BLOG vom: 13.08.2007
Tiefsinniges zum Hochwasser: Klugheit aus dem Schaden
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
Nach dem Hochwasser nach dem 8. August 2007 beginnt jetzt, nach geschlagener Wasserschlacht, das grosse Hülsenauflesen. Der übliche Ablauf: Keller werden entrümpelt und herausgeputzt, das Gras auf den Wiesen steht wieder auf. Strassen und Brücken werden repariert und Lehren gezogen. Dazu gehört die an dieser Stelle bereits mehrfach und schon vor langer Zeit geäusserte Erkenntnis, dass der Hagneck-Damm (Blog vom 25.04.2007: Hagneckkanal im Grossen Moos: Zurechtweisung der Aare) und der zum Walensee führende Escherkanal-Damm (Blog vom 19.03.2007: Aspekte der Geradlinigkeit: Linthebene und Linthkanal heute) Schwachstellen im künstlichen System der Juragewässer-Korrektionen beziehungsweise der Linthebene-Melioration seien und etwas unternommen werden muss. Für diese Erkenntnis brauchte es dieses Hochwasser eigentlich nicht; es gab aber immerhin den uns umsorgenden Behörden Anlass, ihren unbedingten Handlungswillen einmal mehr zu bekunden. Auch in Döttingen AG am unteren Aarelauf, jenem Sandsack-Mangelgebiet, sollen die zu niedrig geratenen Dämme erhöht werden; selbst die dortige Brücke nach Kleindöttingen wurde zu tief unten gebaut, so dass bei Hochwasser die sich aufwölbenden Wellenkronen vom Brückenbogenscheitel beschädigt werden.
Sachzwänge
Man wird also vor allem an den Dämmen herumdoktern, auf dass noch mehr Regenwasser bei Extremereignissen, wie sie amtssprachlich neuerdings heissen, möglich schnell bachab geleitet werden kann. Das ist deshalb ein Sachzwang, weil man tief unten, wo sich das Wasser gern aufhalten würde, allerhand Bauten in die Tallandschaften gesetzt hat. Sie gilt es zu schützen. Das ist das Gebot der Stunde, löst aber das Problem nicht ursächlich. Durch die rasante, das heisst unverzügliche Wasserableitung verschiebt man die Krise einfach in tiefere Lagen. Und wenn dort unten zu viel von ihm aufs Mal zusammen kommt, ist die Kalamität da.
Kanalisierungen, Dammbauten und dergleichen Einsatzmöglichkeiten für immer schwereres Baugerät waren in den letzten etwa 200 Jahren der grosse Renner. Die Ökologen sahen die Entsumpfungen nicht gern, hatten aber mit ihrem naturschützerischem Argumentieren hinsichtlich Wasserhaushalt, Biodiversität und Libellen gegen die Ingenieure und die Politik keine Chance. Den Amphibien wie Teichmolchen, dem Nixen- und Laichkraut, den Gebänderten Prachtlibellen und den Kiebitzen stellten die Wasserbauer die Malariamücken gegenüber. Diese Mücken haben den Disput allein durch ihre Erwähnung gewonnen. Es konnte entsumpft werden (Linthebene, Grosses Moos).
Auslauf statt höhere Dämme
Das Wesentliche wurde vergessen: Dass nämlich die Gewässer genau wie das Nutzvieh Auslauf brauchen, wenn sie gesund bleiben sollen. Das heisst, dass es bei einem grossen Wasseranfall Überschwemmungszonen (Wässermatten) braucht, auf denen der Wasserüberfluss zwischengelagert werden kann, wie das im Aargauer Wasserschloss an den Überschwemmungstagen wieder geschehen ist. Das entspannt die Lage an Ort und Stelle (die Flüsse beruhigen sich) und in den unterhalb davon liegenden Landschaften. Im Prinzip sind seit den Juragewässerkorrektionen auch die 3 Seen (Bieler-, Neuenburger- und Murtensee) solche Speicher.
