Textatelier
BLOG vom: 04.07.2007

Paul Nizon gelesen: „Im Hause enden die Geschichten“

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Dieses Tagebuchblatt beginnt in unserem Haus in Wimbledon. Hier haben wir 2 grossräumige Wohnzimmer: Eines ist eher geselligen Anlässen vorbehalten, das andere ist aber unsere eigentliche Wohnstube, gleich neben der Wohnküche nach Schweizer Art. Gestern sind die Maler gekommen. Ich musste am Vortag die Stube ausräumen. Das war eine Büez (Arbeit), alle Bücher aus den überladenen Gestellen zu klauben und in grossen Kartonschachteln zu verstauen, und im anderen Wohnzimmer, mitsamt den Kleinmöbeln und Fundstücken aller Art, unterzubringen. Was man dabei zwischen dem doppelreihigen Stapelgut der Bücher nicht alles wiederentdeckt!
 
Ich ergatterte das Suhrkamp Taschenbuch „Im Hause enden die Geschichten“ von Paul Nizon, 1. Auflage aus dem Jahr 1978, und verzog mich damit in mein kleines und vorderhand einziges Refugium unter der verglasten Dachschräge im 1. Stock und begann zu lesen, als der Regen aufs Glas trommelte.
 
Paul Nizon, Schweizer Kunsthistoriker und Schriftsteller, 1929 in Bern geboren und aufgewachsen, lebt seit 1977 in Paris … überfliege ich seinen dem Text vorangestellten Lebenslauf. Der kann schreiben – und wie! Sofort bin ich gebannt, wie er aus der Sicht eines Knaben im Primarschulalter das Haus und seine Bewohner auseinander beinelte – unterteilt in: „Das Haus hat seine Strasse, sein Gesicht, seine Hausbewohner, seine Gegenden, Todesfälle, Landschaften und Schicksale.“
 
Seine Texte wirbeln Erinnerungen in mir auf. Ich lasse einige seiner Sätze mit meinen Beiklängen springen. Seine Sätze sind quicklebendig, packen mich, reissen mich mit. Also denn:
 
„Der Schulweg ist ein unsichtbarer Läufer, der im Morgengehetze ausgerollt wird und unfehlbar im Schulhof endet.“ So ein „Ranzenträger“, wie Paul Nizon den Schüler nannte, bin auch ich gewesen.
 
„Gänge und (Schul-)Stuben riechen nach Pisse und Turnschuhen, nach Angst.“ Ich empfinde nach und zitiere aus meinem Textatelier Glanzpunkt Nr. 55 Beitrag: „Tinte, Handschweiss, Dachlandschaften“ meine Duftnote unter dem Stichwort  „Schultinte: Der Geruch ist mir in der Nase haften geblieben. So vertraut ist mir der Geruch noch, dass ich beim besten Willen nicht sagen kann, ob ich ihn mag oder nicht.“
 
Paul Nizons Haus ist teils Mietshaus, teils Pension und an einer langgezogenen Quartierstrasse eingenistet. Wer kennt als Bub nicht die Leere und Langeweile, etwa an Sonntagen? Zur leeren Strasse bemerkt er: „Es ist die gleiche Leere wie auf einem mittäglichen Bahnhof nach abgefahrenem Zug.“ Oder: „Das flache Postgebäude gähnend vor Nichtbetrieb.“ Wie oft habe ich nicht unterwegs zu einem abgelegenen Ort auf einem leeren Perron auf den Lokalzug gewartet. Das Herz sank mir dabei in die Hosen.
 
Paul Nizon hat auch den Zigarren- oder Tabakladen – ein typischer Quartierladen, so eine Mischung zwischen Kiosk, Papeterie und Leihbibliothek, beschrieben. Dort konnten die Ärmsten Zigaretten stückweise kaufen. „Manchmal kommt ein Kind in so einen Laden“, schrieb Paul Nizon „Dann steht es aufrecht, keck wie eine Rübe, wenn es die Bestellung hersagt ...“ Er fügt einen Satz später hinzu: „So ein Kind kann von fast jedermann geschickt werden. Da – geh hol Zigaretten, sagt der Maurer von der Baustelle.“  Das geht heute nicht mehr, denn so ein Kind will heute die Zigarette selber rauchen. An warmen Sommerabenden schaute oft ein älterer Mann im 4. Stock, von einem Kissen auf dem Fenstersims gestützt, auf die Strasse. Dabei verfolgte er eine Absicht und hielt nach einem Bengel Ausschau, der ihm in der Quartierbeiz an der Ecke 4 Zigaretten holen ging. Wegen dem Batzen, den ich dafür bekam, liess ich mich zu diesem Dienst erweichen, aber ich durfte mich dabei nicht von meinen Eltern erwischen lassen. Wie es stank, in diesem Bierschlauch! Männer jassten dort und tranken einen, meistens mehr als bloss einen Becher „Warteck-Bier“. Der Alte im 4. Stock trug nur ein weisses Leibchen. Er warf das Münz auf die Strasse. Ich sammelte es und kaufte ihm seine Abendportion Zigaretten.
 
Solch ein Quartierleben ist längst ausgestorben. Wer spielt dort noch Fussball in einer Seitengasse oder fährt Rollschuhe mitten auf der langen Quartierstrasse oder hockt im Leiterwagen auf rasender Fahrt strassenabwärts? Ich möchte wünschen, dass jüngere Leser bei Paul Nizon nachlesen, wie es damals gewesen ist, so krautig lebensecht. Ein wahres Linsengericht, das nicht aus dem Fernseher kam. Mit etwas Vorstellungsgabe werden sie, gleich wie ich, so hoffe ich, gefesselt sein vom Haus mit seinen vielartigen Bezügen zum Mittelpunkt der Welt: Das Quartier.
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Mein Tagebucheintrag ist noch nicht ganz zu Ende. Eine persische Bekannte hatte uns 2 aus Persien stammende Maler empfohlen: Der ältere (etwa 36-Jährige) hiess Behzad, der jüngere Neema. Kein lautes Radiogeplärre störte meine Lektüre im 1. Stock. Sie sprachen sanft miteinander. Immer wieder bin ich beeindruckt vom Sanftmut und Anstand der Perser, auch diesmal wieder, wie sie an diesem Arbeitstag insgesamt 11 Stunden arbeiteten und die Zimmerwände, Türen, den Plafond, die Fenstersimse usf. weiss strichen und damit die Nikotinpatina ausmerzten. Sie unterhielten sich abseits jeder Politik. Das sollten sich die kriegslüsternen Amerikaner hinter die Ohren schreiben.
 
Ich war überrascht, als mir meine Frau sagte, dass sie einander siezen und ein gehobenes Farsi sprechen. Welch ein krasser Unterschied zur „F-Sprache“, die man hierzulande erdulden muss! Das Zimmer war in einem Tag frisch gestrichen. Sie hinterliessen keine Farbkleckse. Als sie spätabends mit ihrer Arbeit fertig waren, fuhr ich sie zur Untergrundstation zurück. Fast niemand war mehr auf der Strasse. Die unablässigen Regengüsse – seit Tagen schon anhaltend – unterbrechen laufend das Tennisspiel.
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Jetzt steht mir der erfreuliche Teil der Renovation bevor, wenn ich die Bücher aus den Schachteln hole, abstaube, und neu und besser in die Büchergestelle einordne.
Dabei werde ich wiederum allerlei entdecken, das mich zu neuen Blogs animieren wird.
 
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