BLOG vom: 29.12.2005
Londoner Rückblick 2005: Erfreuliches, Unverblümtes
Autor: Emil Baschnonga
Es war voraussehbar, dass bei den Jahresrückblicken 2005 in der Presse das Elend – wie jedes Jahr – vorherrschen und dem Leser in Raten verabreicht würde: Terrorakte, Irak, Naturkatastrophen, Hungersnot, Hühnerpest. „What next?“
Keine Angst, ich werde hier einen ganz anderen Rückblick halten. Selbst wenn ich lügen müsste, werde ich mich nur an Erfreuliches halten, soweit es das Unerfreuliche einschränkt. Ich beschränke mich dabei auf Grossbritannien und nenne einige Personen aus der beträchtlichen Schar der Aufrechten und Unbestechlichen, die sich im ablaufenden Jahr 2005 hervorgetan haben.
Ronald Scarfe ist ein englischer Karikaturist, der mit grotesker Freude und spitzer Tuschfeder seit langem schon und weiterhin viel Dünkel aufsticht. Dieses Jahr erschien sein Sammelband „Drawing Blood: 45 Years of Scarfe Uncensored“ (Blut abzapfen: 45 Jahre Scarfe unzensuriert).
Scarfe hatte seine Streitaxt auch gegen Mary Whitehouse geschwungen, die einst gegen die BBC loszog, um die moralische Fiber der Nation zu schützen. Sie vertrat die Meinung: Pornographie muss zensuriert werden. Basta. Damit wird jedoch ein Übel mit einem grösserem (Zensur) ausgetrieben.
„Die Mrs. Mary, die Gerechte, erklärt ihre Position vor dem Papst“ ist die Unterschrift zur Scarfes Karikatur. Er zeigt, wie sich die ehrenwerte Dame vor den Augen des Papsts dem Zensor hingibt … Das Gute daran ist, dass Mary Whitehouse wie auch Ronald Scarfe ihre Meinungen ungehindert ausdrücken konnten. Hoffentlich bleibt das auch weiterhin so.
Tapfere bis wagemutige Journalisten brauchen kein Blatt mehr vor den Mund zu nehmen, um die krassen Lügen der Politiker zu entblössen. Bagdad-Korrespondenten wie Caroline Hawley, Jim Muir, Alastair MacDonald, unter vielen anderen, haben die Tatbestände im Irak ohne Weisswäscherei blossgelegt. Das ist ein Lichtblick!
Brian Sewells messerscharfer Verstand als Kunstkenner und Zeitkritiker hat viele Pfuscher und Prahler auseinander genommen und erst noch Schiefbilder, verursacht durch den Zusammenprall der Zivilisationen, ins Lot gebracht. Obendrein ist er ein Tierfreund, der sich für die Rechte der Tiere einsetzt. Auf ihn als Verfasser von oft „unpopulären Essays“ ist Verlass. Nochmals ein Lichtblick – diesmal aus seiner scharfen Wortfeder.
Das darf nur ein Schotte wagen: Die Engländer so unverblümt aufs Korn zu nehmen, wie es AA Gill in seinem Artikel „I hate England“ („Ich hasse England“, am 30. 10. 2005 in der „Sunday Times“ erschienen) gewagt hat. Und nur der waschechte Engländer versteht es, seinen Ärger mit seinem ausgeprägten Sinn von Fairness, Selbstkontrolle und einer Dosis Humor zu schlucken.
Das Erfreuliche an Gills Tirade ist, dass er die Engländer zwischen den Zeilen lobt, ja sogar in Schutz nimmt. Die englische Lebensart muss vor weiteren Einbrüchen der Radaubrüder geschützt werden. Dazu hat Gill einen erfreulichen Beitrag geleistet.
Es ist ein gutes Zeichen und allgemein erfreulich, dass sich der zivilisierte Engländer mehr und mehr an lecker zubereiteten Gerichten erfreut, aufnahmefähig war er schon seit jeher für Curry.
Gourmet-Kochbücher sind dieses Jahr zu Bestsellern geworden, wie etwa „Feast“ (Nigella Lawson), „Jamie’s Kitchen“ (James Oliver). Die Kochkünste werden wie Messen im Fernsehen zelebriert. Dazu kann ich bloss guten Appetit wünschen.
Hinweis auf den weltpolitischen Jahresrückblick 2004
31. 12. 2004: „Bilanz 2004: Überhaupt nichts im Griff“
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