Textatelier
BLOG vom: 23.06.2007

Drei-Seen-Rundfahrt: Der Charme des Rands der Romandie

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Spricht man in der Schweiz von den „3 Seen“, sind damit die Jura-Randseen Bielersee, Neuenburgersee und Murtensee gemeint. Sie sind mit Kanälen verbunden: Der Bieler- und der Neuenburgersee mit dem Zihlkanal (Canal de la Thielle), der Neuenburger- und der Murtensee mit Broyekanal (Canal de la Broye), und damit bilden sie ein zusammenhängendes System. Auch entstehungsgeschichtlich ist das Seen-Trio als familiäre Gruppe zu betrachten. Sie sind gemeinsam nach dem Dahinschmelzen der letzten Eiszeit entstanden. Etwas genauer ausgedrückt, sind sie die Überreste eines ursprünglich viel grösseren Sees, der von La Sarraz, 17 km nordwestlich von Lausanne bei der Wasserscheide zwischen Rhone- und Rhein-Einzugsgebiet, bis nach Wangen an der Aare reichte und bis zu 50 m tief gewesen sein soll. Die Aare, die den See speiste bzw. tränkte, brachte nicht nur Wasser, sondern auch viel Geschiebe mit, das den See an manchen Stellen zum Verlanden brachte. Anderseits aber durchstiess der kraftvolle Fluss Moränen; das Wasser floss Richtung Osten ab, dem Jura entlang, und der Spiegel des Jurasees senkte sich. Das war noch vor etwa 13 000 Jahren der Fall, wenn ich mich richtig erinnere ... Vom Jurasee blieben schliesslich noch die Becken der berühmten 3 Seen übrig.
 
Niveau-Aspekte
Die Aare schuf mit ihrem Geschiebe ständig neue Verhältnisse, bahnte sich neue Wege und legte ausgedehnte Sümpfe an, vor allem das Grosse Moos (Blog vom 25.4.2007: Hagneckkanal im Grossen Moos: Zurechtweisung der Aare), bis dann eben ab 1868 die Juragewässer-Korrektionen einsetzten, mit denen die Flusslandschaft und damit die Natur im weitesten Sinne nach menschlichem Gutdünken gezähmt und beeinflusst wurde. Im Gegensatz zu modernen Naturfreunden und Ökologen empfanden frühere Generationen Sümpfe und auch Auen befruchtende Überschwemmungen im Rahmen einer möglichst ungestörten Naturdynamik nicht eben als Geschenk des Himmels. Sie erlebten die Natur als Feind, und wir Menschen halten es vielerorts noch heute so, zumal unser intellektuelles Niveau selten über die nächste Kanalisationsröhre hinaus reicht. Mit dem Naturverständnis hapert es schon noch, selbst in hohen politischen Gremien.
 
Es geht immer ums Niveau, in der Politik und eben auch bei so genannten Gewässerkorrektionen. Aber natürlich haben auch „korrigierte“ und „regulierte“ Gebiete ihren Reiz, wie ich bei der Drei-Seen-Rundfahrt bestätigt gefunden habe. Diese Rundfahrt wird von der Bielersee-Schifffahrtsgesellschaft AG BSG (www.bielersee.ch) zwischen dem 31. März und dem 28. Oktober täglich und zu attraktiven Konditionen angeboten; in anderen Jahren mögen die Eckdaten etwas schwanken. Wegen des erwähnten familiären Charakters der Seen lud ich meine Frau, meine 2 Töchter mit ihren Partnern zur Schifffahrt ein, zu einem so genannten Clan-Event, wie man dem heute wohl sagen muss, um ein grösseres Verständnis zu finden.
 
