Textatelier
BLOG vom: 11.12.2005

Leitspruch des modernen Menschen: „Ich habe keine Zeit!“

Autor: Heinz Scholz
„Ich habe keine Zeit!“ Dieser abweisende Satz ist inzwischen zum Leitspruch des modernen Menschen geworden. Es gibt kaum eine Berufsgruppe, kaum einen Schüler oder Patienten, der zu viel von diesem „Gut“ hätte. Sogar Rentner, die alle Zeit der Welt haben, könnte man meinen, stöhnen über zu wenig Zeit. Dazu 2 Beispiele:
 
Als ich in Schopfheim D an einem Bahnübergang auf den durchfahrenden Zug wartete, gesellte sich ein etwa 70-jähriger Rentner dazu. Er beklagte sich, dass die Schranken mehrere Minuten unten blieben. „In der Zeit hätte ich schon meine Einkäufe erledigen können“, meinte der nervös auf und ab trippelnde Pensionär.
 
Vor einiger Zeit besuchte ich ehemalige Arbeitskollegen in der Firma Novartis in Wehr. Da die Pensionäre keinen Zugangsausweis mehr haben, muss man sich als Besucher in der Pförtnerloge anmelden. Der Pförtner notiert dann auf einer Liste die Namen des Gastes und des zu besuchenden Kollegen und die Ankunftszeit (später wird noch die Abgangszeit festgehalten).
 
Auch an diesem Tag war es so. Aber damit noch nicht genug. Jeder Besucher erhält eine Ausweiskarte, die sichtbar an einem Kleidungsstück befestigt werden muss. Als dann noch der betreffende Kollege per Telefon benachrichtigt wurde, konnte ich passieren. Ein damals 82-jähriger Pensionär, der zu gleicher Zeit mit mir in der Pforte war, beschwerte sich lauthals über diese langwierige Prozedur. Er sagte, er habe wenig Zeit, da er noch nach Lörrach fahren müsse. Dann schleuderte er dem „armen“ Pförtner, der ja nur seine Pflicht tat, folgende Worte entgegen: „Unverschämt diese Ausfüllerei, in der Zeit wäre ich schon längst in Lörrach!“
 
Dass der Zeitdruck auch zu Unfällen führen kann, ist wohl den Hetzenden nicht immer bewusst. Erst am Montag, dem 28. November 2005, wurde im Fernsehen von einer Kolonnenspringerin auf der Bundesstrasse berichtet, die einen schweren Unfall verursachte. Die unverletzt gebliebene Unfallverursacherin konnte zwar noch in eine Lücke einscheren, aber eine junge Autofahrerin, die ihr in einem Kleinwagen entgegen kam, bremste scharf, um eine Kollision zu verhindern. Der Wagen geriet ins Schleudern und stiess mit einem Jeep auf der Gegenfahrbahn zusammen. Der Kleinwagen wurde regelrecht auseinandergerissen. Die Fahrerin wurde lebensgefährlich verletzt, ihre beiden Kinder kamen ums Leben. Die Kolonnenspringerin gab an, sie sei unter Zeitdruck gewesen.
 
Sklaven der Zeit
Wir sind nicht wirklich frei, sondern alle Sklaven der Zeit geworden. „Und uns fehlt nur eine Kleinigkeit, um frei zu sein, wie die Vögel sind: nur Zeit“, meint treffend Richard Dehmel in seinem Werk „Der Arbeitsmann“. Hier liegt der springende Punkt oder das „hüpfende Komma“, wie Heinz Erhardt einmal sagte. Aber es ist nicht leicht, dies zu erkennen. Denn uns machen besonders die Zeitdiebe zu schaffen. Was versteht man darunter? Zeitdiebe sind Hast, Ungeduld, keine Ziele haben, oder übersteigerte Tagespläne, schlechtes Ablagesystem, mangelnde Motivation, die Unfähigkeit „Nein“ zu sagen, Ablenkung, Lärm, Desinformiertheit, Unentschlossenheit, allzeit alle Fakten wissen wollen, zeitintensive Telefongespräche führen usw.
 
Viele brauchen chronische Überlastung, um sich nützlich vorzukommen. Gerade die Rastlosen vertragen keine Ruhe, Stille oder Wartezeiten. Dazu ein Beispiel: Wir hatten früher einen überaus hektischen und rastlosen Betriebsarzt. Er wollte sich einen Termin bei einer Physiotherapeutin geben lassen (ich war damals zufällig im Wartezimmer und und war unfreiwilliger Zeuge). Er bekam einen Termin, den er ablehnte, dann wieder einen neuen, der war ihm wieder nicht recht. Er meinte, er habe keine Zeit. Am liebsten wäre es ihm, wenn er gleich drankäme. Auch in seiner Praxis verbreitete er Hektik und Unrast; nichts ging ihm schnell genug. Die Folge: Nach dem 3. Herzinfarkt segnete er das Zeitliche. Damals bemerkte ein Arbeitskollege sarkastisch: „Nun hat er eine Menge Zeit.“
 
Auch der erwähnte 82-jährige ungeduldige Pensionär, der sich an der Pforte beschwerte, hatte nur noch wenige Monate zu leben. Ein Blutsturz beendete sein rastloses Leben.
 
