BLOG vom: 29.08.2007
C.G. Jung: Die Intro- und Extraversion mit den Schatten
Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
Im Alter zwischen 17 und 24 Jahren habe ich das Dreigestirn Sigmund Freud, Carl Gustav Jung und Alfred Adler wissbegierig durchackert. Dabei ging es mir darum, vertiefte Menschenkenntnisse zu erwerben und ganz besonders auch, mich unter die Lupe zu nehmen. Zuletzt kam ich zum Schluss, dass die Literatur mir diese Menschenkenntnisse auf viel angenehmere Art vermittelt.
Vom Schweizer Psychologen Carl Gustav Jung (1875–1961) hatte ich zum Abschluss meiner Eskapade in die Psychologie sein Sammelwerk auf Englisch („The collected works“ in der Erstausgabe von 1960, Herausgeber: Routledge & Kegan Paul Ltd) mit wechselnder Aufmerksamkeit gelesen. Davon ist nur der Band 8 („The Structure and Dynamics of the Psyche“) in meiner Büchersammlung übrig geblieben, denn, wie gesagt, musste Platz für die Literatur und kunstgeschichtliche Werke geschaffen werden.
Heute Morgen habe ich „Eine Einführung in die Psychologie C.G. Jungs“ von Frieda Fordham (1959, vom Rascher Verlag Zürich herausgegeben) wieder gefunden angeblättert und – schwupps in einem Zug bis zum 4. Kapitel überflogen. Aufs Nachlesen der anschliessenden Kapitel „Religion und Individuationsprozess“, „Psychotherapie“ und „Die Träume und ihre Interpretation“ habe ich verzichtet, da sie abseits meiner heutigen Interessen liegen.
Frieda Fordham hat es verstanden, genau wie auf dem Klappentext vermerkt, die Essenz von Jungs Werk, „gründlich fundiert, dabei aber lebensnah und in einem ansprechenden Stil geschrieben“, dem Leser nahe zu bringen. Jungs Psychologie muss damals nachhaltiger als ich dachte auf mich eingewirkt haben. Dazu ein kleines Beispiel. Das Wort „Libido“ habe ich immer im Jung’schen Sinne benutzt und nicht einzig aufs Geschlechtliche begrenzt, sondern mehr als Wunsch, Verlangen und Bedürfnis ausgelegt – eine Spannung, die aus Gegensätzen zur psychischen Energie verwandelt wird.
Ich erkenne mich und meine Mitmenschen teilweise in den Begriffen Intro- und Extraversion. Wie von Frieda Fordham widerspiegelt, scheint der introvertierte Mensch Jung näher gelegen zu haben als der extravertierte. Zu diesen 2 einander entgegengesetzten Einstellungstypen bemerkt Fordham: „Die Jungsche Einstellung kann (ebenfalls) als introvertiert bezeichnet werden, weil die Faktoren auf die Jung am meisten Wert legt, der inneren Welt entspringen und im Speziellen dem kollektiven Unterbewussten angehören.“
Vorsicht ist jedoch geboten: Die scharfen Gegensätze zwischen Intro- und Extraversion, wie von Jung erfasst, sind oft in der Psyche eines Menschen vermischt. Ich zitiere Fordham: „Die frühesten Zeichen von Extraversion zeigen sich bei einem Kind in seiner schnellen Anpassung an die Umwelt und in seiner aussergewöhnlichen Aufmerksamkeit gegenüber Gegenständen und besonders auch in seinen entsprechend raschen Reaktionen.“ Kein Wunder, dass ein solches Kind bei den Lehrern beliebt ist.
Im Gegensatz ist das introvertierte Kind: „scheu und zögernd, hat ungern neue Situationen und begegnet neuen Dingen mit Zurückhaltung, ja manchmal mit Angst. Es zieht es vor, allein zu spielen und hat lieber einen Freund als viele.“
Auf den extravertierten Erwachsenen übertragen, „ist er sehr gesellig, entgegenkommend und interessiert sich für alles Mögliche. Er hat gerne Organisationen, Vereine, Gesellschaften und Einladungen, ist gewöhnlich sehr aktiv und nützlich. Ich erkenne und anerkenne sie, wiewohl ich mich selbst als eher introvertiert bezeichne. Könnte es nicht sein, dass diese einander entgegengesetzten Typen sich anziehen, gemäss der Redensart „Gegensätze ziehen einander an“? Wehe, wenn sie einander ausziehen …In der Ehe finden sich viele Beispiele davon. Laut Jung missverstehen sich diese 2 Grundtypen leicht: Der Introvertierte sei egoistisch und fad, urteilt der Extravertierte. Sein Gegentyp wirft dem Extravertierten vor, er sei oberflächlich, wenn nicht gar unehrlich. Solchen Urteilen kann ich mich nicht anschliessen, allein schon auf Grund meiner eigenen Lebenserfahrung und Beobachtung meiner Umwelt.