So lange man den Gewässern, denen man wegen der ständig zunehmenden Boderversiegelungen ohnehin Unzumutbares zumutet, nur ungenügend grosse Flächen für die Zwischendeponierung zugesteht, kurbelt man aufschaukelnd am Hochwasser-Teufelskreis und muss am Ende die Voralpen abtragen, um genügend Material für Dammbauten zu bekommen. Doch solche Einsichten sind amtlicherseits noch nicht überall vorhanden. Man kapriziert sich auf immer stärkere Dämme, die halten, so lange man sie unterhält, der Freizeitgesellschaft nicht unähnlich.
Spaziergang an der Bünz
Nach meiner individuellen Aufarbeitung meiner Augenscheine an der hochgehenden Aare vom 9. August 2007 (Hochwasserexkursion im Wasserkanton Aargau bei Regen) habe ich mich am 10. und 11. August zu Spaziergängen an der Bünz und am Aabach zwischen Wildegg, Möriken und Niederlenz AG aufgerafft. Ein naturkundiger Leser unseres Blogateliers hatte mir den Impuls dazu gegeben, indem er mir nach der Konsumation meines Hochwasserberichts mailte: „Wenn Du noch nicht genug hast vom Wasser, dann empfehle ich Dir einen Besuch der Bünz bei Möriken–Wildegg. Wunderbar wie die Natur gearbeitet hat – selbst wenn es nicht alle so sehen ...“ Der Tip fiel auf fruchtbaren (wenn auch durchnässten) Boden.
Dort, im Bünz-Unterlauf, hatte sich schon am 12./13. Mai 1999 ein 100-jährliches Hochwasser eingestellt. Der etwa 30 km lange Bach, der vor allem den verdichteten Maisäckern im Freiamt oben entspringt und bei Wildegg die Aare tränkt und mit zu all dem Überfluss mit Freiämter Ackererde bereichert, war vor allem in seinem Unterlauf zwischen der Brücke Rosimatten und der Linkskurve Mühlematten (Gemeinde Möriken-Wildegg) über die Ufer getreten und meldete damit seine Ansprüche nach einem zusätzlichen Platzbedarf an. Im Überschwemmungsgebiet ist das Längsgefälle mit 12 Promille am steilsten. Und da geschah ein politisches Wunder: Die Behörden im Aargau liessen sich inspirieren und schufen an der Bünz eine so genannte Kulturlandaue (Blog vom 13.09.2006: Bünzaue und Aare-Umgehung: Wo Fliessgewässer fliessen). Das heisst, dass der Gewässerraum und die Landwirtschaft eine enge Verbindung eingingen, auf dass die Interessen beider Seiten einigermassen gewahrt wurden.
Unterhalb des Dorfs Möriken ist die Bünzaue durch das jüngste Hochwasser soeben neu gestaltet und ausgebaut worden; das Bachbett hat viel grössere Dimensionen erhalten. Die Lagekarte „Bünzaue Möriken“ beim Feuerwehrlokal (wo es auch Parkplätze gibt) muss neu gezeichnet werden: Im Gebiet Hasli/Wil hat die wilde Bünz die Prallhänge zurückversetzt und viel Kulturland abgetragen. Wahrscheinlich hängte es im Staubereich des Kraftwerks Wildegg-Brugg zu nichts nütze herum. Der Bach fliesst seither in verschiedenen Strängen durchs verbreiterte Bett. Baumstämme haben eine liegende Position eingenommen – insgesamt ein Stück urtümlicher Natur. Kinder vergnügten sich am Samstagnachmittag, 11.8.2007, als die Wolken entleert waren und die Sonne wieder schien, in der neu entstandenen Bachlandschaft mit ihren Kies- und Sandinseln, Steinen und Hölzern, und ein junger Mann war hierher gekommen, um zu lesen und in diesem Naturgebiet durchatmen zu können. Eine Anwohnerin, die mit ihrem Hund hier einen schönen Auslauf hat und sich in der neuen Landschaft neue Wege suchen musste, sagte zu mir, diese Bünz mache ihr Angst, das sei des Guten nun doch zu viel, zeigte sich aber dennoch von der umwerfenden landschaftlichen Schönheit beeindruckt. Die Bauern seien erbost und verzweifelt; sie hätten viel Land verloren (das Gebiet wird ihnen vom Kanton Aargau als Pachtland zur Verfügung gestellt). Ich nehme an, dass diese Auenlandschaft nicht auf ihre Kosten gewachsen ist.
