BLOG vom: 03.09.2007
Bergün und der Albulapass, der Passanten gefangen nimmt
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
Die Fahrt über die Albula (rätoromanisch: Pass d’Alvra) dauert lange, sehr lange, obschon die Passstrasse zwischen Alvaneu Bad bei Filisur (GR) und La Punt-Chamues-ch (GR) im Oberengadin nur 33 km misst. Die Reise zieht sich deshalb zeitlich in die Länge, weil man da mit dem besten Willen nicht einfach sozusagen mit Augen, die sich nur auf den Asphalt und angrenzende Felsen richten, durchfahren kann. In tieferen Lagen sind blühende Wiesen, ausgedehnte Tannen-, Lärchen- und Arvenwälder, und das alles ist von Bergen eingerahmt, auf denen Schnee liegt; von „ewigem Schnee“ wage ich heute nicht mehr zu sprechen.
Das herbe Albulatal gilt zu Recht als eines der schönsten Hochtäler des Kantons Graubünden. Und wer das Dorf Bergün (Originalton in der Sprache der Bewohner: Bravuogn) unbeachtet liesse, dem wäre wirklich nicht mehr zu helfen. Friedrich Nietzsche beschrieb dessen Umgebung so: „Der Bergüner Stein und das ganze Thal ist wirklich das Schönste, was ich sah.“
Dies ist die Anreiseroute zu diesem Schönen: Auf der Autobahn A13/E43 fährt man von Chur via Domat/Ems mit seinen Tumas (Hügeln) und Bonaduz durchs Domleschg bis Thusis Süd (Ausfahrt 22) und weiter bis Tiefencastel. Beim dortigen Verkehrskreisel nimmt man die 2. Ausfahrt Richtung Albulapass. Surava, Alvaneu Bad, Filisur liegen am Weg, bevor man Bergün erreicht.
Ein Kapitel Passgeschichte
Der Albulapassübergang war im Mittelalter wahrscheinlich wichtiger als heute. Im Jahr 1212 benützte ihn, aus Italien kommend, Friedrich II. von Schwaben, und der Pass hatte auch zur Zeit der Bündnerwirren, während der Veltlinzüge und im Dreissigjährigen Krieg eine strategische Bedeutung. Das Hochtal, das auf der rechten Seite durch das Lenzerhorn sowie den Gipfeln der Altein- und Hochducan-Ketten und linkerhand durch die Ela-Gruppe abgeschlossen wird, diente für die Salzeinfuhr aus dem Tirol und für den Transport der Veltliner Weine. 1695/96 wurde der bis dahin schwierige Zugang zu Bergün im steil abfallenden Fels verbessert. Damals wurde beim Bündner Strassenbau erstmals Sprengpulver eingesetzt. Die Sprengmeister waren die Steinhauer Peter Täscher und Peter Sur aus Thusis. Mit brachialer Gewalt bezwangen sie die pickelharte Fluh des von Nietzsche bewunderten Bergünersteins und bauten einen Tunnel und damit den direkten Zugang zum Talboden von Bravuogn/Bergün. Die heutige Strasse wurde 1855/65 erbaut.
Die Strasse Alvaneu Bad–Bergün
Starten wir am Fusse des Passes: Bad Alvaneu (www.bad-alvaneu.ch) hat einen imposanten Wasserfall und ist seit dem 16. Jahrhundert wegen seiner schwefelhaltigen Quellen (34 °C) berühmt; das Heilwasser kurbelt Stoffwechselprozesse an und lindert Hautleiden. Und das Restorant Bognin setzt auf Bio-Produkte, damit die Gesundheit der Gäste erhalten bleibt.
In Filisur (www.filisur.ch) beginnt, was den Baustil anbelangt, das Engadin: Dicke Mauern mit den vergitterten Fensternischen (Trichterfenster), welche die Behäbigkeit der Häuser spüren lassen, Erker, helle Fassaden, die mit Sgraffiti (italienisch: „sgraffiare“= zerkratzen) und/oder Malereien verziert sind und Rundbogentoren – und mit einer Sitzbank davor. Bänke und Banken spielen in der Schweiz schliesslich eine wichtige Rolle. Die gotische Kirche ist, wie könnte es hier anders sein, auf Fels gebaut.
