Textatelier
BLOG vom: 29.01.2007

Aktualisierter Paracelsus: Vom Glauben und Aberglauben

Autor: Walter Hess, Biberstein CH
 
Den Aberglauben – also den falschen Glauben an übernatürlich wirkende Kräfte – gab es zu allen Zeiten. Die Frage ist nur, welches denn der richtige und welches der falsche Glaube sei. Das ist weitgehend eine Glaubenssache.
 
Der heutige Glaube an die Notwendigkeit des unaufhörlichen Wirtschaftswachstums ist so ein Aberglaube. Der Glaube an die Allheilkraft synthetisch hergestellter Medikamente hat sich ebenfalls als ein Irrglaube herausgestellt; allein schon der Umstand, dass sie ständig von Warnhinweisen begleitet sein müssen („Dies ist ein Heilmittel“ ... da wird bereits zu Vorsicht aufgerufen – man muss Ärzte und Apotheker dazu befragen und schauerliche Packungsbeilagen lesen), ist ein Beweis dafür. Als Aberglaube werden sich zweifellos die Wohltaten erweisen, die man sich aus Genmanipulationen verspricht beziehungsweise die zur Lockermachung von Forschungsgeldern versprochen werden. Bisher sind schliesslich noch alle menschlichen Eingriffe ins Naturgefüge inklusive all die „Korrektionen“ schief gegangen, wie der desolate Zustand unserer Biosphäre lehrt.
 
Soll man den grossen Ärzten aus vorangegangenen Jahrhunderten oder Jahrtausenden einen Strick drehen oder für sie eine Scheiterbeige aufschichten, weil sie wie etwa Theophrast Bombast von Hohenheim (1493–1541), der sich selber Paracelsus nannte, mit einem Bein noch im so genannt abergläubischen Mittelalter, mit dem anderen aber bereits in einer so genannt aufgeklärten Gegenwart standen? Im Gegenteil: Gerade diese Spannweite der Betrachtungsweise war von einem enormen Vorteil, denn das Wesentliche an der Kräuterheilkunde des Paracelsus waren nicht vorgegebene etablierte Ansichten, sondern seine reichen Erfahrungen aus der Tradition der Volksmedizin, die er ununterbrochen auszuweiten trachtete und die er in sein breites Denksystem einzubauen verstand, auch wenn sie noch so unglaublich und unverständlich zu sein schienen.
 
Vom Volk lernen
Vom gewöhnlichen Volk könne man mehr lernen als in höheren Schulen, war eine seiner Devisen. Paracelsus nutzte also neben den eigenen auch die Erfahrungen und Überlieferungen des Volks. Er setzte sogar Voodoopuppen, rituelle Beschwörungen oder Amulette ein, eine vor allem für ihn gefährliche Sache, die leicht auf die Scheiterhaufen geführt haben könnte; vielen seiner Schüler traf dieses von den christlichen Machthabern betriebene Terrorsystem zur Niederhaltung selbstständiger, abweichlerischer Denker.
 
Die Folge der Unterdrückung des offenen, freidenkerischen Bemühens war ein sträflich reduktionistisches Welt- und Wertesystem, nach dem heute sogar die Weltpolitik unter US-Führung funktioniert: Unkritische Mitläufer sind gut, eigenständige Unangepasste sind böse. Und wer gut ist, das bestimmen die Guten selber, welche sich zudem legitimiert fühlen, die Bösen zu foltern und zu vernichten, ohne dabei von ihrer Güte einzubüssen, merkwürdigerweise, oder zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die dualistische, manichäische Denkweise übertrug man auf die Natur, wo die Pflanzenwelt in Kräuter und Unkräuter eingeteilt wurde, und die Tiere wurden in die unnützen (oft dämonisierten) Wildtiere und die nützlichen Nutztiere unterteilt; die Wölfe und Bären bekommen das noch heute schmerzlich bis tödlich zu spüren.
 
Die Aufteilung in nützliche Bestandteile und lästigen Ballast zusammen mit dem Hang zur Reinheit und Weissheit infiltrierte auch in die ganze Medizin und zudem die Ernährungslehre. Wirkstoffe, die in einem natürlichen Verbund und damit in einer wunderbaren Ausgewogenheit waren, wurden isoliert, das heisst aus dem Zusammenhang gerissen, der ihnen ganz andere Eigenschaften verliehen hatte. Von den Getreidekörnern wurden bloss noch die weissen Mehlkörper zu Brot verbacken; der Reis wurde geschält, das Meersalz von all den lebenswichtigen Bestandteilen befreit und die Natur als mechanistisches Räderwerk verstanden. Die unsichtbaren Ebenen wurden negiert.
 
Noch die Alchimisten hatten sich nach diesem grundlegenden Gedanken ausgerichtet: „Alles ist Geist, alles hat einen geistigen Ursprung.“ Auf einer geistigen Ebene ist somit alles miteinander verwandt. Es ging also den Alchimisten nicht einfach um die Umwandlung von Blei in Gold, sondern um Umwandlungen und Verwandlungen auf einer höheren Ebene, ohne dass sie alle ihre Ziele erreichen konnten. Besonders bei der Goldproduktion hatten sie sich etwas übernommen.
 
