Textatelier
BLOG vom: 16.10.2006

Gletscher-Exkursion 2: Innen im Rhonegletscher tropft es

Autor. Walter Hess, Biberstein CH
 
Beim heutigen Zustand der Alpenpassstrassen und mit dem Komfort wie einer präzisen, elektromechanisch unterstützten Servolenkung moderner Autos im Verbund mit einer guten Bodenhaftung ist das Befahren von Strassen, die sich an Berghängen winden, ein müheloses Unterfangen, wesentlich anspruchsloser als das Zirkulieren in einer Stadt. Und so sind die Alpen kein ernstzunehmendes Hindernis mehr, wenn man nicht unbedingt zwischen Lastwagenkolonnen durch das Gotthard-Nadelöhr schlüpfen muss oder es gerade Winter ist. Den harten Wintern wirkt gerade die Klimaerwärmung entgegen.
 
Über den Furkapass
Auf dem Weg ins Oberwallis (Goms, nach Fiesch mit anschliessender Aletsch-Exkursion) haben wir die Strasse zum Gotthardpass im Urserental bei Andermatt Richtung Furkapass (2436 m ü. M.) verlassen; die Furkapass-Strasse ist bis Gletsch im Wallis 31 km lang. Nach einigen Blicken zurück zum Gotthardmassiv und zum Oberalppass fühlt man sich nach etwa 7 Kehren mit den vielen Schneebergen wie dem Weisshorn, der Mischabelgruppe und in weiter Ferne mit dem unverkennbaren Matterhorn auf Du. Die Furkapass-Höhe ist ausserordentlich niederschlagsreich; es soll eines der feuchtesten der Schweiz überhaupt sein, und etwa 2/3 der Niederschläge fallen als Schnee – eine an und für sich günstige Voraussetzung für die Gletscherbildung. Während unserer auch terminlich sorgfältig geplanten Reise gab es lupenreinen Sonnenschein. Vom November bis zum Mai werden die Verkehrsbedürfnisse jeweils durch den Tunnel der Furka-Oberalpbahn (zwischen Realp und Oberwald) abgewickelt; hier verkehrt übrigens auch der berühmte Glacier-Express St. Moritz−Zermatt.
 
Zwischenhalt beim Belvédère
Auf der westseitigen Zickzack-Fahrt passabwärts haben wir nach wenigen Minuten auf 2272 m Höhe beim Berghotel Belvédère mit seinem nostalgischen Äusseren und den ebensolchen Zimmern angehalten. Dort, ganz in der Nähe des Rhonegletschers und seiner künstlichen Eisgrotte, gibt es Parkplätze in Fülle − im Winter liegen allerdings bis zu 10 m Schnee darauf. Dem kurzen Weg zum untersten Gletscherbereich ist ein ausgedehnter Kiosk („Eisgrotten-Bazar“) vorgelagert, in dem man sich neben Souvenirs auch mit Landkartenmaterial und der Broschüre „Der Rhonegletscher und seine Eisgrotte“ von Martin W. Carlen eindecken kann. Sie kostet 9,50 CHF und ist letztmals 2003 von den Touristischen Betrieben am Rhonegletscher, CH-3999 Belvedere am Furkapass VS, herausgegeben worden. Das Büchlein bietet gute Angaben zur Historie des Gletschers, und darin sind auch viele wissenschaftliche Messresultate und eine kleine allgemeine Gletscherkunde enthalten. Die etwa 105 Gletscher der Schweizer Alpen werden von der Gletscherkommission der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften beobachtet und vermessen.
 
Die 200 m zum Gletscher
Man bezahlt im Bazar 5 CHF Eintrittsgebühr pro Person und kann sich dann über einen Weg bzw. über Holzstege neben Steinen hinunter zum und sogar in den Rhonegletscher begeben.
 
