Textatelier
BLOG vom: 18.02.2007

Erinnerung an Sauerländer: Bauarbeiten an der Geisteswelt

Autor: Walter Hess, Biberstein CH
 
Noch heute gehe ich wie seit je am schönen, im klassizistischen Stil an der Laurenzenvorstadt in Aarau erbauten Haus 89, über dessen strassenseitigem Eingang „Sauerländer“ steht, mit Ehrfurcht vorbei. Dieses Sauerländer-Haus erinnert an eine berühmte Drucker-, Buchhändler- und Verlegerfamilie, die auf den Stammvater Elias Sauerländer (1712–1768) aus Erfurt, der Landeshauptstadt Thüringens, zurückgeht. In der Festschrift „175 Jahre Sauerländer (1807–1982)“ ist die weitere Geschichte dieser Verlegerdynastie aufgezeichnet: „Dessen Sohn, Johann Christian Sauerländer (1745–1805), heiratete 1771, nachdem er nach Frankfurt am Main gezogen war, Christina Sophia Schepper und leitete fortan die seit dem 17. Jahrhundert bestehende Druckerei seines Schwiegervaters. Sein jüngster Sohn, Johann David (1789–1869), übernahm 1816 die väterliche Druckerei. Durch die Angliederung eines Verlages und eines Sortimentes schuf er den noch heute bestehenden J. D. Sauerländer Verlag in Frankfurt am Main, mit dem bis heute Beziehungen zum Hause Sauerländer in Aarau fortbestehen.“
 
Der 4. Sohn von Johann Christian Sauerländer, Heinrich Remigius (1776–1847) begründete das Aarauer Sauerländer-Unternehmen, nachdem er das Gymnasium besucht und im väterlichen Betrieb eine Buchdruckerlehre sowie in Frankfurt am Main eine Lehre als Buchhandelsgehilfe absolviert hatte. Zusammen mit dem damals sehr bekannten Samuel Flick, Buchhändler in Basel, eröffnete er im Juli 1803 in Aarau eine Filiale („Flicks“), einen Zeitungsverlag und eine Druckerei. Bereits am 4 Januar 1804 erschien in diesem Aarauer Verlag der vom berühmten Schriftsteller und Pädagogen Heinrich Zschokke (1771–1848) redigierte „Aufrichtige und wohlerfahrne Schweizer-Bote“, der über 30 Jahre lang die am meisten gelesene und einflussreichste Zeitung der Schweiz war (sie erschien bis 1878). Sie war auf Anregung von Heinrich Pestalozzi im Jahre 1800 entstanden und war bis 1804 in Luzern und Bern herausgegeben worden.
 
Ab 1814 erschien im Hause Sauerländer auch die „Aarauer Zeitung“ (dreimal wöchentlich), deren politischer Teil von Paul Usteri (1768–1831) betreut wurde. Sie galt als das bestredigierte schweizerische Blatt, wirkte bahnbrechend für die Entwicklung und Festigung der Pressefreiheit und des schweizerischen Nationalbewusstseins. Man stelle sich vor, wie sich die Medien heute präsentieren würden, hätten sie sich im Sinn und Geiste der Vorbilder aus dem Aargau weiterentwickelt! Staatsangelegenheiten galten damals allerdings als Geheimnis; heute wird intensiv kommuniziert – aber es hapert oft in Bezug auf die Wahrheit, die Verhältnismässigkeiten und dem Sinn für Wesentliches. Die „Aarauer Zeitung“ musste unter dem Druck von Gegnern, denen der Mut und die Ehrlichkeit der Zeitung missfiel, eingestellt werden, beziehungsweise ging sie in der damals bereits bestehenden „Zürcher Zeitung“ auf.
 
In der Papiermühle in der Nachbargemeinde Küttigen AG, am Eingang zur Benkenklus und am Beginn des Benken-Juraübergangs, stellte Sauerländer sein eigenes Druckpapier her – damals waren die so genannten Kernkompetenzen offenbar noch breiter gestreut als heute, wo die Unternehmen zu Hackfleisch zerstückelt werden.
 
