BLOG vom: 26.08.2006
Löffelkunde: Ganz Ohr für die Sprache der Ohrmuscheln
Autor: Emil Baschnonga
Auch heute, wie schon den ganzen Sommer hindurch, wird auf der Baustelle nebenan gehämmert, geschmirgelt, der Betonmischer krächzt dazwischen, der Bauschutt poltert in den Lastwagen, der Bagger und der Pressluftbohrer halten obendrein ohrenbetäubend mit. Darüber werde ich selbst zum Poltergeist, was zum Glück in diesem Blog nicht laut- oder ruchbar wird.
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Leider lassen sich die Ohren nicht einfach schliessen wie die Augen. Man muss sie entweder mit den Zeigefingern links und rechts zuhalten oder mit Ohrstöpseln zustopfen. Ersteres ist bemühend, da ich diese Finger jetzt zum Schreiben brauche; letzteres löst leicht Ohrensausen aus und wirkt sich nachteilig aufs Denken aus.
Manchmal springt die Natur mit viel Ohrenschmalz ein. Das wäre als Dauerzustand unerträglich. Derart verstopfte Ohren werden am besten fachgerecht ausgespült, damit das Trommelfell unbeschädigt und unser Musikgehör erhalten bleibe. Verschiedentlich wird empfohlen, sich Bohnen in die Ohren zu stopfen. Wehe, wenn man sie nicht mehr herausklauben kann! Die Keimfreude der Bohnen kennt keine Grenzen ...
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Die Ohrmuscheln sind so vielfältig wie die Muscheln im Meer. Was lässt sich aus ihnen ablesen? Es gibt gelehrte Abhandlungen darüber, wonach etwa knorpelige Ohrmuscheln auf Starrsinn deuten. Dieser Knorpel verhärtet sich mit zunehmendem Alter und führt zum Altersstarrsinn.
Weiche, biegsame Ohren sind den Kindern eigen, da sie aufnahmefähig sein müssen, oder so sein sollten. Fortschrittlich gesinnte Lehrer gaben ihnen seinerzeit gerne ein Paar auf die Löffel, damit sie „hörig“ werden. Das hat schon damals selten gewirkt und ist heute verboten, genauso wie die mit dem biegsamen Bambusröhrchen verabreichten „Tatzen“ (Schlag auf eine Hand).
Bei Erwachsenen verraten elastische Ohren Charakterschwäche, so gut wie etwa ein fliehendes Kinn. Ehe ich die Leser und Leserinnen – und mich auch, denn ich habe „floppy ears“ – mit solchem Blödsinn verärgere, gehe ich lieber nicht auf abstehende, rote, grosse oder spitze Teufelsohren oder lange Eselsohren ein, sondern behaupte waghalsig, dass es auch schöne Ohren gibt, zierliche mit wohlgeformten Ohrläppchen wie die der Madonnen aus der Gemäldegalerie der Renaissance.
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Der Coiffeur fragt mich: „Soll ich Ihre Ohren frei lassen?“ Das Haar ist mir wie immer über die Ohren gewachsen. Ich lasse mich in der Regel erst scheren, bevor ich eine Geschäftsreise antrete oder an einem wichtigen Anlass teilnehme. Die Gluthitze dieses Sommers jedoch trieb mich zwischenhinein zum Coiffeur, als er wiederum diese dumme Frage stellte. „Nein“, antworte ich, „nur ein bisschen stutzen.“ Der Grund ist offensichtlich: Ich habe die grossen Ohren meines Vaters geerbt. Das deute ich persönlich als Zeichen von Intelligenz … Doch die grossen Ohrläppchen haben mir einige Lehrer gezupft. Das neutralisiert wieder meinen Anspruch auf Intelligenz.
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Frauen haben es in dieser Beziehung gut: Sie tragen ihre naturgewachsenen Ohrenklappen und verbergen damit ihre Erbsünden. Darunter darf sich ein schmuckes Ohrenanhängsel sehen lassen – ein Augen- und Ohrentrost zugleich.
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Können Sie mit Ihren Ohren wackeln? Ich habe es in dieser Kunst weit gebracht. Eben überzeuge ich mich nach langer Zeit, ob ich diese Gabe noch habe. Ja, voll und ganz: Sogar die Brille wackelt mit!
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Wir alle müssen uns hin und wieder etwas hinter die Ohren schreiben. Das fällt schwer, weil das Hinterohr nicht zum eigenen Notizblock taugt. Diese Hilfeleistung besorgen uns andere und benutzen dazu eine schmerzhaft spitze Feder.
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Vor Leuten, die es faustdick hinter den Ohren haben, sei gewarnt. Sie treten bieder und vertrauenswürdig auf und lullen besonders jene ein, die noch grün oder feucht hinter den Ohren (unerfahren) sind. Sie werden nach bekannter Redensart übers Ohr gehauen.
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Der moderne Mensch hält sich überall das Handy vors Ohr und quatscht dabei so laut, dass jedermann weiss, dass er momentan unterwegs zur Busstation ist und in rund einer halben Stunde sein Nachtessen erwartet. So ein Despot! Diesem lauten Geplapper der Dauerschwätzer ist schwer zu entkommen. Erst neulich wurde diese Handysucht als Krankheit erkannt. Inzwischen ist das Ohr auch zur Steckdose fürs iPod (MP3-Player) geworden. Früher steckte man einem schreienden Buschi einen Nuggi in den Mund, heute – zwar habe ich es noch nicht gesehen – wird ihm ein iPod verpasst.
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Inzwischen wurde der Baulärm draussen für heute eingestellt. Ich öffne das Fenster, spitze die Ohren und geniesse das Gezirpe der Vögel.
Hinweis auf weitere Feuilletons zum Thema Ohren von Emil Baschnonga
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