Textatelier
BLOG vom: 02.09.2007

Die rätselhaften Hügel: Mit Emserinnen von Tuma zu Tuma

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Was sind das für geheimnisvolle Hügel (romanisch: Tumas), die in der Bündner Rheintalebene zwischen dem Gebirgszug Pizokel (Dreibündenstein) und dem Calanda stehen und um die sich das Dorf Domat/Ems GR gruppiert hat? Sie sind wie Sockel, die allein schon dekorativ sind oder auf die man etwas besonders Attraktives stellen kann – eine Kapelle, eine Kirche, eine Weihnachtstanne zum Beispiel. Hügel sind im religiösen Sinne eine Verbindung von Boden und Himmel, also Kultplätze.
 
Die Reise vom Aargau nach Ems schien mir gerechtfertigt zu sein, als ich von meiner im Gebiet Sut Rieven (unter dem Fluss) in Ems wohnenden Schwägerin Lilly Fetz-Pfosi auf die Exkursion des Frauenvereins Domat/Ems aufmerksam gemacht wurde, bei welcher dieses Geheimnis gelüftet werden sollte. Lilly dokumentierte mich in verdankenswerter Weise auch mit viel Literatur über Domat/Ems. Der einheimische Primarlehrer Beat Märchy, der die Exkursion mit didaktischem Geschick leitete, hatte sich eine riesige Mühe gegeben und viel Material über die Hügellandschaft zusammengetragen.
 
Auf der Tuma Turera
So versammelten sich am Samstagmorgen, 25. August 2007, etwa 20 Personen auf der Tuma Turera (Turmhügel), auf dem die St. Johanneskirche (Baselga da Sogn Gion Battista) thront. Sie wurde von uns bis hinauf auf den Turm mit den Schiessscharten und den bis 2 m dicken Mauern und den 3 Glocken einer gründlichen Inspektion unterzogen, ebenso der spätgotische Flügelaltar von 1504 und die Heiliggrabkapelle (ehemaliges Beinhaus) mit der berühmten frühgotischen Heiliggrabgruppe aus dem 14. Jahrhundert. Ursprünglich soll auf dieser Tuma Turera Befestigungsanlage gewesen sein, wie man vermutet. Man überblickt von hier die etwa 25 km2 grosse Gemeinde Domat/Ems.
 
Der Turmaufgang war düster, staubig, atmete eine Jahrhunderte lange Geschichte; zuoberst muss eine steile Leiter erklommen werden. Es wird eng. Bei den 3 Glocken auf dem eindrücklichen, wuchtigen Holzträgersystem warteten wir den 11.45-Uhr-Schlag ab, bei dem die beiden kleineren (äusseren) Glocken mit den Eisenhämmern traktiert wurden. Bei dieser Schallintensität weiss man, was es geschlagen hat. Und der Ausblick durch Maschendraht, etwa auf den Rheinkanal und den natürlicher fliessenden Rhein bei der Kraftwerk Reichenau AG in Domat/Ems.
 
Von dieser Anhöhe aus erhielten die Teilnehmerinnen, die mich als Angehöriger des männlichen Geschlechts problemlos integrierten, einen Überblick über die Tumalandschaft und die Namen der Hügel. Sie heissen Tuma Casté (Schlosshügel, auf dem es nie ein Schloss, aber eine Burganlage gab), Tschelle, Falveng, Marchesa, Platta (flacher Hügel), Padrusa (Steinbruch), Carpusa (Crap = Stein), Arsa („abgebrannt“), Calchera (gebrannter Kalk), Varsera (vertere = wenden?) und Lunga (lang). Die Tuma Gletsch, die neben dem heutigen Bahnhof stand, gibt es nicht mehr; sie wurde um 1840 von Soldaten wahrscheinlich als Beschäftigungstherapie abgebaut, und die Tuma Simanle ihrerseits musste der A13 (Autobahn) weichen. Bei der Tuma Gion Gioder (Tuma Melch) ist man nicht so ganz sicher, ob sie vom Calanda abstammt oder nicht. Vielleicht überdecken die dort lagernden Trümmer einen Bündnerschiefer-Buckel. Die noch zurückgebliebenen Tumas wurden 1983 ins Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung (BLN) aufgenommen, so dass sie seither vor der bedrängenden Bebauung geschützt sind.
 
Laut den Ausführungen von Beat Märchy sind die Tumas der letzten Eiszeit zu verdanken. Vor etwa 30 000 Jahren bewegte sich ein machtvoller Gletscherstrom das Rheintal hinunter, der die Felshänge stützte. Nachdem er geschmolzen war, kam es vom Calanda her zu vielen Bergstürzen, und die Malmtrümmer wurden im Tal unregelmässig abgelagert, vielleicht war es 1 Kubikkilometer Material, das ins Tal gedonnert war. Abrissnischen sind am Calanda noch heute erkennbar. Wie ein Damoklesschwert hängt der steile Calandafels noch immer über Ems und insbesondere Felsberg.
 
Beim seinerzeitigen Absturz gab es im Tal Erhebungen (Hügel) und Vertiefungen. Es war dann die Aufgabe des Rheins, den verschütteten Talboden wieder auszuebnen; doch die höchsten Erhebungen, die Tumas eben, ragten und ragen als Hügel über die Ebene hinaus. Und damit wäre das Rätsel also gelöst.
 
