Textatelier
BLOG vom: 01.08.2007

Wegenstetten AG: Das Bio-Brunchen am CH-Nationalfeiertag

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Man könnte dem auch Frümi sagen: der Kombination von Frühstück und Mittagessen. Aber weil da eine dramatische Verwechslungsgefahr mit dem Frühmittelalter besteht, das nach der Spätantike begonnen hat, sahen wir Deutschsprachigen uns gezwungen, beim Amerikanismus Brunch, abgeleitet aus breakfast = Frühstück und lunch = Mittagessen, Zuflucht zu suchen. Besonders am helvetischen Nationalfeiertag, dem 1. August, wird auf den so genannten Brunchhöfen (= Bauernhöfen, die einen Brunch anbieten) so intensiv gebruncht, dass die Abdeckungen der altehrwürdigen Jauchegruben einzubrechen drohen und sich die Balken der zu Brunchgelegenheiten umfunktionierten Heuböden durchbiegen.
 
Meine hier wiedergegebene Weisheit über die Zusammenhänge von Bundesfeiertag und Brunch stammt aus einer Sonderausgabe der national verbreiteten BauernZeitung mit dem Titel „Brunch“, die mir der Zufall in die Hände gespielt hat. Darin las ich von der Bedeutung des 1.-August-Brunchs also: „Der 1.-August-Brunch ist kaum mehr von unserem Nationalfeiertag wegzudenken. Bereits zum 15. Mal laden Schweizer Bauernfamilien zum Brunch auf dem Bauernhof ein. Im letzten Jahr (2006) genossen gegen 200 000 Gäste auf 420 Betrieben das vielfältige kulinarische Angebot in besonderer Atmosphäre. Mit dem Brunch öffnen Bauernfamilien der Stadtbevölkerung ein Fenster zur Landwirtschaft und fördern damit Verständnis und Sympathie.“
 
Nun, ich zähle mich nicht zur Stadtbevölkerung, vermutete aber, dass ich als eine Art Urschweizer gleichwohl zugelassen würde, und so war es denn auch. Vor allen Dingen ging es mir darum zu erfahren, was es denn mit der nicht näher umschriebenen „besonderen Atmosphäre“ auf sich habe. So schaute ich die Adressen-Liste unter „AG“ (= Aargau) durch und suchte nach einem Biobauernhof. Endlich stiess ich auf die Familie Helen und Stefan Schreiber-Bernet, Gründelematt in CH-4317 Wegenstetten, die den einzigen Biohof im Aargau betreibt, der sich an diesem 1. August 2007 den Bruncher-Massen öffnen würde. Mir kam das nicht ungelegen, zumal ich schon seit je in Sachen volkskundlichem Wissen über Wegenstetten im unteren Fricktal (Bezirk Rheinfelden) unter schwerwiegenden Defiziten litt, und ich hatte nie gewagt, darüber mit einem verständnisvollen Menschen zu sprechen. So konnte ich wieder einmal mehrere Fliegen auf einen Streich erlegen, um dieses grausame Bild heraufzubeschwören; vielleicht ist es einfach eine Folge meines seelischen Zustands, Resultat des psychiatrisch unbehandelten Wissensmangels.
 
Bevor ich mich auf die Reise ins letzte Dorf im oberen Möhlintal begab, las ich pflichtbewusst noch in der zweibändigen „Landeskunde der Region zwischen Jura und Schwarzwald“ („Nachbarn am Hochrhein“), dass die Vielfalt der Bodenqualitäten das Gesicht der abwechslungsreichen fricktalischen Landschaft prägt. Und dann wörtlich: „Der verlehmte Löss, der auf die Niederterrasse bei Möhlin und auf das Sisslerfeld mit allmählich abnehmender Dicke verschwemmt wurde, macht diese Felder besonders fruchtbar.“ Ich subsummierte Wegenstetten zum erwähnten landwirtschaftlich ertragreichen Gebiet, auf dass also keinerlei Gefahr bestand, dort verhungern zu müssen. Und im gleichen sehr empfehlenswerten Doppelbuch, das von der Fricktalisch-Badischen Vereinigung für Heimatkunde (Möhlin, 2002) herausgegeben worden ist, fand ich im Kapitel „Von Engeln und Ochsen, Adlern und Löwen“ (Band 2, Seite 57) den Hinweis, dass der Betrieb eines Wirtshauses innerhalb einer Dorfgemeinschaft der Obrigkeit seit je wichtig war. Und das wurde genau an einem Beispiel aus Wegenstetten, das in der Schönauer Herrschaft lag, aus dem 18. Jahrhundert illustriert: „Hier war nach dem altersbedingten Rücktritt des Wirtes niemand bereit, das Gasthaus weiterzuführen. Der Freiherr von Schönau liess unter den 5 Wegenstetter Bürgern, deren Stube zu einer Wirtsstube taugte, durch Losziehung jenen bestimmen, der fortan zu wirten hatte. Dieses Vorgehen zeigt auch, dass ein Tavernenrecht (in unserem Falle eine Pflicht!) nicht zwangsläufig an ein Haus gebunden war. Das Recht konnte auch auf einem Schild haften, das an einem beliebigen Haus angebracht werden konnte.“
 