Die Sauerländer-Geschäfte in Aarau wurden wahrscheinlich von Anfang an von Heinrich Remiguis Sauerländer betreut, doch ab dem 1. August 1807, also vor 200 Jahren, übernahm er diese auch formell selber. Dieser Tag war also das Gründungsdatum des Unternehmens. Durch die Übernahme von einem der neuen Häuser an der Laurenzenvorstadt („Laurenzi“) wurde er Bürger von Aarau. In der „Literaturgeschichte der deutschen Schweiz“ schrieb Josef Nadler, Sauerländer sei ein Verleger gewesen, „der wie wenige den geistigen Aufbau der neuen Schweiz gefördert hat“. Er kalkulierte knapp, setzte bescheidene Verkaufspreise fest und erreichte dadurch einen grossen Leserkreis und eine Bedeutung über die Schweizer Landesgrenzen hinaus. Er gestaltete sein Leben nach vernünftigen und natürlichen Grundsätzen und verspürte einen gesunden Missionierungsdrang: Er wollte die Menschheit einer glücklichen Zukunft entgegenführen. Und weitere weitsichtige Sauerländer-Generationen setzten sein Lebenswerk fort. Der junge, 1803 gegründete Aargau, war ein fruchtbarer Boden für geistige Bildungsbewegungen; man spürt das in diesem herrlichen und in Bezug auf sein intellektuelles Potenzial vollkommen unterschätzten Kanton noch heute.
 
Im Sauerländer-Verlag erschienen viele Publikationsorgane wie die „Wochenschrift für Menschenbildung“ von Heinrich Pestalozzi, die „Überlieferungen zur Geschichte unserer Zeit“ von Heinrich Zschokke (bis sie von den Zensurbehörden unterdrückt wurden), sodann Fachzeitschriften wie „Schweizerisches Museum“ und das „Archiv für Thierheilkunde“ sowie unzählige Publikationen wie die „Allemannischen Gedichte“ von Johann Peter Hebel. Die „Fabeln“ von Abraham Emanuel Fröhlich (1796–1865) erschienen 1829 in 2. Auflage, von Martin Disteli (siehe Blog vom 28. Dezember 2006: „Olten (01): Spuren von Martin Disteli und von Freiheitsluft“) köstlich illustriert. Durch eine Fülle weiterer und Aufsehen erregender Publikationen war Aarau vorübergehend das geistige Zentrum der Schweiz.
 
Im Verlagsalter von 175 Jahren (1982) leitete die 6. Sauerländer-Generation die Geschicke des Unternehmens, das damals aus Grafischen Betrieben mit Druckformenherstellung, Druckerei und Buchbinderei, dem Buch- und Zeitschriftenverlag sowie der Eigen- und Fremdauslieferung von Büchern, Broschüren und Zeitschriften bestand und rund 150 Personen beschäftigte. Der damalige Verleger, Hans Christof Sauerländer (geboren 1943), schrieb in der Jubiläumsschrift, im Hause sei noch immer der gleiche Geist wie bei der Gründung vorhanden, auch wenn bereits in den 1960er-Jahren Konzentrationen auf klar abgegrenzte Themen erzwungen wurden, was zu Strukturveränderungen führte. So musste um 1980 im Schulbuchwesen eine Zusammenarbeit mit einem anderen Lehrmittelverlag, der Benziger AG in Zürich, gesucht werden. Und auch im wissenschaftlichen Bereich wurde eine Kooperation mit deutschen Verlagen (Moritz Diesterweg und Otto Salle) gesucht.
 