Das Paracelsus-Buch aus dem AT Verlag
Unsere banalisierte Welt hat es immerhin zu einigen technischen Errungenschaften wie dem Buchdruck und der Digitaltechnik gebracht; doch wären diese an sich kein Grund dafür, die geistige Welt, gewissermassen die Spiritualität (Geistigkeit) oder gar den Spiritualismus, der die Wirklichkeit als Erscheinungsform des Geistes betrachtet, zu ignorieren. Da dies in unserer modernsten aller Welten fast alle tun, ist eine Begegnung mit dem weitschweifigen, grenzübergreifenden Gedankengut von Paracelsus umso faszinierender.
 
Der mit allen Wassern alternativwissenschaftlicher und -heilkundlicher Erscheinungsformen gewaschene AT Verlag in Baden AG (früher: Aarau) hat mit der Herausgabe eines rund 450 Seiten umfassenden Buchs „Die Kräuterheilkunde des Paracelsus. Therapie mit Heilpflanzen nach abendländischer Tradition“ die wichtigsten Voraussetzungen dazu in einer prächtigen Aufmachung und mit einer guten Bebilderung zur Verfügung gestellt. Die Autoren sind Olaf Rippe und Margret Madejsky, Gründungsmitglieder der Natura Naturans, der Arbeitsgemeinschaft für traditionelle abendländische Medizin in München (www.natura-naturans.de).
 
Die Autoren stellen Paracelsus noch 500 Jahre nach seinem Wirken als „unerschöpfliche Quelle der Inspiration für die Naturheilkunde“ dar und leben damit genau nach dem Vorbild des Meisters, indem sie Erfahrungswissen aus der Signaturenlehre (Heilmittel als Spiegelbild der Krankheit), der Metaphysik, der Alchimie (siehe oben), Magie und Astrologie ebenso wie Überlieferungen von Bauerndoktoren, Volksmedizinern und Zigeunern in ihren Wissensschatz einfliessen lassen und auf Gültigkeit und auf Brauchbarkeit hin überprüfen. Sie halten in dem Buch Rezepte und Hintergrundinformationen fest und schufen so auch ein hervorragendes Nachschlagewerk für alle, die sich fürs naturheilkundliche Erfahrungswissen interessieren und die zu wissen bekommen möchten, in welchen modernen Zubereitungen dieses noch angewandt wird. Die Lage ist komplex, zumal Krankheit und Heilung ein multifaktorielles Geschehen sind.
 
„Wermut tut dem Magen gut“
Nach meiner kürzlich unternommenen Exkursion ins Val-de-Travers (Blog vom 25.11.2006: Val de Travers: Mit den grünen Feen auf Bourbaki-Spuren), wo Wermut für die Absinth-Produktion angebaut wurde und nach der Aufhebung des Absinth-Verbots wohl auch wieder vermehrt wird, habe ich das erwähnte Buch nach Informationen über die Wirkungen des Wermuts (Artemisia absinthium) abgesucht. Dieser Pflanze aus der Korbblütler-Familie wurde früher eine dämonenwidrige Wirkung zugesprochen – wie allen anderen stark duftenden Kräutern übrigens auch. Daher wurden die Wermutpflanze und auch die Eberraute (Artemisia abrotanum) im Mittelalter zu schutzmagischen Zwecken gebraucht, und noch immer sind sie Bestandteile von Räucherritualen.
 
Der Wermut wurde von Paracelsus mit einer eigenen Monografie beehrt. Diese Heilpflanze ist noch immer ein beliebtes und wirkungsvolles Magenmittel, was auch im Binnenreim „Wermut tut dem Magen gut“ zum Ausdruck kommt. Paracelsus relativierte laut den Buchautoren diese Volksweisheit, indem er darauf hinwies, dass der Wermut den Magen nur dann stärke, „wenn der Magen mit Speisen gefüllt war (...). Den Leuten, die infolge mangelnder Ernährung krank sind, schadet er“ (III534).
 
Es ist gerade die intensive Bitterkeit, welche den Wermut zur Arzneipflanze macht; von den Kühen und sogar von den Ziegen wird er keines Blicks gewürdigt. Laut Paracelsus haben „alle Kräuter, die die Kühe nicht essen, eine grosse Kraft“. Der Schweizer Kräuterpfarrer Johann Künzle (1857–1945) aus Zizers GR empfahl den Wermut übrigens bei Gewichtsverlust (wie etwa bei Bulimie, obzwar sie damals in der heutigen Ausprägung aus modischen Gründen wohl noch kaum verbreitet war): „Ist einer grün wie ein Laubfrosch, mager wie eine Pappel, nimmt täglich ab an Gewicht und Humor und wirft keinen Schatten mehr, der probiere es mit einem Teelöffel voll Wermut alle 2 Stunden; Wermut leidet jedoch keinen Zucker. Schleckermäuler, o weh!“ Dieser Rat bezog sich vor allem auf die Gelbsucht. Denn Wermut ist seit Jahrhunderten als Gelbsuchtmittel in Gebrauch und diente sogar laut Paracelsus auch als bestes Heilmittel „für die bösen gallsüchtigen Weiber“, die es selbstredend heute nicht mehr gibt, wie ich vorsichtshalber beifügen möchte.
 