Ich versuchte, dies auf die Bedeutung für meine Brunch-Planung umzumünzen: Die Fricktaler haben eine Tradition im Bewirten, und das Bewirtetwerden ist dort offenbar ein ausgesprochenes Bedürfnis (im Zoo mit seinem Löwen würde man von Raubtierfütterung sprechen). Die Sache war geritzt, und ich meldete Eva und mich telefonisch bei der Familie Schreiber an, die mir, nebenbei gesagt, schon wegen ihres Namens sympathisch war. Beginn: 1.8., 9 Uhr.
 
Die Reise zum Brunch
Der Bundesfeiermorgen war herrlich kühl, fast wolkenlos, und wir nutzen die Reise zum Brunch für ein Drei-Kantone-Landschaftserlebnis mit Tafeljura-Bezug: Erlinsbach–Salhöhe, an der Wasserflue vorbei nach Kienberg SO–Anwil BL –Rothenfluh BL–Wegenstetten AG. Die beflaggten Dörfer im hügeligen Landschaftsgrün, wie es nur ein Regensommer wunderbar in dieser Reinheit hervorrufen konnte, machten mir einen gepflegten Eindruck, weil sie auch architektonisch kaum verunstaltet sind. Und das viele Rindvieh auf den Weiden freute mich; die Stallpflicht ist weitgehend überwunden. Man trinkt die Kuhmilch wieder mit besserem Gewissen.
 
In Wegenstetten passierten wir den Südwestfuss des Hersbergs und folgten dem Lauf des Möhlinbachs, dessen Verlängerung nach oben genau zum Flugplatz Schupfart führen würde. Eine mit üppigen Informationen versehene Tafel „Brunch“ bewies uns bald, dass wir richtig gespurt hatten. Wir bogen nach rechts, ins Feld hinaus, ab, viele andere taten es uns gleich. Und etwa 300 m weiter oben hatte sich eine Wiese in einen reich frequentierten Parkplatz verwandelt. Ein freundlicher Herr mit bäuerlichem Gehabe und ohne Maestroallüren dirigierte uns unkompliziert ein, grüsste und wünschte „En Guete“ (Guten Appetit). Es war etwa 9.15 Uhr – und schon so viele Leute! Der Verkehr zum Hof schien ständig anzuwachsen. Ich dachte an die beliebig zu verlegende Tavernentradition und das Bedürfnis nach Bewirtung: wie wahr!
 
Der Brunch
Ich bezahlte neben einem Stand, wo der letzte Honig der letzten Bienen verkauft wurde, und neben glücklichen Schweinen in einem Gehege total 48 CHF für uns 2 Personen, erhielt 2 Kleideraufkleber „Brunch auf dem Bauernhof“. Dann begann das Fest. Zwischen dem Ökonomiegebäude, dessen Heuboden ebenfalls bestuhlt und betischt war, standen Tischreihen, die ich nicht gezählt habe und die sich tief ins Gebäudeinnere hinzogen, so weit der Platz nicht für die Abgabe der Brunchzutaten gebraucht wurde. Ein kühler Wind vertrieb den Duft nach gebratenem Speck, und wir bezogen einen Tisch im Schatten, den wir in Verdacht hatten, mit der Zeit von der Sonne bestrahlt zu werden, damit wir das ergänzende Vitamin D gleich selber produzieren konnten. Man muss sich nur zu helfen wissen.
 
Ich beschaffte Tabletts, Teller, Besteck und steuerte gleich auf die Abteilung „Rösti, Speck, Spiegeleier“ zu. Schritt um Schritt arbeitete ich mich geduldig, ohne die Regeln geduldig stehender Schlangen zu verletzen, zu den grossen Pfannen heran und füllte den Teller. Damit falsche Vorstellungen gleich im Keime erstickt werden: Der Teller hatte nur Dessertteller-Grösse und war bald voll. Natürlich hätte ich gern eine Tasse Milchkaffee dazu gehabt, aber dort war eine andere Kolonne aufgereiht, so dass mir all das Gebratene im Biswind erkaltet wäre. Ich genoss das ohne Spülflüssigkeit.
 
Normalerweise wähle ich an Buffets meine Sachen gern selber, doch Eva und ich sahen bald einmal ein, dass wir die Aufgaben aufteilen mussten und jeweils gleich für 2 Personen fassen mussten. Beim Kaffee schafften wir das gerade noch. Doch strömte ununterbrochen mehr hungriges Volk mit echt schweizerischen Qualitäten herbei: Mütter mit Kindern zwecks Fortbestand der Nation, junge Männer, mit Florida-Leibchen und Schlapphut, die ihren US-Aufenthalt kundtaten (und wahrscheinlich reumütig zurückgekehrt waren), Männer mit Hunden an der langen Leine, sodann typische, währschafte, rechtschaffene und freundliche Fricktaler, ganze Familien mit Kindern auf des Vaters Buckel und im Kinderwagen usf. Eine ältere, ebenso korpulente wie vorausplanende Dame, die an unserem Tisch Platz nahm, sagte, sie habe extra einen weiten Jupe angezogen, um über die Bank klettern zu können. Sie schaffte es problemlos. Ihr liebenswürdiger, gesprächiger Mann war stolz auf seine Frau. Angenehme Fricktaler, weltoffen und jeder Situation gewachsen.
 