Unterwegs zum Gletscher (es sind bloss etwa 200 m) machen 2 kleine Plakate mit historischen Fotos (1947 und 1996) auf den Gletscherschwund aufmerksam, ein Vorkommnis von geradezu dramatischen Dimensionen. Damals war der Grotteneingang dort, wo es längst kein Eis mehr gibt. Hier erleben Reisende besonders einprägsam die Auswirkungen der Klimaerwärmung. Noch vor 200 Jahren reichte die Gletscherzunge bis hinunter nach Gletsch (1757 m ü. M.) mit dem grossen Hotel Glacier du Rhône, wo auch der Grimselpass seinen Anfang nimmt, und vor 13 500 Jahren reichten die Eismassen sogar bis Brig. In der Eiszeit war der Rhonegletscher grösser noch als der Aletschgletscher. Besucher, die vor wenigen Jahrzehnten oder gar wenigen Jahren letztmals hier gewesen waren, zeigten sich über den Gletscherrückzug bass erstaunt.
 
Der ehemalige Gletscherfall, eine steil abfallende Eiswand wie ein gefrorener Wasserfall gegen Gletsch, war es wohl gewesen, der Johann Wolfgang von Goethe zur Feststellung bewogen hat: „Er (der Rhonegletscher) ist der ungeheuerste, den wir so ganz übersehen haben.“ Der berühmte Dichter wäre heute von den Restbeständen an dieser Stelle zweifellos weniger überwältigt. Doch das Erlebnis, mit dem Gletscher in Tuch- sprich: Eisfühlung zu sein, ist noch immer aussergewöhnlich und beeindruckend.
 
Die Bedeutung der Gletscherbäche
Nahe beim „Belvédère“ ist also der Eisabbruch – dort geht es steil ins Tal hinunter. An jener Stelle ist im August 1990 ein Rieseneisstück abgebrochen, so dass sich der Gletscher auf einen Schlag um 50 m verkürzte. Am 8. Oktober 2006, dem Datum unserer Besichtigung, hielt sich die Gletscherzunge in sicherer Distanz zum Belvédère-Abgrund auf, und ein ergiebiger Gletscherbach, der sogleich Rhone genannt werden wird, floss wie ein immerwährender Speichelstrom unter der Zunge hervor und etwa 50 m zwischen geschliffenen Steinen, bevor er in die Tiefe stürzt. Hätte man es nich so gelernt, würde niemand ahnen, dass daraus ein 812 km langer Strom werden wird, der zweitlängste und wasserreichste von Frankreich, der von Lyon an schiffbar ist. Die Rhone ist zudem durch Kanäle mit Rhein, Seine, Loire und dem Hafen von Marseille verbunden.
 
Gletscherbäche sind Attraktionen, Kostbarkeiten des Hochgebirgs, die hier Wesentliches zur Regulation des Wasserhaushalts beitragen. Sie sind genau in warmen Zeiten besonders aktiv, wenn kaum Niederschlag fällt; dann ist die Gletscherablation (Schmelzwasserbildung) am ergiebigsten und daher auch von hohem ökologischem Interesse und Wert. Sie gleichen also den Wasserhaushalt aus. Für das Wallis insgesamt, ein niederschlagsarmer Kanton, ist die schäumende Gletschermilch von besonderer Bedeutung; dieser Kanton hat nur etwa halb so viele Niederschläge wie die Schweiz im Durchschnitt und muss vielerorts mit seinen „heiligen Wassern“ künstlich bewässert werden. Dass die Gletscherbäche mit der Zurückbildung der Gletscher, die an sich gefrorene Speicherseen sind, ebenfalls mit der Zeit verschwinden werden, ist eine logische Folge, die noch kaum ins allgemeine Bewusstsein vorgedrungen ist. Selbstverständlich spielen bei Gletscherbächen auch landschaftliche Reize eine Rolle.
 