Start im Bieler Hafen
Die ganztägige Tour, die im Hafen von Biel um 9.45 Uhr beginnt, kostet mit Tageskarte 83 CHF, mit Halbtax-Abo 47 CHF und mit dem Generalabonnement, das in meiner umweltbewussten Familie stark verbreitet ist, überhaupt nichts mehr. Da ich gerade nachgewiesenermassen Geburtstag hatte, brauchte ich bloss 20 CHF zu bezahlen. Damit die BSG nicht gleich Konkurs anmelden musste, tafelten wir üppig im Schiffsrestaurant; man nennt das dort fachsprachlich Kapitäns-Zmorge, und dazu tranken wir zur Feier des Tags einen „Twanner Brut“, einen Schaumwein von Werner K. Engel, zumal wir auch gerade an Twann in der Mitte des Bielersee-Nordufers vorbeifuhren. Mit der BSG hatte ich schon auf der Aarefahrt Solothurn–Biel beste Erfahrungen gemacht (Blog vom 25.4.2007: Hagneckkanal im Grossen Moos: Zurechtweisung der Aare). Die Belegschaft ist freundlich, die Schiffe sauber und komfortabel, und selbst das traditionelle ohrenbetäubende Schiffshorn, das auch bei Nebel gute und durchdringende Dienste leistet, wird vor jeder Anfahrt einer Anlegestelle oder eines Hafens in Betrieb gesetzt, etwas Hochsee-Atmosphäre verbreitend.
 
Wetter-Aspekte
In der Nacht auf jenen Montag, 18. Juni 2007, hatte es ergiebig geregnet. Dadurch wurden die Seen gefüllt und die Luft gewaschen. Über dem saftig grünen, entweder mit Reben bepflanzten oder bewaldeten Jura oberhalb des sich verjüngenden Nordendes des Bielersees, der dort Mont Sujet (bzw. Spitzberg) und etwas weiter südwestlich Montagne de Diesse genannt wird, lag noch ein Gebirge von dunklen Wolken, die dann in scharf abgegrenzte, weiss leuchtende Schönwetter-Haufenwolken (Cumuli) umgetauscht wurden – genau das, was sich ein Fotograf in solchen Situationen wünscht. Ich habe mir dieses Wetter aufgrund der Grosswetterlage so ähnlich vorgestellt und frühzeitig, d. h. schon am vorangegangenen Sonntagmorgen, den Entscheid gefällt, die Schiffsreise werde definitiv durchgeführt. Man tut gut daran, aufgrund von Satellitenaufnahmen und Grosswetterlagen das Wettergeschehen selber zu interpretieren. Die TV-Wetterberichte von SF DRS lavieren nach der aufwendigen weiteren Wetterstudio-Neugestaltung zwischen verwirrlich und nutzlos: Auf den nach Tagen aufgereihten Schaubildern regnet, blitzt es neben stilisierten Wolken und der Sonne in meteorologischen Übergangsphasen gleichzeitig. Man kann dann frei wählen, und die Wettermacher haben so das Passende immer dabei.
 
Mein Wunsch ging nicht etwa in Richtung praller Sonnenschein, sondern nach einer wetterwendischen Witterung, welche die lieblichen, von der unangreifbaren Weite der Seen geprägten Hügellandschaften und die Wasserflächen der Seen in immer neuen Farbtönen erscheinen lässt. Und genau dieser Wunsch wurde aufs Schönste erfüllt. Bei der Rückfahrt an Bord des Motorschiffs „Petersinsel“, das von der Orange-Telekommunikationsgesellschaft schwarz und orange eingefärbt worden war und jetzt genau genommen „OrangeBoat MS Petersinsel“ heisst, zum Hafen Biel bauten sich dunkelgraue Gewitterwolken auf dem nahen Balkon des Juras zwischen Magglingen und dem Twannberg auf. Sie passten farblich zum Schiff. Der Bielersee dekorierte sich mit einer silbernen, kammförmigen Wellengischt. Diese kleinen Wasserbewegungen waren auf ebenso geheimnisvolle Weise aufgetaucht wie die vielen Surfer, welche den sich drehenden Abendwind nutzten und gelegentlich ein Bad im Wasser nahmen, wenn sie das Gleichgewicht verloren hatten. Leider verscheuchte dieser Wind die Wolken gleich wieder, und die Gewitterfreuden, die ich als Hauptevent betrachtet hätte, blieben unerfüllt.
 
Die Reise von See zu See
Aber ich eile der gemächlichen, erholsamen Reise in erzählerischer Ungeduld voraus. Eigentlich sind wir erst bei der Abfahrt, entlang des Bielersee-Nordufers mit dem oft geschlossen, oft von markanten Einzelbauten beherrschten Winzerdörfern Tüscherz, Twann (Douanne), Ligerz (Gléresse) und Le Neuveville (Neuenstadt). Die Vormittagssonne beleuchtete die stattlichen Häuserzeilen in Ufernähe kunstvoll, so dass alles für das Fotografieren bereit war; jede begabte Automatikkamera hätte sich von selbst zum Knipsen hinreissen lassen.
 