Beim Umgang mit Wermut und seinen Tinkturen ist Vorsicht geboten, wie schon Paracelsus wusste: „Es (Absinthium) hat nämlich ein Gift in seinem Stamm. Darum soll man das Kraut nicht essen“ (III535). Beim angesprochenen Gift handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um das Thujon, ein Abtreibungs- und Nervengift, das in unterschiedlichen Konzentrationen auch in anderen Pflanzen vorkommt, so im Salbei, im Lebensbaum (Thuja), in Rainfarn, in der Scharfgarbe usf.
 
Die beliebteste Wermut-Zubereitung war neben dem Wermutwein (Vermouth) der oben erwähnte Absinth, und wahrscheinlich ist sie es auch heute noch. Bezeichnungen wie die „Grüne Fee“ und „Wermutsbruder“ (Obdachloser, der im billigen Wermutwein Trost sucht) deuten auf die berauschende Wirkung und damit auf eine Heilwirkung auch hinsichtlich des psychischen Bereichs hin.
 
Paracelsus nutzte den Wermutwein zur Wurmprophylaxe sowie in Verbindung mit Mohnsamen als Schlafmittel, zur Beseitigung des Völlegefühls, der Verstopfungsneigung und gegen das Bauchgrimmen (kolikartige Bauchschmerzen).
 
Soweit ein kleines Destillat aus dem Füllhorn des erwähnten Paracelsus-Buchs.
 
Heilpflanzennutzung und Bestandesgefährdung
Insgesamt erfährt die Heilpflanzennutzung heutzutage nach all den Medikamentenpleiten wieder eine eigentliche Renaissance; auch seltene und/oder exotische Pflanzen werden zur Verbesserung der Gesundheit wieder oder neu entdeckt. Manchmal wirkt sich das als eine wahre Katastrophe für die Bestände aus, die manchmal auch aus anderen Gründen (Klimaänderung, Überdüngung usf.) existenziell bedroht sind.
 
Ist es aus dieser Betrachtungsweise heraus nicht geradezu ein Segen, dass die einträgliche pharmazeutische Industrie mit ihrem unendlichen Chemikalienarsenal davon ablenkt und so also zur Bestandesschonung beiträgt? Ich habe mich dieser Tage mit dem am Naturama in Aarau tätigen Ökologen Martin Bolliger darüber unterhalten. Er bestätigte die entsprechenden Gefahren durchaus und fügte bei, dass das Problem schon zu lösen wäre, denn im Prinzip könnte jede Pflanze angebaut werden, wenn man das entsprechende Wissen habe und ihre Ansprüche an den Lebensraum erfüllen könne. Selbst mit Orchideen gelingt das heute.
 
Ich erinnerte mich in diesem Zusammenhang zudem an meinen Besuch im Botanischen Garten Bern, wo in Treibhäusern Pflanzen aus allen möglichen Klimazonen gedeihen – jeder andere Botanische Garten und jedes Sukkulentenhaus in unseren nördlichen Klimazonen kann den Beweis dafür ebenfalls ohne weiteres erbringen. In diese Richtung müsste bei dieser auch in Bezug auf die Pflanzen- und Tierarten reduktionistisch tätigen Bewohnerschaft der Erde der Umgang mit Heilpflanzen gehen. Wie gute Lebensmittel, müssten auch die phytotherapeutisch eingesetzten Pflanzen aus einem verantwortungsbewussten naturgemässen Anbau stammen. Diese Erkenntnis ist vielerorts bereits umgesetzt, und dieser Anbau kann oder könnte zweifellos vielen Bauernfamilien, welche durch subventionierte, industriell im grossen Stil erzeugte Landprodukte und die darauf abgestimmte Landwirtschaftspolitik an den wirtschaftlichen Abgrund getrieben worden sind (auch in der Schweiz) bzw. im Rahmen der Globalisierung gerade werden, zu einem Überleben in einem unwirtlichen Umfeld verhelfen.
 
Dann könnte man mit umso besserem Wissen auf Paracelsus und alle die anderen grossen Ärzte, welche das Heilgeschehen in einem grossen Zusammenhang zu betrachten verstanden und Naturheilmittel bevorzugten, zurückgreifen – mit allseitigem Gewinn.
 
Buchhinweis
Rippe, Olaf, und Madejsky, Margret: „Die Kräuterkunde des Paracelsus. Therapie mit Heilpflanzen nach abendländischer Tradition“, AT Verlag, Baden 2006, ISBN 3-03800-313-1 und ISBN 978-3-03800-313-7. Preis: 68.– CHF/39.90 Euro.
 
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