Andere Zeiten, andere globalisierte Verlagssitten. Hans Christof Sauerländer (1982): „Ein Bilderbuch kann heute in einer nur für den deutschen Markt genügenden Auflage nicht mehr verlegt werden.“ Ohne Kooperationspartner lief immer weniger, und das bedeutet eine langsame Auflösung des historisch Gewachsenen. Das Werbewesen wurde zunehmend aufwändiger, zumal der Buchhandel seine ehemalige Funktion als individueller Buchberater immer weniger wahrnehmen konnte. So kam es, dass die Zentralen für den Vertrieb und Verkauf der Sauerländer-Werke bereits in den 1980er-Jahren in Frankfurt am Main und Würzburg angesiedelt waren.
 
Laut der aktuellen Webseite www.sauerlaender.ch gehört „Sauerländer“ „heute als selbstständig agierendes Unternehmen zu der auf den Markt Schule und Bildung spezialisierten Cornelsen-Verlagsgruppe mit Sitz in Berlin, die im deutschsprachigen Raum marktführend ist“. Und weiter: „Der Verlag Sauerländer ist ein eigenständiger Programmteil der Verlagsgruppe Sauerländer Verlage AG. Als grösster Schweizer Schulbuchverlag für die Sekundarstufe II –- und in den letzten Jahren auch in der Tertiärbildung engagiert – bietet Sauerländer vor allem Lehr-, Lernmittel, Unterrichtsmaterialien und Medien für gewerblich-industrielle Berufsschulen (Allgemeinbildung und Fachunterricht), kaufmännische Berufsschulen, Diplommittelschulen, Berufsmaturitätsschulen, Gymnasien und adäquate Typen der Sekundarstufe II an.“
 
Was vom Verlag noch übrig geblieben ist, befindet sich jetzt an der Ausserfeldstrasse 9, CH-5036 Oberentfelden.
 
An der Laurenzenvorstadt in Aarau sind keine Sauerländer-Aktivitäten mehr festzustellen. Ein ehemaliger Verlagsangestellter, Thomas Kern, hat im 2. Stock des jüngeren Flachdach-Erweiterungsbaus (Laurenzenvorstadt 87) die wohlgeordnete „Bücherbörse Aarau“ eingerichtet, die jeden Sonntag von 10 bis 16 Uhr zugänglich ist. Man kann Bücher bringen und Bücher zu anständigen Priesen (viele für 2 CHF pro Stück) kaufen. Ich habe selber einige Bananenschachteln voll von Werken dort abgegeben und fast ebenso viele wieder heimgeschleppt, vor allem architekturgeschichtliche Werke.
 
Zu meinen Neuanschaffungen gehören mehrere Bände „Inventar der neueren Schweizer Architektur 1850–1920“ (INSA). In Band 1 steht unter „Aarau“, „Laurenzenvorstadt“ unter „Nr. 89“: „Verwaltungsgebäude Sauerländer. Klassizistisches Walmdachhaus, erbaut 1831–1834 für den Buchhändler und -drucker Heinrich Remigius Sauerländer. Anbau der teilweise offenen Veranda mit jonischen Säulen, 1905 von Karl Kress für Oberst Karl Heinrich Remigius Sauerländer, welcher den Verlag 1872 übernommen hatte.“
 
Das wars dann. Tröstlich, dass Thomas Kern hier noch für etwas Bücherumsatz besorgt ist, sozusagen die gute Tradition hochhält. Er überliess mir auch die 175-Jahre-Festschrift über das Sauerländer-Unternehmen für 2 CHF, die mich bei der Niederschrift dieser rudimentären Sauerländer-Geschichte fundamental unterstützt hat. Es ist ein Stück Kulturgeschichte mit Aufstieg und Niedergang. Unter dem Globalisierungsdruck war es nicht das geistig Hochstehende, was aufblühte. Schlimmer noch: Das qualitativ hochwertige Blühende wurde zum Welken gebracht.
 
Geblieben sind nicht viel mehr als Bücherbörsen, Brockenhäuser, Antiquariate und Bibliotheken, die noch einen Teil des alten Kulturguts an Interessierte vermitteln. Wenigstens das.
 
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