Ich kannte bisher das linke Bielerseeufer von einigen Besuchen in jener Gegend; mein ehemaliger Aargauer-Tagblatt-Redaktionskollege Heiner Halder hatte uns einmal in seine Twanner Aussenstation eingeladen. Und an einem schönen Morgen – es war der 22. Juli 1987 – rief mich verzweifelt die Biobäuerin Ursula Vuille aus Twann an. Sie und ihr Mann, Emile Vuille, der damals seit 31 Jahren Wein pestizidfrei produziert hatte, waren in Verzweiflung, weil Helikopter-Sprühflüge mit einem systemischen Fungizid gegen den Echten und Falschen Mehltau im Gebiet Ligerz–Twann veranstaltet wurden. Ich raste als Reporter an den Ort des Geschehens, stand im Fungizid-Nebel und stellte fest, dass die Heliswiss-Piloten zwar ausgesprochene Könner waren. Aber es war schlicht und ergreifend unmöglich, die Bio-Rebflächen zu verschonen: Denn es gab Winde von wechselnden Richtungen und Intensität, hinzu kamen der Rotor- und Fahrwind. Zudem mussten Elektrizitätsleitungen überflogen werden, und unten wechselten die topografischen Verhältnisse rasch ab: Da war eine kleine Parzellierung, dort ein Naturschutzgebiet und Magerwiesen. Wie soll man unter solchen Verhältnissen im Fluge Gift-Nebelschwaden genau platzieren? Ein Ding der Unmöglichkeit. Die Sprühflug-Befürworter hatten behauptet, dass das Fungizid metergenau ausgebracht werde, eine glatte Zwecklüge. Die Sprühwolken gerieten mindesten 15 m tief ins Öko-Rebgebiet. Die Vuilles konnten die betroffenen Beeren nicht zu Biowein keltern – und die netten, umweltbewussten Leute wurden auch gerade noch als Querulanten dargestellt ...
 
Angesichts der Petersinsel
Diese Geschichte kam mir wieder in den Sinn, aber die landschaftlichen Schönheiten trösteten mich über alles hinweg. Zu diesen gehört auch der Anblick der sich nähernden St. Petersinsel, ein walfischförmig geschliffener Molassehügel in einem walfischförmigen See, die ich im August 2006 von Erlach aus über den Heidenweg erwandert hatte (Blog vom 15.8.2006: Auf dem Heidenweg durchs Moor zu Jean-Jacques Rousseau). Und ich dachte wieder einmal an Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), der dort im Herbst 1765 einen Zufluchtsort und das vollendete Glück gefunden hatte, das er genau hier bis an sein Lebensende geniessen wollte; doch es war auf kurze 6 Wochen beschränkt.
 
Rousseau hat diese kurze Lebensphase in „Confessions XII, Les Rêveries du Promeneur solitaire V“ beschrieben; in deutscher Übersetzung („Träumereien eines einsamen Spaziergängers“) ist das Werk auch als preiswertes Reclam-Büchlein (18244) erhältlich. Das Buch ist erst nach seinem Tod erschienen (1782), und es wurde zu einer wirkungsvollen Schrift für die St. Petersinsel, die im oberen Bielersee ohnehin eine landschaftliche Attraktion ist. Eine neuere Taschenbuch-Ausgabe wird auf dem Bielerseeschiff „Petersinsel“ neben einer ganzen kleinen Bibliothek mitgeführt, ebenso Robert Walsers „Seeland“, vielleicht für den Fall, dass es mit der Aussicht bei trübem Wetter nicht klappen sollte.
 