Eine gezielte Planung ist wichtig
Die Unfähigkeit, „Nein“ zu sagen, ist weit verbreitet. Oft trauen sich solche Menschen aus Angst, dass sie schief angesehen werden würden, wenn sie dieses Wort in den Mund nehmen sollten. Die Folgen sind gravierend: Man fühlt sich ausgenutzt und ärgert sich über sich selbst. Auch wird einem Zeit gestohlen, die man sinnvoller hätte nutzen können. Auch das richtige Planen ist von eminenter Bedeutung. Es gibt die eine Gruppe von Menschen, die „in den Tag hinein lebt“, und wiederum eine andere, die jede Kleinigkeit genau plant. Hier sollte man den Mittelweg einschlagen. Denn nur durch eine gezielte Planung kann die Zeit sinnvoll genutzt werden.
 
Der Beginn einer Arbeit ist am schwierigsten. Oft schiebt man Unangenehmes vor sich her. Erst, wenn kaum noch Zeit bleibt für deren Erledigung, wird die Arbeit angegangen. Von einer Journalistin erfuhr ich, dass sie diesen Druck braucht, um gute Arbeiten abzuliefern.
 
Der Druck ist jedoch auf Dauer schädlich; er führt zu permanentem Überdruck. „Nicht die Zeit, sondern das Tempo macht uns krank“, bemerkt treffend Manfred Molicki und fährt fort: „Gesünder lebt, wer sich die Spielräume für Entspannung und Besinnung schafft.“
 
Manche Zeitgenossen verzetteln sich auch, da sie mehrere Arbeiten gleichzeitig in Angriff nehmen. Kein Mensch kann dies tun, ohne dass die Qualität der Leistung leidet. Es ist also wichtig, dass man Prioritäten setzt.
 
Zeit fehlt auch den Menschen, die alles allein machen wollen. Hier ist es wichtig, dass Arbeiten delegiert werden. So mancher führt nichts zu Ende. Er beginnt zwar viele Arbeiten, schliesst sie aber nicht ab. Ein solcher Mensch lässt sich leicht ablenken und benötigt einen übertriebenen Zeitaufwand für die Erledigung überflüssiger oder unwichtiger Arbeiten.
 
„Man verliert die meiste Zeit damit, dass man Zeit gewinnen will“, sagte einst John Steinbeck. Und für manchen Menschen, der keine Zeit hat, ist der folgende Spruch von Georg Christoph Lichtenberg vielleicht zutreffend: „Die Leute, die niemals Zeit haben, tun am wenigsten.“
 
Wie verscheucht man Zeitdiebe?
Was kann man tun, um die Zeitdiebe zu verscheuchen? Dazu einige Zeitspartipps von Jörg Knoblauch:
 
Ein Zeitplanbuch führen, Ziele festlegen, richtig planen (den Weg zum Ziel festlegen), Prioritäten setzen, Gaben erkennen (sich nicht verschleissen in falschen Jobs), mit Liebhabereien entspannen, Lernen, zu anderen „Nein“ zu sagen, Wichtiges von Dringendem unterscheiden, Zeitlimiten setzen, den Arbeitsplatz gestalten, Ausfüllen von Leerzeiten, jedes Blatt Papier nur einmal in die Hand nehmen, richtig lernen, das Ein-Minuten-Lob (setzt Energien frei), methodisch den Medienkonsum drosseln, nicht zu lange schlafen, moderne Technik einsetzen (Diktiergerät, Laptops, Telefax). Auch sollte man seine Leistungskurve kennen. Nur so kann man die Arbeit richtig einteilen und bewältigen. Und bewegen Sie sich regelmässig. Denn durch Bewegung wird die Leistungsfähigkeit erhöht.
 
Wenn wir diese Zeitspar-Tips beherzigen, kann man von sich behaupten: „Ich habe Zeit!“ Aber schliessen möchte ich mit einem weisen Spruch von Seneca, der diesen bereits vor 2000 Jahren von sich gab: „Es ist nicht wenig Zeit, was wir haben, sondern es ist viel, was wir nicht nützen.“
 
Quellen
Molicki, Manfred: „Wege aus dem Zeitinfarkt“, UGB-Forum 6/05 (Thema dieses Heftes: „Antistress: Die Entdeckung der Gelassenheit“).
Molicki, Manfred „ZEITzeichen – Über den Umgang mit unserer Zeit“, Eigenzeit-Verlag, Königsfeld 2001
 
www.eigenzeit.de (Verlag-Infos)
www.haslachschule.de (Zeit-Informationen aus der Haslachschule)
www.zeitkultur.com (Impulse für einen anderen Umgang mit der Zeit)
 
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