wäre das nicht eine Abwechslung, ihr dabei zu helfen? Sein Einfall fand ihr Ohr. „Wenn du den Sommelier spielen willst, warum auch nicht?“ willigte sie ein.
 
„Mein Geschäftsanzug wird hoffentlich meinem Auftreten als Mundschenk angemessen sein“, wandte er sich an sie, „und ausserdem helfe ich dir nachher beim Abräumen.“
 
Der Abend verstrich angenehm. Wieder in ihrem Wohnzimmer, wies sie ihn gegen die gepolsterte Bank beim Kamin und sagte: „Hier kannst du gut schlafen. Ich bringe dir noch eine Wolldecke. Inzwischen kannst du dich im Badezimmer im 1. Stock für die Nacht rüsten.“
 
Vor dem Einschlafen tauchte ein Gedanke auf, ein Wunsch vielmehr, der immer wieder wie ein Kehrreim in seinem Kopf rumorte: Er träumte von einem einfachen Leben, abseits der Hektik. Dieser Wunschtraum verstärkte sich jeweils gegen das Jahresende. „Wer weiss, vielleicht lässt sich das diesmal verwirklichen“, dachte er und schlief bald ein.
 
Irene war längst schon in der Küche beschäftigt, als Aloys aufwachte. Er bereitete sich gebührend für seinen Erstauftritt als Kellner vor und erweckte ihren Beifall, wie er im Anzug erschien. Ihr Gehilfe war ebenfalls in der Küche tätig. „Raymond, mein Bruder“, stellte sie ihn vor „Er hilft mir heute im Familienbetrieb aus, eine seltene Ehre.“ „Jetzt wird dir sogar doppelte Ehre erwiesen“, lachte Raymond aufgeschlossen.
 
„Versprochen ist versprochen“, sagte sie und tischte ihm das „déjeuner“ eine Stunde später als Kostprobe auf. Alles in allem erledigte er seine Pflicht beim geselligen Anlass diskret, und wie sie sich lobend ausdrückte „sogar mit viel ‚aplomb’“ (Selbstsicherheit). Irene flocht gerne französische Brocken ins Gespräch und war überrascht, dass er in dieser Sprache ebenfalls recht ordentlich zurecht kam. Er half beim Abräumen. Gegen 4 Uhr verabschiedete er sich von ihr und Raymond.
 
Bestens gelaunt fuhr Aloys nach Hause. Er musste sich gedulden, bis er Irene wieder sah. So benutzte er die Tage über Weihnachten und Neujahr zur Bestandesaufnahme seines Lebens. Warum nicht seine geschäftliche Erfahrung mit der Gastronomie koppeln?
 
Dieses Thema schnitt er flott an, als er Irene zum 2. Mal traf. Grundsätzlich schien sie seinem Vorschlag gegenüber nicht abgeneigt zu sein, aber meinte, dass sich so etwas nicht von einem Tag auf den andern bewerkstelligen lasse und sie beide Zeit brauchten, um einander besser kennen zu lernen. „Dann werden wir sehen, wie es weiter geht, wenn überhaupt“, beschloss sie weise.
 
So geschah es: Ihre Bekanntschaft gedieh –  und mehr noch, ihre Liebe auch. “J’ai des papillons“, gestand sie ihm eines Tages, als er sie ihn seinen Armen hielt. Das Pläneschmieden gewann Umrisse. In Market Harborough, genau gegenüber der Markthalle, war das Bistro, das sie übernehmen konnten, genau jenes, wo sie zusammen an jenem denkwürdigen Abend gegessen hatten.
 
Dort richteten sie sich ein. Das Schild „Déjeuner“ prunkte in Goldbuchstaben beim Eingang. Die Gäste blieben nicht aus, einerseits angelockt von Irenes Kochkünsten, anderseits von der„Entente cordiale“, die sie mit französischen Allüren vorantrieb – in diesem typischen englischen Marktstädtchen. Aloys lebte wieder auf, angesteckt von Irenes Frohnatur.
 
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