Der in Genf geborene, gesellschaftskritische Schriftsteller Rousseau hatte sich bei der herrschenden Klasse mit seinen sozialkritischen Werken wie Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes („Abhandlung über Ursprünge und Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“) unbeliebt gemacht. Dem Fass den Boden schlug ein Einschub in „Emile“ aus, worin Rousseau im Kapitel Profession de foi d'un vicaire savoyard („Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vikars“) eine Verehrung der vormenschlichen Natur propagierte. Das Parlament und der Erzbischof von Paris sprachen einen Haftbefehl aus, zumal Rousseau auch die Geschichte der Menschheit als erklärbaren evolutionären Prozess dargestellt hatte und damit einen Mangel an jenem Bibelglauben offenbarte, der eher Märchenwelten zugewandt ist. Und so begann denn eine Zeit des ruhelosen Umherreisens. Seine staats-, sozial- und kirchenkritischen Töne – er betrachtete den Menschen als „heruntergekommenes Tier“ –, sein Einsatz gegen die Wissenschaftsgläubigkeit und den Fortschrittsoptimismus hatten für ihn schwere Folgen; er konnte nicht mehr in Ruhe leben und denken, wurde beschimpft, bespuckt, verfolgt. Ein aufmüpfiges Musterbeispiel aus seinen Erkenntnissen, die er besser für sich behalten hätte: „Die Freiheit besteht weniger darin, seinem Willen zu folgen, als vielmehr darin, dem anderen nicht unterworfen zu sein. Sie besteht ausserdem darin, den Willen anderer nicht dem unsrigen zu unterwerfen.“ Die Geistlichkeit hetzte die Bevölkerung gegen ihn auf, und die Verfolgungen nährten seinen ohnehin vorhandenen Verfolgungswahn erst recht und trieben ihn restlos in die Einsamkeit.
 
Nach 6 Glückswochen musste Rousseau seine Petersinsel verlassen, weil schliesslich niemand in Frieden leben kann, wenn sich böse Menschen serienweise umhertreiben. Im patrizischen Bern (die St. Petersinsel gehörte zum Bernischen Herrschaftsgebiet) wurde gegen ihn intrigiert. Insbesondere der Naturwissenschaftler und Mediziner Albrecht von Haller betrachtete ihn als Konkurrenten und weltanschaulichen Widersacher, und der opportunistische Berner Regierungsrat verlangte seinen Wegzug.
 
Die St. Petersinsel, Molasseausläufer des Jolimont von Erlach, ist zusammen mit dem ehemaligen Cluniazenserkloster seit 1530 im Eigentum des Burgerspitals Bern. Sie hat trotz der Seeabsenkung ihren Charme bewahrt; sie ist seit den Juragewässerkorrektionen noch deutlicher aus dem Bielersee herausgewachsen und lebt nun unter anderem von Rousseaus Andenken. Nur hat dieser grosse Philosoph nichts mehr davon.
 
Via Zihlkanal zum Neuenburgersee
Unser Schiff „Petersinsel“ spurte nach Le Landeron in den 8,8 km langen Zihlkanal ein, der eigentlich die begradigte und ausgebaute Zihl von damals ist. Er wurde im Rahmen der 1. Juragewässerkorrektion um 1894 angelegt. Zwischen Le Landeron und Cressier NE mit den ausgedehnten Raffinerieanlagen ist noch ein Stück von der Alten Zihl (Vielle Thielle) erhalten. Diese Region Entre-deux-Lacs bietet Landwirtschafts-, Natur- und industrialisierte Kulturlandschaften. Das Rousseau’sche Zurück-zur-Natur gibt es bei Thielle immerhin noch als Naturistengelände.
 
Die Zihl, womit jetzt der Kanal angesprochen ist, fliesst normalerweise vom Neuenburger- zum Bielersee, und somit befinden sich die neuenburgischen Ortschaften Thielle und Cressier am linken Ufer. Doch seit der Juragewässerkorrektion fliesst die Zihl manchmal in der entgegengesetzten Richtung. Das passiert immer dann, wenn durch die Aare beziehungsweise den Hagneckkanal (zwischen Aarberg BE und Hagneck BE, Bezirk Nidau) viel Aarewasser dem Dreiseen-System zugeleitet und der Neuenburger- und der Murtensee also vom Bielersee her aufgefüllt werden – der Neuenburgersee dient als das grössere Speicherbecken. Dann dreht sich das Links-rechts-Schema natürlich um ... oder aber es ist in Bezug auf den Zihlkanal überhaupt nicht anwendbar.
 
Zihl, Aare und Broye (Verbindung zum Murtensee) dienten schon immer der Schifffahrt, schon als dieses Wort noch längst mit 2 F geschrieben wurde. An den Flussufern wurden so genannte Treidelpfade angelegt. Das waren knapp über der Wasserlinie verlaufende Wege. Von diesen aus wurden flussaufwärts fahrende Schiffe mit Pferden oder oft auch mit Menschenkraft gegen die Strömung geschleppt. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war der Wasserweg über die Jurarandseen und die Zihl Teil der bedeutenden Handelsroute zwischen dem Mittelmeer (Rhone) und den deutschen Hafenstädten (Rhein).
 
