Textatelier
BLOG vom: 25.06.2006

Arme Verkehrskadetten im Wintertenu an der Tropensonne

Autor: Walter Hess
 
Vor unserem Haus in Biberstein AG (Schweiz) drehen seit Samstagnachmittag und seit heute Sonntag früh Radfahrerinnen und Radfahrer Runde um Runde. Bei Tropenhitze. In Rudeln oder einzeln kommen sie die Unternbergstrasse hinuntergerast. Das Geräusch der Pneus auf dem heissen Asphalt erinnert mich an eine Windböe, die kommt, verschwindet. Die Fahrerinnen und Fahrer sind nach vorne eingeknickt, um den Luftwiderstand zu verringern. Eine unglaubliche Leistung, ein Härtetest sondergleichen. Im Moment zeigt mein Thermometer am Schatten 28,5 °C am Schatten; doch die Raserei, die sich nicht um die 50-km-Beschränkungen zu kümmern scheint, findet auch an der prallen Sonne statt.
 
Am Samstag soll die 30-jährige Annette Beutler aus Heimenschwand ihren ersten Schweizer Meister-Titel auf der Strasse geholt haben. Sie besiegte nach Medienberichten im Spurt mit Nicole Brändli diese mit 3 Velolängen Vorsprung in Aarau. Auf der letzten der 6 Runden unter mörderischen Umständen musste die dreifache Strassenmeisterin Nicole Brändli erbrechen. Sie blieb hart: 10 km später, bei der Zieleinfahrt nach 106,6 km, kam ihre Spurtstärke zum Tragen, aber zum Sieg reichte es doch nicht ganz. Bei den Männern gewann nach 8 Runden (140,8 km) Maxime Beney (Vevey) vor Mathias Frank (Roggliswil) und Silvère Ackermann (Lajoux). Bei den Juniorinnen (3 Runden, 52,8 km) war Fabienne Sommer (Remigen) am tapfersten beziehungsweise am schnellsten.
 
Ich kenne sie alle nicht, und man weiss nicht, wie die Menschen aussehen, die an einem vorbeirasen – man sieht vom Kopf fast nur den Helm – und alles geht viel zu schnell. Die Strecke ist gut gesichert, damit sich nicht private Geisterfahrer auf sie verirren. Und genau davon will ich erzählen, weil ja eine kritische Sportberichterstattung fehlt. Zur Streckensicherung wurden unter anderem Verkehrskadetten aus dem Kanton Zürich eingesetzt, eine sicher begrüssenswerte Einrichtung. Es sind meist zuverlässige Jugendliche, die in den letzten Schuljahren noch einen kleinen Nebenverdienst haben möchten.
 
Am Samstagnachmittag stand ein Mädchen aus dem Säuliamt, das im Herbst 2006 seine Schulzeit beendet, am Strassenrand unter unserem Haus – bei Bruthitze. Ihr Tenu nach Vorschrift des Schweizerischen Verkehrskadetten Verbands: hohe schwarze Schuhe mit Gamaschen, schwarze Hosen (Beinkleid), eine orangefarbene Jacke mit VK gekennzeichnet und mit Leuchtstreifen, die selbst Sturmwettern getrotzt hätte, weisse Handschuhe (Armstulpen) und eine Art schwarzer Filzhut („uniformentaugliche Kopfbedeckung“ – statt eine hitzetaugliche ...) Bei Tropenhitze! Eine Bekleidung, die kein vernünftiger Mensch in den Tropen tragen würde.
 
Nach kaum einer Stunde stützte sich das leidende Mädchen, das seinen Platz nicht verlassen durfte und Gegenverkehr zu verhindern hatte, kreidebleich auf den Wegweiser „Langenrain“ ab. Da ich im unteren Teil unseres Gartens tätig war, beobachtete ich das zufällig. Ich holte den Wasserschlauch und lud die von Übelkeit geplagte Verkehrskadettin ein, sich unterhalb unserer Mauer hinzustellen. Sie nahm den Hut vom Kopf und genoss die Dusche von oben offensichtlich. Das tat ihr gut. Ich sagte, sie müsse aufpassen und viel trinken. Und machte sie auf einen Brunnen mit frischem Bibersteiner Quellwasser im oberen Teil des Langenrains aufmerksam. Ich machte sie auf die Gefahr eines Hitzeschlags aufmerksam. Sie habe schon einmal einen gehabt, sagte die junge Dame. In regelmässigen Abständen setzte ich die Dusche für sie in Betrieb.
 
Ich verstehe die Welt nicht mehr. Heute Sonntagmorgen ab 5 Uhr stand ein junger Bursche in der gleichen Montur an der gleichen Stelle – bei steigenden Temperaturen – für 6 Franken pro Stunde, wohl etwa 15 Stunden lang, wobei nur die Einsatzzeit bezahlt wird, nicht aber die Zeit für An- und Rückfahrt. Ich fragte ihn, ob er nicht wenigstens absitzen dürfe – aber das sei nicht gestattet, antwortete er.
 
Man spricht heute viel von Sicherheit, von Verkehrssicherheit. Für die Radrennfahrer ist diese bei Abwärtsfahrten sicher an einem kleinen Ort, Schutzhelm hin oder her. Stürzt einer, stürzen viele. Aber daran kann ich wohl nichts ändern. Aber ich nahm mir vor, mich mit einem Blog für die Verkehrskadetten einzusetzen und deren Betreuer inständig und dringend zu ersuchen, für eine luftige Sommeruniform und eine Sonnenschutzeinrichtung besorgt zu sein. Wenn Jugendliche schon für ein Trinkgeld ihre Freizeit opfern, besteht für ihre Betreuer die Pflicht, auch für deren Sicherheit besorgt zu sein. Sicherheitsphilosophien können nicht allein darauf ausgerichtet sein, Zusammenstösse zu verhindern. Hitzschläge (Sonnenstich) sind Hitzestaus im Körper und reizen die Hirnhäute, und im Extremfall kann das bis zum Tode führen. Und wenn sich die Körpertemperatur über 42 °C erhöht, wird das Zentralnervensystem geschädigt. Das sollte in der Sportbranche eigentlich bekannt sein. Ich hoffe nicht, dass junge Menschen weiterhin aus Gedankenlosigkeit aufseiten der Verkehrskadetten-Betreuer weiterhin solchen Torturen und Gefahren ausgesetzt werden. Sonst müsste man die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.
 
Am Strassenrand fand ich eine leere Tube, die einer der Radfahrer weggeworfen hatte: „SPONSER ENERGY PLUS“ steht darauf, ein „koffeinhaltiges Energiekonzentrat mit Taurin, Natrium, Kalium und Vitaminen“. Ich habe Verständnis dafür, dass die Rennfahrer sich mit Kraftkonzentraten über die Runden bringen müssen. Aber mit einer Gesundheitsförderung hat dieser Raubbau am Körper zweifellos nichts zu tun. Es tut mir Leid, dass zudem noch junge Menschen am Strassenrand, die für Sicherheit sorgen, unter diesem vollkommen überdrehten Sportbetrieb zu leiden haben. Das ist eine sträflich eindimensionale Sicherheitsphilosophie, die angeprangert werden muss.
 
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