Bei den Kapellen auf dem Schlosshügel
Die lebhaft interessierte Gesellschaft machte sich dann auf zur Tuma Casté, an dessen Nordabhang in den 1870er-Jahren die „Neue Ziegelei“ gegründet wurde, die sich zur Materialbeschaffung in den Hügel hineinfrass, bis sie im Januar 1971 durch einen Brand zerstört wurde. Anschliessend wurde der Hochkamin gesprengt. Die Südseite dieses Hügels ist aus Malmbreccien aufgebaut, und auf der Nordseite gibt es eine Lehmschicht mit Malmbrocken. Ein eindrückliches Baudenkmal ist dort die gerade in Renovation begriffene St. Peterskirche (Baselga da Sogn Pieder) mit dem karolingischen Rechtecksaal, die um 800 entstanden ist. Ein Meisterwerk ist die 16-teilige Kassettendecke mit Darstellungen aus Petrus’ Leben, gemalt vom Disentiser Pater Fridolin Eggert, ein Hauch von Zillis GR, malerisch, aber ausgereifter. 4 Bilder sind gegenüber dem 12er-Block um 180 Grad gedreht, was die Betrachtung erleichtert.
 
Auf dem Casté-Hügel, direkt über dem 1. geschlossenen Rebberg am Rhein, kredenzte Beat Märchy nicht etwa Emserwasser (ehemaliger Sprit aus der Holzverzuckerung, während des 2. Weltkriegs von der Hovag = Holzverzuckerungs-AG hergestellt, die sich über die Emser Werke zur heutigen Ems-Chemie entwickelte), sondern einen kräftigen, herben und dennoch sehr gefälligen Pinot noir von der Emser Schlosshalde (Emser Bürgerwingert), dessen Charakter jenen der liebenswürdigen einheimischen Bevölkerung zu spiegeln scheint.
 
Die nahen, von hier aus gut einsehbaren Emser-Werke des heutigen SVP-Bundesrats Christoph Blocher bzw. seiner Nachkommen, wirken grösser noch als der Tuma Lungo, eine Art Tuma Blocher, der ein riesiger Golfplatz vorgelagert ist und neben der ein monumentales, vollkommen neues Sägewerk, die Stallinger Swiss Timber AG, Baumstämme entrindet und zu Brettern zersägt, etwa 600 000 Festmeter pro Jahr. Auch Pellets und Dreischichtplatten gehören zum Fabrikationsprogramm. Der Vollbetrieb soll etwa 2008 anlaufen; der Export ist in alle Welt vorgesehen. Rund 70 bis 80 Mio. CHF sind hier investiert worden.
 
Natur und Theater im Steinbruchareal
Zum Schluss des Rundgangs begab man sich zur Tuma Padrusa, ins ehemalige wildwüchsige Steinbruchareal, wo zwischen 1979 und 1996 sechs Mal spektakuläre Freilichtspiele aufgeführt wurden: Passionsspiele, „Der Graf und Kesslerkönig“, „Der Besuch der alten Dame“, „Viel Lärm in Chiozza“ und „Die kleine Niederdorfoper“.
 
Der Besuch der Tuma Tschelli mit ihrer bemerkenswerten Pflanzengesellschaften auf der Süd- und Westflanke konnte aus Zeitgründen nur noch theoretisch abgewandelt werden: Ein Wald, bestehend aus verschiedenen Baumarten und vielen Haselstauden, überzieht den Hügel. Als botanische Spezialität findet man die Pulsatilla montana (Anemone, von den Emsern Flur da cocles genannt und früher zum Färben von Ostereiern verwendet; heute ist diese Pflanze geschützt). Auf den Tumas gibt es auch Fichten, Föhren, die etwas zurückgedrängt werden, sodann Eichen, Birken, Nussbäume, Buchen und Pappeln – insgesamt wird ein naturnaherer Mischwald gefördert.
 
Vom Frauenvereinsvorstand nahmen Angela Ruckstuhl und Brigitta Rageth an diesem Anlass teil, der keine Wünsche offen liess. Er brachte den Emsern und uns Unterländern einige Kapitel Natur- und Kulturgeschichte mit der Faszination des Ausserordentlichen näher.
 
Capuns
Und zur Kultur im besten Sinne zähle ich auch die sensationellen Capuns, die uns Lilly Fetz nach der Hügeltour servierte. Sie hatte Salsiz aufgeschnitten, mit Mehl und Eiern vermengt, Würstchen davon mit feinen Mangoldblättern umwickelt, kurz angebraten und in Gemüsebouillon gekocht, mit Rahm verfeinert. Lilly ist eine Rosen- und Orchideenliebhaberin, und genauso wie sie den berühmten „grünen Daumen“ hat (und mit den Pflanzen spricht), verfügt sie auch über eine goldene Kochkelle. Sie hat uns schon oft verwöhnt.
 
Quellen
Bühler, Linus, Haas, Theo, und Jörger, Kaspar: „Domat/Ems. Ein Dorf im Wandel“. Selbstverlag der Gemeinde CH-7013 Domat/Ems 2000.
Jörger, Kaspar: „Domat/Ems. Eine geographische und kulturhistorische Studie“, herausgegeben von Hendri Spescha, Domat/Ems 1962.
 
Hinweis auf weitere Ausflugsberichte und Blogs zur Reisethematik von Walter Hess
(Reproduktionsfähige Fotos zu all diesen Beschreibungen können beim Textatelier.com bezogen werden.)
 
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