BLOG vom: 16.07.2007
Herznach: Das Mädchen im Friedhof wuchs mir ans Herz
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
Manchmal strande ich bei einer Kirche, weil ich eine gute Position zum Fotografieren einer Landschaft angepeilt habe. Kirchen liegen meistens auf Anhöhen. Und es hat mich deshalb schon immer erstaunt, dass die Fenster vor allem und fast ausschliesslich einen Durchblick nach oben statt in die weite Landschaft hinaus (und damit eher nach unten) ermöglichen. Bei dieser Lage, dieser Aussicht! Inzwischen haben viele Indizien meine Vermutung genährt, der Blick zu den Wolken sei den Managern des Christentums wichtiger als ins Land hinaus. Aber das Hinaufschauen wäre wohl auch von den Talebenen aus möglich gewesen. Offenbar wollte man einfach näher am Himmel sein; an schönen Aussichten war den Würdenträgern, die Kirchen bauen liessen, überhaupt nicht gelegen. Es ging ihnen weniger als den wehrhaften mittelalterlichen Burgenbauern darum, von einem guten Beobachtungsposten aus zu sehen, ob Feinde im Anzug seien, als vielmehr ums Gesehenwerden. Die dominante Position der übergeordneten Institution wurde augenfällig gemacht. Die Kirchen sind Christentum-Logos an dominanter Position und manchmal gleichwohl eine erfreuliche Landschaftsbereicherung.
Auf einer solchen Anhöhe, einem aussichtsreichen Hügelsporn, thront auch die katholische Pfarrkirche St. Nikolaus in Herznach (Bezirk Laufenburg AG), wo ich mich im Rahmen von Recherchen für eine Reportage über den in der Nähe vorbeiführenden Eisenweg umhertrieb (in Herznach war die wichtigste Eisenerzabbaustelle der Schweiz).
Bei einsetzendem Regen betrat ich den aus verschiedenen Gebäuden wie dem nachgotischen Beinhaus mit einer hochbarocken Kreuzigungsgruppe und dem mittelalterlichen Pfarrhaus ummauerten, wohlproportionierten Kirchenbezirk durch die erstbeste Holztür und stand unverhofft im Friedhof. Zwischen den Grabsteinreihen sah ich einen blauen Schirm, der sich munter bewegte, drehte und gar nicht dem entsprach, was man an Stillleben und Ruhe sonst von einem Friedhof erwartet. Allmählich erkannte ich zwischen den Reihen einen etwa 10-jährigen Knaben, der den Schirm schwang, und daneben ein etwa gleichaltriges Mädchen mit rundem Hut mit schmaler Krempe, unter dem langes, gewelltes blondes Haar herausquoll. Die beiden trugen blaue Schultornister, waren offenbar aus der Schule gekommen und machten trotz des Hudelwetters einen kleinen Umweg über den Friedhof, ohne Berührungsängste.
Ich ging auf die beiden zu, begrüsste sie nett, und die Kinder wahrten ebenfalls alle Anstandsformen. Das Mädchen trug eine leuchtend gelbe Kunststoffpelerine und schaute mich mit seinen treuherzigen blauen Augen fragend an. In seinen Händen, an denen noch dunkelgraue Erde haftete, hatte es je ein Plastiktöpfchen mit einem kleinen, noch rot blühenden Rosenbusch beziehungsweise einer anderen gärtnerischen Pflanze aus dem Hauswurzsektor. Der Knabe beeilte sich, mir mitzuteilen, sie würden hin und wieder auf dem Friedhof Pflanzen holen gehen, weil diese einfach weggeworfen würden. Er führte mich zu einem rechteckigen Gitter, in dem allerhand Gartenabraum lag, unter anderem blühende Rosen. Das Mädchen sagte, es habe schon 2 Rosenstöcklein daheim. Es habe diese in den Garten gepflanzt, und sie würden gut gedeihen.
Im Brustton der Überzeugung sagte ich zu den Kindern: „Das macht ihr prima. Lebendige Pflanzen dürfte man nicht wegwerfen, und zudem sind sie sehr teuer, wenn man sie kauft. Pflanzen sind Lebewesen und haben es verdient, dass man mit ihnen anständig umgeht. Es wäre schön, wenn alle Erwachsenen so viel Liebe zu den Pflanzen entwickeln würden wie ihr zwei.“ Die Kinder strahlten in den verregneten Friedhof hinaus, offensichtlich froh, statt des vielleicht erwarteten Donnerwetters ein Lob empfangen zu haben.
Das Erlebnis hat mich mehr noch berührt als das Innere des Gotteshauses mit dem elliptischen Chor, der laut dem „Kunstführer durch die Schweiz 1“ zu den „köstlichsten Raumschöpfungen des schweizerischen Spätbarocks zählt.“ Wenn immer ich in einer katholischen Kirche bin, werde ich bei allem Respekt für architektonische Glanzleistungen das Gefühl nicht los, dass hier nur das menschliche Leiden zelebriert wird, nicht aber jenes der Tiere und Pflanzen.
Auch die Friedhöfe machen kaum eine Ausnahme und sind meistens vergewaltigte, kommerzialisierte Natur. Gärtnerische Pflanzen werden mindestens zweimal im Jahr ausgewechselt und fortgeschmissen. Vor vielen Jahren bin ich einmal an einem Waldrand im Raum Eppenberg SO einer grossen Deponie mit Grabsteinen und Friedhofpflanzen, vor allem Buchsbäumen, begegnet, von denen ich einige gerettet habe, ähnlich dem Mädchen aus Herznach, das mir sogleich ans Herz gewachsen ist.
Die Menschen sprechen viel über Alter und Tod, sind oft nicht imstande, diese als normale, ganz gewöhnliche Stationen in einem Lebenslauf zu erkennen und zu akzeptieren. Doch das Umbringen von Tieren und Pflanzen, denen man eine Seele nicht so recht zubilligen mag, belastet sie in keiner Weise.
Wenn das Mädchen von Herznach erwachsen sein und sich einen schönen Rosengarten angelegt haben wird, hat es aufgrund seiner Friedhoferlebnisse vielleicht eine andere Beziehung zu Leben und Tod, eine, die über den Anthropozentrismus hinausreicht, und eine Ehrfurcht fürs nahe liegende Schöne. Es wird hoffentlich alles Leben hier unten unter dem Himmel mit Anstand und ohne Überheblichkeit betrachten und behandeln.
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