Oberhalb von Filisur grüssen die Ruinen der mittelalterlichen Burg Greifenstein. Die Palas-Mauern haben den Zahn der harten Zeiten überlebt, und auch ein Überrest der Kapelle ist noch vorhanden. Dort verteidigte der mächtige Freiherr Donat von Vaz 1323 das damalige Rätien gegen die machtgierigen Habsburger, wobei er von den Waldstätten unterstützt wurde. Der Kampf richtete sich insbesondere gegen den Bischof von Chur, der sich auf die Seite der Österreicher geschlagen hatte; die Kirche verbündete sich immer mit den Mächtigen – und umgekehrt, und das Fussvolk hatte keine Chance, sich aus den Zwängen der vereinigten Obrigkeiten zu befreien. Donat als Ausnahmeerscheinung wurde zum Bündner Volksheld, was verständlich ist.
Die Strasse nach Bergün wird von der schäumenden, tosenden Albula (rätoromanisch: Alvra) und auch von der Rhätischen Bahn (RhB) begleitet (Strecke Chur–Oberengadin). Die Anlage eines Bahntrasses in diesem felsigen Gebiet (1898 bis 1903 erbaut, Kosten 26 Mio. CHF) ist ein einzigartiges technisches Meisterstück, und die Naturstein-Bogenbrücken mit den sich nach oben verjüngenden Pfeilern sind eine Zierde der Landschaft. Das gilt insbesondere für das weltberühmte, 65 m hohe Landwasserviadukt bei Filisur („Arc de Triomphe der Albularegion“), das gleich noch einen (Triumph-)Bogen beschreibt und der Stolz der Rhätischen Bahn ist. Zwischen Preda und Bergün überwindet die Bahn einen Höhenunterschied von 416 Metern. Der Streckenverlauf gleicht einer Achterbahn, kreist in Kehrtunnels (insgesamt sind es 40 Tunnels), überquert Viadukte und unterquert Galerien. Von der Strasse aus verliert man den Überblick über den Verlauf der gewundenen, auf verschiedenen Etagen angeordneten Bahnlinie. Sie verschwindet, ist plötzlich wieder da, taucht wieder in den Berg ein.
Die Strasse gewinnt gegen Bellaluna, dem früheren Zentrum der Bergwerksgesellschaft und Ort der Eisenverhüttung, an Höhe, fliegt über die Bergünerstein-Schlucht, führt über deren Abgrund entlang und findet nach dem erwähnten Bergünerstein-Durchbruch in die Mulde von Bergün (www.berguen.ch). Die Rhätische Bahn kommt wieder ans Tageslicht – dort oben, wo laut Tourismus-Werbung der Stickstoffdioxid-Jahresmittelwert 8 µg/m3 beträgt (Vergleich: Basel Feldbergstrasse: 66); Filisur ist mit 7 µg/m3 noch sauberer. NO2 wird bei der Verbrennung von Brenn- und Treibstoffen freigesetzt. Zwischen Bergün und dem weiter passaufwärts liegenden Preda ist übrigens ein bahnhistorischer Lehrpfad eingerichtet worden.
Bergün
Bergün (rund 500 Einwohner) ist dort, wo sich der Tuorsbach aus dem Raveischsee (über 2500 m) mit der Albula vereinigt, und hier haben schon die Römer ihre Spuren hinterlassen – wo waren sie eigentlich nicht? Die 145 km2 grosse Gemeinde umfasst die Talmulden Bergün und Preda und die 2 Terrassenörfer Latsch und Stuls/Stugl. Augenfällig in diesem Strassen- und Passdorf ist der alte Gerichtsturm (Platzturm, Römerturm, Tuér) mit einer russisch anmutenden, barocken Zwiebelhaube, der die Häuser des Orts überragt. Im alten Gotteshausbund war Bergün das Zentrum eines Hochgerichts.
Die Bergüner Häuser sind eine Ansammlung von Sehenswürdigkeiten: Ein offenes, lebendiges Bilderbuch mit Fassadenmalereien und Sgraffiti aus talentierter, phantasievoller Schabkünstlerhand. Giebelfronten, und wo immer Platz dafür ist, wurde alles geschmückt. Zur Befriedigung des Schmuckbedürfnisses gehören auch die verzierten Fenster und Erker, Freitreppen und Balkone, Lauben und eingefriedete Gärten und schöne Brunnen, die mit eiskaltem Wasser gespeist werden – und in den Häusern mit den wuchtigen Toren („Sulèr“) setzt sich die Pracht fort. Wohlhabende Familien wie die Salis, Juvalta und Cloëtta haben hier einen Teil ihres Vermögens in prachtvolle Bürgerhäuser im Engadinerstil investiert, die auch das Wirtschaftsgebäude mit Scheune und Stall einschliessen. Das älteste Gebäude im Ort, das Jenatsch-Haus (1554), steht im Unterdorf. Früher führte die Hauptstrasse durch dieses Haus. Die Volkskunst kannte hier keine Grenzen und kam für einmal auch Profanbauten zugute. Die 1188 erbaute Kirche ihrerseits ist der Würde des Orts angepasst.