Unser orangefarbenes Schiff bog um die Mittagszeit bei Marin-Epagnier vom Zihlkanal in den Neuenburgersee ein und steuerte in einer eleganten Linkskurve direkt dem Broyekanal zu. Von Neuenburg her spiegelte sich das Sonnenlicht, wie von einem riesigen Brennglas zurückgeworfen. Der hellblaue, fast weissliche See schien vom leicht im Dunst liegenden Alpenkranz mit dem Mont-Blanc begrenzt zu sein, eine Öffnung der frankophonen Welt entgegen, die in allen 3 Seenbereichen angenehm zu spüren ist. An all diesen Gewässern wird deutsch und französisch gesprochen. Und diese beiden Sprachen sind auch zu den BSG-Schiffssprachen geworden. Mein Schwiegersohn Urs Walter erkannte, dass der vielbesungene Röstigraben (die undefinierte Trennlinie zwischen Deutschschweiz und Romandie) eigentlich eine Rösti-Seenplatte sei.
 
Der Broyekanal
Die Broye ist zwischen Neuenburger- und Murtensee ebenfalls im Rahmen der 1. Juragewässerkorrektion begradigt und ausgebaut worden. Der kleine Fluss hatte vorher jeweils Mühe bekundet, Hochwässer genügend schnell in den Neuenburgersee abzuleiten, weil sein Schluckvermögen ungenügend war. Bei anhaltendem starkem Regen stieg der Pegel des Murtensees deshalb um 50 bis 80 cm über denjenigen des Neuenburgersees an, und das Wasser ergoss sich ins Grosse Moos, wo dann wieder der Überschwemmungsalarm ausgegeben werden musste. Bei der 2. Juragewässerkorrektion mit der damit verbundenen weiteren Pegelstandabsenkung um etwa 1,5 m mussten der Broye- und der Zihlkanal weiter ausgebaut werden; es ging vor allem um grössere Querschnitte und damit um eine Erhöhung der Durchflusskapazität. Auf einer Strecke von knapp 9 km (inkl. verlängerte Mole = Damm) wurden 1,96 Millionen m3 Material ausgehoben und grösstenteils im Murtensee versenkt, der noch maximal 45 m tief ist. Die Kalksteine für die Ufersicherung (rund 240 000 m3) wurden aus der Nachbarschaft von Cornaux und Hauterive herangekarrt (Quelle: Matthias Nast: „überflutet – überlebt – überlistet. Die Geschichte der Juragewässerkorrektionen“; Verein Schlossmuseum Nidau 2006).
 
Der Broyekanal ist heute beidseitig von einem wohlgenährten, baumhohen Grüngürtel gesäumt, in dem die immer durstigen Silberweiden dominieren. Im Wasser, das bei unserer Durchfahrt gerade im Stillstand war, schwammen Grasbüschel, und ich befürchtete, dass sich die Schiffsschraube damit umwickeln würde, doch nichts dergleichen geschah; das Motorschiff (MS) „Petersinsel“ schien an Gras gewöhnt zu sein, vegetarisch zu leben.
 
Die Landschaft ist dort zuerst flach, eben. Südlich des Kanals ist der Marais de Cudrefin (der Sumpf von Cudrefin), und im Norden sind in einer kleinen Biegung Le Rondet und dahinter das Gelände von Witzwil mit dem berühmten Männergefängnis und seinem riesengrossen Gutsbetrieb auf dem Gebiet der Gemeinden Erlach, Gampelen und Ins (alle im Kanton Bern) sowie Haut Vully im Kanton Freiburg (Fribourg).
 
Allmählich baut sich der Mont Vully mit seinen ausgedehnten Rebbergen auf, die auf der Südostseite vom ausgleichenden, milden Klima des Murtensees profitieren. Eine handwerkliche Attraktion ist hier der Pont Rotary, eine aus verleimten Hölzern erstellte Bogen- und Fussgängerbrücke, die im Hinblick auf die Expo 2002 erbaut wurde und bei Bas-Vully FR über den Broyekanal führt, eine Verbindung von Technik und Natur für Menschen, die sich für die menschlichste aller Bewegungsarten entschieden haben.
 