Die Bünzaue ist im auenfreundlichen Kanton Aargau übrigens das einzige Gebiet, wo solche Prozesse des Gewässermäandrierens ungestört ablaufen dürfen; das Gebiet hat deshalb nationale Bedeutung und ist für Möriken (Bezirk Lenzburg) eine bedeutende Attraktion. In der Nähe, an der Othmarsingerstrasse 31, ist der Bauernhof Rudolf Briner-Kramer, der Pferdekutschen vermietet. Es wäre stilrein, sich mit einem noblen Pferdegespann zu dieser Sehenswürdigkeit führen zu lassen.
Spaziergang am Aabach
Beinahe parallel zur Bünz fliesst etwa 1 km westlich der Aabach (aus dem Hallwilersee) heran, der zum Teil kanalisiert ist und mit Schiebern die Fliessrichtung zugewiesen erhält. Doch darf er sich zwischen Niederlenz und Wildegg einiger frei fliessender Stellen erfreuen. Das unterschiedlich breite Bachbett bietet beschränkte Erosionsmöglichkeiten für den Bach, der hier ein bisschen gestalterisch tätig sein und Uferböschungen anfressen darf. Während der kürzlichen Regentage hat er hier kraftvoll gewirkt, ohne nennenswerten Schaden anzurichten. Er schwappte wohl an einigen Stellen über die Ufer, spülte den Naturbelag des Spazierwegleins an einigen Stellen aus und gab damit zu erkennen, dass auch er noch gern etwas mehr Freiraum hätte. Vielleicht entsteht hier einmal eine Aabachaue.
Reinigungsrituale
Eine Zeitlang hatte ich insbesondere am Aabachufer das Gefühl, eine Hochwassersituation sei vielleicht ein Reinigungsritual der Natur. Denn da haben sich unter viel anderem der Oberteil eines weissen Plastikstuhls, ein ganzes Autorad und allerhand Kunststoff wie gefüllte Robidogsäcklein aus den ständigen Gassibedürfnisssen, eine Plastikabdeckung einer Vanilleglacé-Schale usw. im Naturgebiet verfangen, vor allem an Baumstämmen. Bei diesen Anblicken hatte ich das Bedürfnis, den verehrten Landwirten mein aufrichtiges, mitfühlendes Beileid zu bekunden: Was man ihnen auf ihrer Arbeitsfläche an Zivilisationsexkrementen zumutet, geht auf keine Kuhhaut, nicht einmal auf eine solche einer überdimensionierten Turbo-Hochleistungskuh.
Überhaupt bereitete mir die kleine Wanderung am Aabach kein besonderes Vergnügen, da sich das sprudelnde, schäumende Wasser gerade von den Klärwasserabgasen befreite, die sich in meine Nase verirrten. Da schienen ganze Belebtschlammverfahren und Faulturminhalte unterwegs zu sein. Es ist nämlich so, dass unsere Kläranlagen bei enormem Regenwasseranfall die Segel streichen, alle Augen zudrücken und den mit dem besten Willen nicht zu bewältigenden Abwasseranfall unbehelligt vorbeiwinken. Ich rieche das bei Spaziergängen an Bach- und Flussufern nicht gern. Und was Fische über diese Art Futter denken, weiss ich nicht.