Während im Mittelland am 27. August 2007, unserem Reisetag, in den tiefer gelegenen Gebieten der Schweiz eine grosse Hitze herrschte und den Schwingern in Aarau der Schweiss vom Leibe tropfte, war es hier, auf 1367 m ü. M., angenehm. Und weiter oben sollte es noch frischer werden.
Von Bergün über Preda und Crap Alv zum Hospiz
Die Fahrt auf die Albulapasshöhe (2312 m ü. M.) hat – wegen der Natur – ihren Reiz, besonders das Gebiet der Crap Alv mit ihrer geradezu gärtnerisch anmutenden Geröllhaldenvegetation an der Baumgrenze und einem Moor, das unterhalb der Passstrasse liegt. Granite, Gneise und auch Dolomitkalke liegen hier herum. Die Alvara verdient ihren Namen „die Weisse“. Das Albula-Massiv und die Kesch-Riesen (3417 m) dominieren das Bild. Die Bahn ist in Preda in einen 5865 m langen Tunnel auf 1823 m Höhe abgetaucht und kommt bei Spinas wieder ans Tageslicht des Val Bever.
Beim Hospiz auf der Passhöhe ist eine Hochebene, das Albulatal (Val d’Alvra) mit seiner Geröllhaldenromantik und einem etwa 500 m langen Seelein auf der Alp Ospiz, bei dem Kühe nach dem spärlichen Grünfutter fahndeten. Hier ist das Tor zum Engadin. Bei der Alp Alesch (2075 m) beginnt die kurvenreiche Strecke, über die nach wenigen Kilometern La Punt am Inn (En) zu erreichen ist. Schöne alte Wohnhäuser und Bauernhäuser lehren, dass jetzt das Oberengadin-Erlebnis beginnt.
Der Albula ist nur einer von 8 Strassenpässen, die das Engadin erschliessen. Die 7 anderen sind Julier, Flüela, Finstermünzpass, Norberthöhe, Ofenpass, Malojapass und Berninapass.
Unten am Silsersee
Im Oberengadin angekommen, drehten wir in La Punt rechts ab, strebten Maloja zu und bezogen kurz vorher, in CH-7517 Plaun da Lej, das Nachtquartier im Ristorante Murtaröl, wo wir 1984 Familienferien gemacht hatten. Es wird heute vom Sohn der damaligen Besitzer und seiner Frau, Heike und Antonio Walther, geführt. Das Haus mit dem Wintergartenvorbau hat sich zu einem ausgesprochenen Fischspezialitäten-Restaurant mit vielen Aquarien entwickelt (Fischgerichte werden nach Fischgewicht berechnet). Wir erwischten eines der 3 Doppelzimmer, die noch als Übernachtungsmöglichkeit vorhanden sind – ganz oben im Haus mit einem herrlichen Blick auf den abendlichen, silberglänzenden Silsersee und den Ruderbooten am Ufer. Der Silsersee (Lej da Segl) ist der grösste der 4 Oberengadiner Seen (4,1 km2, 3 km lang, bis 1,3 km breit und bis 77 m tief). Die Ruhe, direkt unter dem Nachthimmel, war wohltuend.
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Im obersten Teil des „Murtaröl“-Hausaufgangs ist immer noch die Treppe mit dem bräunlich-grünen Sucoflor-Belag von der ehemaligen Firma Suhner & Co. in Herisau AR (heute: Huber+Suhner), neben vielen Jagdtrophäen. Nach Schulabschluss hatte ich (1954) bei Suhner in einem Zwischenjahr an der Kalander solche damals berühmten, pflegeleichten und stabilen Beläge mitproduziert – vielleicht war der Treppenbelag eines meiner frühen PVC-Werke ... Ich wollte damals Kunststofftechniker werden – doch das wäre nicht der ideale Beruf für mich gewesen. Im Verlaufe der Zeit erhielt ich das Gefühl, dass in Bezug auf die Verkunststoffung des modernen Lebens das Mass übervoll sei.
Manchmal bringen einen Irrungen und Windungen doch noch an den richtigen Ort, zum Beispiel vom Plastik zu den Buchstaben. Und vom Unterland ins Oberengadin. Und wieder zurück nach Hause.
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(Reproduktionsfähige Fotos zu all diesen Beschreibungen können beim Textatelier.com bezogen werden.)
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