Mittagspause in Murten ohne Schlachtgetümmel
Da wahrscheinlich auch die Schiffsbesatzung Hunger verspürte, nahm sie den direkten Kurs auf Murten (Morat) zu, wo wir anderthalb Stunden tafeln und uns umsehen konnten. Dieses hochmittelalterliche Städtchen mit den 2 Längsgassen neben dem breiten Gassenmarkt im Zentrum, mit der Quergasse und seinem Hofstättensystem (bäuerlichen Bauten), dem die Zähringer das Gepräge gegeben haben, hätte einen tagelangen Aufenthalt gerechtfertigt. Ich begriff die Grafen von Habsburg und Savoyen, die es nach dem Aussterben der Zähringer als Prunkstück gern in ihre Imperien einverleibt hätten und auch haben: Murten lehnte sich zeitweilig an Freiburg an, wurde aber 1255 unter Peter II. savoyisch, und von 1291 bis zum Ausbruch des Burgunderkriegs (1475) rissen es sich die unersättlichen Habsburger unter den Nagel.
 
Wie immer, wenn ich Reisen plane, setze ich mich über die Geschichte der zu besuchenden Landschaften ins Bild. So war ich auch diesmal wieder in die verstaubtesten Winkel meiner Bibliothek gestiegen und hatte unter anderen Werken das 1977 erschienene Buch „Karl der Kühne“ von Klaus Schelle (Verlag Seewald) ausgegraben, um mein Wissen über die Schlacht bei Murten aufzufrischen. Als ich Eva das Porträt Karls von Rogier van der Weyden auf dem Buchumschlag zeigte, sagte sie mit verächtlichem Unterton: „So en Bubi“ (Solch ein Bubi = Koseform für einen jungen, unreifen Mann); sie ist an den Umgang mit härteren Männern gewöhnt.
 
Die Geschichte: Im Juni 1476 hatte Murten die Belagerung durch die Burgunder zu bestehen. Während 12 Tagen leistete ein kleines Kontingent von 2000 Murtenern und Bernern unter der knallharten Führung von Adrian von Bubenberg dem über 20 000 Krieger umfassenden Heer von Karl dem Kühnen am Rande zur Resignation erbitterten Widerstand. Der kühne Karl, eine faszinierende, aber eher erfolglose historische Gestalt, hätte ein erfolgreicheres Leben gehabt, wenn er sich nicht ausgerechnet mit uns Eidgenossen angelegt hätte ... man identifiziert sich bekanntlich immer gern mit den Siegern, was mir ausländische Nutzerinnen und Nutzer bitte verzeihen mögen. Karl hatte im vorangegangenen Frühjahr 1476 bereits das Städtchen Grandson am Neuenburgersee belagert und die eidgenössische Besetzung hinrichten lassen. Das versetzte die Eidgenossen in Rage; sie rückten von Neuenburg her in Grandson ein und schlugen das Heer und den Karl, dem jetzt jede Kühnheit abhanden gekommen war, in die Flucht. Er stellte dies nachträglich als eine Art Betriebsunfall dar – etwa nach dem modernen Motto, wo Menschen arbeiten, werden auch Fehler gemacht. Und nun musste er natürlich in Murten unbedingt gewinnen, wenn er sein Gesicht wahren wollte.
 
Wie die Habsburger (gemeint sind diesmal die Bewohner der aargauischen Gemeinde Habsburg) 2008 u. a. die Ermordung von Albrecht II. feiern wollen (Blog vom 19.6.2007: Die Habsburg, die Habsburger und die Gemeinde Habsburg), so feierte ich an jenem 18. Juni 2007 das am 18. Juni 1476 – genau vor 531 Jahren – erfolgte nutzlose Zusammenschiessen der Murtener Stadtmauer, weil 6 Stürme hintereinander von den in Murten Verschanzten abgewehrt wurden. Das war eine heroische Leistung. Inzwischen eilten Eidgenossen in Gewaltsmärschen bei miserablem Wetter gut getarnt herbei; sie kamen aus Zürich, dem Aargau, der Vogtei Baden, dem Freiamt, dem Thurgau, Unterwalden, Uri, Schwyz, Basel und Luzern. Wo sich andere von den Fussreise-Strapazen erholt hätten und herumgelegen wären, griffen sie das kühne Heer an, allen voran die Büchsenschützen, hinter ihnen die Pikeniere, also die mit einem hölzernen Schaft mit Speerspitze bewaffneten Kriegshandwerker. Nach mehreren Anläufen im Kugelhagel der burgundischen Artillerie und der Pfeile der Bogenschützen gelang es den währschaften Eidgenossen, die Palisade zu öffnen, zu durchbrechen und dahinter die Artillerie niederzumetzeln. Die Burgunder zogen die Flucht vor, die den meisten von ihnen allerdings verwehrt wurde, und die Eidgenossen sorgten für ein grauenvolles Gemetzel, wie es eben der Brauch war, ohne darob das Einsammeln der reichen Kriegsbeute zu vergessen. Im erwähnten Buch heisst es: „Viele Burgunder werden von den Eidgenossen noch in den Zelten erschlagen, aus Häusern und Backöfen herausgeholt, von den Bäumen heruntergeschossen. Hunderte von Lombarden versuchen, in den See zu fliehen, bis nur noch ihre Köpfe herausgucken: Sie werden umgebracht, wie die Wasservögel’, viele ertrinken. Einem einzigen Kürassier gelingt es, das jenseitige Ufer zu erreichen. Jeder organisierte Widerstand hat aufgehört. Die Schweizer geben, ihrem Grundsatz getreu, keinen Pardon.“
 