Die Idee vom Reinigungsritual der Natur habe ich innerhalb dieser besonderen Atmosphäre, die mich an Reisen in arme, kläranlagenfreie oder -arme Länder wie Oberitalien erinnerte, gleich wieder fahren gelassen. Da die Natur alles umzusetzen versteht und keinen Abfall kennt, braucht sie sich schliesslich auch nicht zu waschen. Und wenn ein synthetisierter Gegenstand wie eine kaum abbaubare Plastikflasche in ihren Einflussbereich kommt, ist es nicht ihr vordringliches Anliegen, diese Grosstat der Wegwerfgesellschaft möglichst bald bachab zu transportieren; denn dort unten ist ja auch wieder Natur bzw. sie war einmal. Es wäre also eine sinnlose Verschiebung (Abschiebung) nach menschlichem Vorbild. Auf diesem tiefen Niveau arbeitet die Natur nicht.
Brücken als Störenfriede
Das Geschwemmsel, oft Äste und ganze Bäume, wird von Bächen und Flüssen bei erster Gelegenheit wieder abgelagert; dieses Material wird zu neuen Lebensräumen mit Nischen etwa für Fische. Irgendwo verfangen sich solche Mitbringsel. Ein Seitenkanal des Aabachs, der in der Nähe von Wildegg die Lenzburgerstrasse unterquert, war von solchem Material gestaut worden, so dass dann zu wenig Platz für den Wasserdurchfluss war und die Flüssigkeit auf die Strasse floss, wie Spuren andeuteten.
Brücken, besonders wenn sie mit Pfeilern in den Gewässerbetten stehen, sind Hindernisse für grosse, auf den Wellen reitende Brocken wie Baumstämme. Es kommt zu Verklausungen, das heisst die Brücken werden zu Stauwehren, sind dem Druck von der Seite nur beschränkt gewachsen. Man darf schon sagen, dass Brücken eigentlich wie Dämme Fremdkörper im System des Wasserhaushalts sein können, wobei ich damit nicht zum Ausdruck bringen will, dass alle gleich abgerissen werden sollten. Nötigenfalls besorgt das das Wasser schon, wie das mit der kleinen Betonbrücke im oberen Teil der Bünzaue (Gebiet Wilhalden) geschehen ist.
Die Funktion der häuslichen Keller
Das Wasser hat seine eigenen Eigenschaften, wozu auch gehört, dass auf der Suche nach Freiräumen gern in Tallagen gebaute Häuser und insbesondere in deren Keller eindringt. Damit übernehmen insbesondere die Untergeschosse zum Teil auch die Aufgabe der allzu bescheiden bemessenen oder fehlenden Überflutungsflächen. Solche Keller sind also vom wasserhaushälterischen Standpunkt aus sehr nützlich, und dementsprechend verdienen die Hausbesitzer mit tief liegenden Kellern den Dank der Öffentlichkeit. Wie die Feuerwehren gehören auch sie, die Hausbewohner in Überflutungszonen, zu den Helden der Naturkatastrophen (den Begriff Heldentum habe ich in diesem Zusammenhang von der New Yorker Feuerwehr entlehnt).
Nur verstehe ich nicht ganz, weshalb die Talbewohner mit Überschwemmungsaussichten Güter in ihren Kellern lagern, die im Wasser verderben, darunter alte Bibeln, historische Möbel und anfällige technische Geräte. Sogar das Aarauer Stadt-Museum „Schlössli“ ist dieser Lust an der Tieflagerung erlegen.
Nach jeder Katastrophe werden Lehren gezogen, die man allein schon durch ein gewöhnliches Nachdenken auch früher hätte ziehen können. Und je mehr Schaden es gibt, desto klüger werden wir Menschen. Wenn wir so weiterfahren, werden die nächsten Generationen vor Klugheit strotzen.
Hinweis auf weitere Ausflugsberichte und Blogs zur Reisethematik von Walter Hess
(Reproduktionsfähige Fotos können zu all diesen Beschreibungen beim Textatelier.com bezogen werden.)
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