Die Gletscherzungenränder des Rhonegletschers hatten tiefe Klüfte (Randspalten). Das Eis war teilweise mit grauen Ablagerungen von Sand und Staub bedeckt, unter anderem weil die Luft auch in höheren Lagen nicht frei von Partikeln wie Feinstäuben ist. Es wirkte in Vertiefungen blau, weil das Rot des Sonnenlichts vorzeitig ausgefiltert wird. Graue Stellen auf der Eisoberfläche absorbieren mehr Licht als schneeweisse – noch ein Beitrag zur Erwärmung.
 
Von hier aus zieht sich der im Mittel etwa 2,2 km breite Gletscher rund 10 km bergan (seine Gesamtfläche: 17,5 km2) – gesäumt von Tieralpstock im Westen, dem Dammastock imNordosten und dem Galenstock im Osten. Die Gletscherzunge zeigt ziemlich genau gegen Süden. Selbstverständlich wäre es ein faszinierendes Unterfangen, dieses Gebiet zu erwandern. Auskünfte: www.gletscher.ch. Ich habe mir das vorgemerkt.
 
Höhlenforscher vor!
Im Sonnenlicht des späten Vormittags erstrahlte das im Rahmen des aktuellen Grottenweiterbaus herausgebrochene Eis dafür in reinem Weiss. Der äussere Grottenteil leuchtet manchmal in einem wunderschönen Azurblau.
 
Solche Grotten im Aletschgletscher sind seit über 160 Jahren als Touristenattraktionen vorgetrieben worden. Der Eingang zur Eisgrotte 2006 beim Belvédère war über einen Steg aus Brettern zu erreichen. Und dann kam man in einen knapp 100 m langen Gang mit einem etwa 2 m hohen Gewölbe und einer Breite, die ein Kreuzen von 2 Menschen mit landesüblichen Massen problemlos zulässt. In der Mitte des Tunnels sind eine Ausweitung und ein ins Eis geschnittenes Kunstwerk „Panta rhei“ anzutreffen: Alles fliesst, eine altgriechische Erkenntnis – und das tun bekanntlich auch die Gletscher. Das Eis unter der Plastik bildete einen Behälter für das abtropfende Schmelzwasser. Und daneben standen ein Holzfass und eine Flasche mit Eiswein.
 
Der Rhonegletscher macht dem Panta rhei so viel Ehre, dass die Brücke vor dem Eisgrotteneingang im Sommer jede Woche etwas nach oben verschoben werden muss, und auch der Holzsteg in der Grotte muss ständig neu eingefügt werden. Zudem muss die Grotte in jedem Frühjahr wieder ins Eis getrieben werden, weil die alte abgewandert ist und die Gänge schräg geworden sind. 30 bis 40 m macht die Eisbewegung dort pro Jahr aus.
 
In der Grotte herrscht normalerweise eine Temperatur um 0 °C, und wenn viele Besucher sich drinnen stauen, wirken diese als kleine Öfen und tragen zur Temperaturerhöhung bei – überall findet man also den gleichen Effekt. Vor uns amüsierte sich gerade eine Gruppe aus quirligen Japanern, die sich vor Kameras in Position setzten und die beiden Arbeiter, die mit einer elektrischen Stihl-Kettensäge den Eistunnel nochmals etwas vorantrieben, möglichst ins Bild einbezogen.
 
Die Männer führten dann das herausgebrochene, 200 bis 300 Jahre alte Eis auf einem kleinen Raupentransporter IBAE IBT 500 mit Benzinmotor ins Freie, was die Alpenluft in der Höhle nicht eben verbesserte. Aber das musste halt sein. In der Grotte fiel der eine oder andere Wassertropfen zu Boden, die Tränen des Gletschers, der seine Existenz von allen Seiten bedrängt fühlt.
 
Die dort anspruchslos lebenden so genannten Gletscherflöhe, millimetergrosse Springschwänze, die als bewegliche Punkte auf dem Eis bei genauem Hinsehen sichtbar sind, dürften durch die höheren Temperaturen eine etwas verbesserte Bewegungsfreiheit gewinnen ... falls die Sache mit der Erwärmung nicht übertrieben wird und sie gleich weggespült werden.
 
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