Karl der Kühne konnte fliehen und wurde einige Monate später in einer 3. Schlacht vor den Toren von Nancy in Lothringen dann geschlagen und erschlagen, wodurch die Habsburger bessere Verhältnisse für die Ausdehnung ihrer Macht erhielten. So waren die Eidgenossen also noch eine Zeitlang mit der Eroberung der Freiheit beschäftigt. Sie hätten sich wohl nie der US-gesteuerten Nato angeschlossen, was wir blöden Eidgenossen im Moment zu tun im Begriffe sind. Der Freiheits- und Unabhängigkeitswille scheinen (hoffentlich vorübergehend nur) gerade am Erlahmen zu sein. Der jetzige Militärminister Samuel Schmid dürfte als Globalisierungsmitläufer weniger heldenhaft in die nationale Geschichte eingehen.
 
Trotz alledem liess sich meine Familie den Appetit nicht verderben, und wir kehrten in eingeübter Eintracht im Restaurant „Eintracht“ unter den Lauben der Murtener Hauptgasse ein, bestellten in Butter gebratene Bielersee-Felchen, Salat und einen Weisswein vom Vully-Hügel. Das schmeckte wunderbar. Und alle schwelgten im Reiseglück (die Geschichte vom Gemetzel der kühnen Eidgenossen hatte ich wohlweislich für mich behalten).
 
Der Anblick von Neuenburg
Um 14.30 Uhr blies die Schiffsirene zur Weiterfahrt, das heisst zur Rückfahrt auf dem Broyekanal zum Neuenburgersee und zur Anlegestelle in Neuenburg (Neuchâtel). Mit zunehmender Nähe des Abends und wegen der unterschiedlichen, wechselnden Beleuchtung beglückte uns das Wasser mit allen Weiss-, Blau-, Grün- und Brauntönen bis zu Ocker, zu denen es fähig ist, Naturfarben, an denen man sich gar nicht sattsehen kann.
 
Die Dreiseen-Fahrt berührt den Neuenburgersee, diesen grössten Schweizer Binnensee, ausschliesslich im unteren, nordöstlichen Teil, zumal er mit seinen 38.3 km Länge und maximal 8,2 km Breite für unsere Verhältnisse etwas gar umfangreich geraten ist. Doch hatten sich die Eindrücke inzwischen so sehr angehäuft, dass dies nicht als Mangel empfunden worden ist. Die Sonne brannte aufs Oberdeck, wo wir uns inzwischen im gelegentlichen Abgashauch eingenistet hatten. Edith schleppte hinreichend Mineralwasser herbei und sorgte sich zusammen mit Anita und Eva, die mit Augentropfen hantierte, um meine etwas geröteten Augen mit einem Anflug von Bindehautentzündung, die sich aber bald in Minne auflösen sollte. Wahrscheinlich hatte ich zu heftig herumgeschaut.
 