Wer immer sich die Fragen stellt: „Wer bin ich und wie verhalte ich mich?“ wird zum Schluss kommen, dass seine Selbstdarstellung wechselhaft ist. In anderen Worten: Er/sie passt sich wechselnden Umständen mehr oder weniger erfolgreich an. Der Mensch trägt verschiedene Masken, spielt verschiedene Rollen. Diese sind in seiner „Persona“ (Psyche) – ein Fachausdruck, den Jung geprägt hat – verankert und von seiner Individualität bestimmt. Ohne auf meine eigene Persona einzugehen, stelle ich fest, dass ich in meinem Brotberuf ganz anders auftrete als jetzt, wo ich mein Blog schreibe oder mich mit Bekannten und Freunden unterhalte. Im letzteren Fall untergliedert sich meine Persona in mehrere Facetten, je nachdem, mit wem ich mich gerade unterhalte, witziger mit X, ernsthafter mit XX, oberflächlicher mit XXX usf. Ich bin mir kaum bewusst, wie ich meine Rollen variiere. Sie haben sich im Verlauf der Jahre gebildet und sind in mir eingependelt, um mit meiner Umwelt zurecht zu kommen. Nun gibt es auch Leute, die mit ihren Rollen ungelenk und schwerfällig umgehen und deswegen als unangepasst auffallen. Wie leicht man aus seinen Rollen fallen kann, das sei hier übersprungen … Am nächsten bin ich mir selbst, wenn ich schreibe. Da bricht mein Naturell durch. Ich bin froh, dass ich dank meiner Persona mich bald mischfarbig zwischen intro- und bald extravertierten Extremen bewegen kann.
Die Persona hat auch ihren „Schatten“, der im Unterbewussten eingelagert ist. Dieser Schatten umfasst unsere persönlichen Schwächen. Wie lockt man sie aus ihrem Schattendasein ins Bewusstsein? Das ist mitunter sehr schwer, da der Schatten wie ein Quälgeist tief in uns verdrängt ist oder gar verleugnet wird. Die Frage Worüber schämen wir uns innerlich? mag ihn bisweilen ans Licht zerren, ohne dass wir gewillt sind, unsere Antwort dem öffentlichen Rampenlicht preiszugeben. In diesem Sinne ist Selbsterkenntnis der Weg zur Besserung – oder wie Fordham es ausgedrückt hat – „zur Neuorientierung der Lebensführung“.
Mit den Themen Persona und Schatten sind wir mitten in die „Archetypen des kollektiven Unbewussten“ vorgedrungen – gestolpert, bin ich versucht zu sagen. Einen weiteren Archetypus hat Jung als „Anima“ und „Animus“ – latente männliche Seelenzüge bei der Frau und umgekehrt weibliche beim Mann – bezeichnet, oft stark mit dem Mutter- oder Vaterbild verhaftet. Was wäre die Literatur, Poesie und Musik ohne „Anima“ und „Animus“ mit allen daraus entspringenden Verwicklungen oder Verwirrungen und mannigfaltigen Wunschvorstellungen des idealen Weibes oder Mannes? Eine Steinwüste für den schöpferisch tätigen Menschen!
Mein Geigenlehrer hat mich erstmals auf die abwechslungsreichen weiblichen und männlichen Melodien und Variationen hingewiesen. Welche bevorzuge ich? Das kommt als Zuhörer ganz auf meine augenblickliche Stimmung an. Als Instrumentalist oder Sänger hingegen muss man beiden – Anima oder Animus – gleiche Werte zumessen, so wie der Komponist sie seinen Werken mitgegeben hat. Der Feminismus als Schrittmacher der Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann hat in unserer Kultur etliche Runden, doch längst nicht alle gewonnen … Was geziemt der Frau, was geziemt dem Mann bleibt weiterhin eine umstrittene Frage.
Nach diesem gewiss oberflächlichen Streifzug durch die Jungsche Psychologie erkenne ich die Lotsendienste, die sie dem Menschen leisten kann. Doch, wie schon angetönt, verlasse ich mich heute lieber auf andere Lotsen, wie sie aus dem Boden der Lebenserfahrung nach und nach entspriessen. Dazu gilt es die eigene Beobachtungsgabe, sich selbst und der Welt gegenüber zu schulen und zu stärken. Das hört sich alles wie eine Sonntagspredigt an. Also gute Nacht für heute im Reich der Träume – ohne Traumdeuterei.
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