Die Kolonnen wurden immer länger, die Teller knapp, und Gläser für den Kirschenjus waren nicht mehr aufzutreiben. Ich füllte 2 Kaffeetassen damit. Der Chriesisaft schmeckte herrlich, ein süsser Likör ohne Alkohol und doch vollmundig. Auf einem mehrere Meter langen Trampolin von „Die Mobiliar“ vollführten Kinder ihre zirkusreifen Luftnummern, und eine Zeitlang wurde noch ein Jodellied abgespielt, das den Betrieb nur bruchstückweise zu übertönen vermochte, etwa bei besonders hellen Jauchzern.
 
Eva trug sich schlotternd mit Fluchtgedanken, und dann gaben wir es auf. Das Schlangestehen ist schliesslich keine nationale Pflicht. Zwar hatten sich die Bauernfamilie Schreiber und ihre Helfer alle Mühe gegeben, gute Sachen aufgestellt, sammelten Geschirr zusammen, wuschen ab, schnitten Käse, doch dieser Andrang war einfach nicht mehr zu bewältigen. Das spricht ja gerade für diesen Biohof, der offenbar einen guten Ruf hat, nun aber förmlich überrannt wurde.
 
Im Dorf Wegenstetten
Wir fuhren dann hinunter ins Zentrum von Wegenstetten, wo unter dem dominanten Kirchhügel mit der Barockkirche, deren Frontturm von 1487 stammt, der dörfliche Friede herrschte und man sich in die Zeiten der Seidenbandweberei zurückversetzt fühlte. Es ist eine Mischung aus Strassen- und Haufendorf, das gut erhalten ist; doch die zersiedelnden Umgebungsbauten haben wenig Rücksicht darauf genommen. Wegenstetten ist keine Ausnahme.
 
Auch in der römisch-katholischen Kirche St. Michael war Ruhe. Der alttestamentarische Schutzpatron Michael, der den Glauben verteidigt und seine Waffen gegen die bösen Geister und die von der allein seligmachenden Lehre abweichenden Häretiker einsetzt (ganz im Sinne von Papst Benedikt XVI.) hatte gerade frei. Es waren keine Abweichler-Katholiken auszumachen, und das Himmlische Jerusalem, das ebenfalls von Michael beschützt wird, war auch nicht in Gefahr.
 
Die Wegenstetter Kirche von J. C. (Johann Caspar) Bagnato ist innen ganz anders als man es von aussen vermuten würde. Auf den rechteckigen Grundriss wurde ein querovaler Chorraum gesetzt. Dahinter ist der Hochaltar im schwingenden Rund; Kreise und Ellipsen haben keinen Anfang und kein Ende. Und alles ist in barocker Festlichkeit geschmückt, etwas üppig für ein bescheidenes ländliches, aber sehr bildungsbeflissenes Dorf (Wegenstetten hatte schon 1717 eine Schule, die erste übrigens, die es in einer Landgemeinde des Bezirks Rheinfelden gab).
 
Beeindruckt hat mich das neugotische Denkmal mit der Christusstatue bei der Kirche Wegenstetten, das ans furchtbare Unglück im Schulhaus der Nachbargemeinde Hellikon vom 25. Dezember 1875 erinnert. Dort war der Andrang zu einer Weihnachtsfeier so gross gewesen, dass die Treppenanlage zusammenbrach und 68 Personen aus Hellikon und 8 aus Wegenstetten das Leben verloren haben.
*
Seit 1965 steht unter der Orgelempore der Kirche Wegenstetten eine Bruder-Klaus-Statue, die den rechten Arm schützend ausstreckt; sie wurde vom einheimischen Bauern und Dichter Leo Schreiber (1902–1977) geschnitzt. Vielleicht war es genau dieser Niklaus von der Flüe, der als „Vater des Vaterlands“ galt und vielleicht noch immer gilt, und der uns in diesem Wegenstetten davor geschützt hat, dass wir uns sattgegessen haben. Er zeigte ja selber, mit wie wenig man auskommen kann, wenns sein muss.
 
PS.: Soeben höre ich in den Radio-DRS-Nachrichten: Der Brunch auf dem Bauernhof sei 2007 wieder „ein voller Erfolg“ gewesen. Wiederum hätten etwa 200 000 Personen daran teilgenommen.
 
Nach meinem Eindruck waren die meisten von ihnen in Wegenstetten.
 
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