Die langgezogene Stadt, die dem Neuenburgersee den Namen gegeben hatte, brütete bei aufziehenden Wolken schwerfällig am Fusse von „La Grande Côte“ und wurde des wechselnden Sonnenlichts wegen zu einer ähnlichen Verwandlungskünstlerin wie das Antlitz des Sees. Flächen und die Konturen der vielen auch majestätischen Bauten von Neuenburg waren bald über-, bald unterbelichtet. Ich genoss die amphitheatralisch am Hang klebende Stadt mit ihrem Schloss aus dem 12. bis 15. Jahrhundert, einst Sitz der Grafen von Neuenburg und ein Lehrstück in Baustilkunde, und mit der Stiftskirche auf dem Schlossberg, die das ansteigende Seeufer dominieren. Solche Bilder sind einem meist verwehrt, zumal man bei der Durchfahrt im Auto in den Neuenburger Untergrund verbannt wird. Aus Bahn- und Autofahrern macht man Wühlmäuse, die sich durch immer längere Tunnels zu buddeln haben, und manchmal frage ich mich schon, wer sich denn noch für unsere Rechte auf Aussicht einsetzt.
 
Schiffe lassen sich nicht so leicht durch Untergründe lenken, und dementsprechend geniesst man die Bilder übers bewegte Wasser und ans städtische Ufer. Hat man vom See aus Neuenburg vor sich, wird man sich bewusst, dass diese Stadt das Ergebnis einer „Aristokratie der Intelligenz“ ist, wie Maurice Jeanneret einmal schrieb. Hier lebten und leben Uhrmacher und Konstrukteure, deren Technik- und Kunstsinn offensichtlich auch auf das Stadtbild ausgestrahlt hat, ohne dessen Ausdehnung zur praktisch flächendeckend ausufernden Uferbordüre verhindern zu können: manifeste Feinmechanik, auch in den repräsentativen Wohnvierteln. Die traditionsbewusste Stadt war schon immer auch mit der Literatur und Kunst innig verbunden, kein Wunder.
 
In Neuenburg strebt alles, wie das allüberall normal ist, dem Seeufer zu, die Menschen und die Reben. Und nach oben, der Jurahöhe entgegen, wird der Wald von Baumaschinen zunehmend angegriffen, und manchmal kommt es sogar zu einem Wachstum in den See hinaus – wie im Stadtteil „Jeunes Rives“ (Junge Ufer).
 
Unser Schiff hatte beim alten Hôtel des Postes angelegt, in dem sich heute das Tourismus-Informationsbüro befindet. Die Zeit drängte leider zur baldigen Rückfahrt durch den bekannten Zihlkanal nach Biel. Nochmals tauchte das MS „Petersinsel“ unter niederen Brücken durch. Die Kapitänskabine war abgesenkt, die Matrosen riefen zum Kauern auf, und der gross gewachsene Urs verschwand unter den Bänken. Seine Kenntnisse in Schweizergeschichte sind umfassend genug, um zu wissen, dass auch in der weiteren Umgebung des Schlachtfelds von Murten die Gefahr besteht, um einen Kopf kürzer zu werden.
 
Das Kanalufer ist auch hier üppig bewachsen, und doch war bei Thielle-Wavre ein kurzer Blick zum Weiler Montmirail mit einem Institut für Sprachen und Berufsbildung gestattet.
 
Etwa um 18.20 Uhr waren wir nach einem Zwischenhalt an der Petersinsel in Biel zurück, und alle stellten fest, auf der langen Reise sei es keine Sekunde langweilig gewesen. Die Rückreise in den Aargau unterbrachen wir in Solothurn, denn da war im Hotel „Roter Turm“ (www.roterturm.ch) an der Hauptgasse 42 noch das Festessen fällig, das mit Sorgfalt und Geschick zubereitet wurde. Die Fisch-, Fleisch- und Gemüsegerichte waren zu Türmchen aufgebaut und von herrlich duftenden Saucenseelein umgeben. Eine zierliche, strahlende Thailänderin aus Phuket, die ihren Namen mit Püng angab, erklärte im Dachrestaurant „La Tourelle“ über den Dächern der barocken Altstadt in makellosem Deutsch und ohne Versprecher, woraus die verschiedenen Etagen der Leckereien auf dem Teller bestanden.
 
Auch in Solothurn gibt es die welsche Lebensart, und so auch im Restaurant „La Tour Rouge“. Diese weiss ich besonders bei gastronomischen Genüssen zu würdigen. Ich fühlte mich nachher für ein neues, das 8., Lebensjahrzehnt gestärkt und ertrug den Gedanken sehr wohl, dass es jetzt dann wieder spartanischer zugehen muss.
 
Inzwischen sind einige Tage ins Land gegangen, und ich kann nur bestätigen, dass es genau so herausgekommen ist.
 
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