BLOG vom: 30.09.2007
Erlebnisse im Kantonsspital Aarau (3): Eintritt und Operation
Autor: Heiner Keller, Ökologe, Oberzeihen CH (ANL AG, Aarau)
Spitaleintritt und Operation: 31.08. bis 05.09.2007
Wenn die Operation für Montag geplant ist, erfolgt der Spitaleintritt am Freitagmorgen. Ich bekomme ein angeschriebenes Bett in einem Viererzimmer im 8. und obersten Stock. Ein Bett ist leer, die beiden andern Patienten machen einen munteren Eindruck. Man gibt sich allseits zurückhaltend. Die Pflegefachfrau zeigt mir den Kasten, die Dusche und macht mich wortreich mit den Gepflogenheiten des Spitals vertraut. Sie stattet mich bereits mit Saug- und Inhaliergeräten aus, auf denen ich schon einmal sanft zum Üben aufgefordert werde.
Von allen Eintretenden wird ein EKG (Elektrokardiogramm zur Bestimmung der Herzaktivitäten) erstellt. Ein freundlicher Herr nimmt mich mit durch die Lifte und Gänge des Spitals: Ich mache das bereits zum 2. Mal. Als sie mich operieren wollten, war der computergesteuerte Roboter ausgestiegen. Jetzt muss ich nochmals das ganze Aufnahmeprozedere durchlaufen. Freundlich, routiniert und routinemässig wird das Programm abgewickelt. Blutdruck, Fieber und Blutentnahme. Das Spital will immer Blut.
Mit einem rot-weissen Armband werden die für Operationen vorgesehenen Patienten markiert: „Wenn etwas passiert steht auf dem Armband, welches Blut von Ihnen stammt.“ Alle vorhandenen ärztlichen Diagnosen werden sortiert, die vielen Bilder geordnet. Weil ein Röntgenbild der Lunge fehlt, kann ich das Spital nochmals für eine Fahrt zu meinem Hausarzt, der ein solches Röntgenbild hat, verlassen.
Es ist schön draussen, ausserhalb des Spitals. Zum Mittagessen bin ich wieder zurück: Ich staune ob der Masse der Essensportionen, ob der Menge des Fleisches und ob des Appetits meiner Zimmergenossen. Ich bin ja alles andere als mager, aber so viel zu essen mag ich nicht. Der Nachmittag vergeht mit Warten.
Warten auf die Ärztin der Anästhesie. Wenn die Operationen vorbei sind – niemand weiss, wann das sein wird –, nehmen sie sich Zeit für die nächsten Kunden. Eine nette, junge Dame mit blendend weissen Zähnen fragt mich aus über frühere Operationen, Narkosen, Allergien, Medikamente, lockere Zähne und weiss ich was mehr. Sie erklärt mir die Narkose (Vollnarkose mit einem Schlauch in die Luftröhre). Sie empfiehlt mir eine zusätzliche Betäubung der vom Rückenmark ausgehenden Nerven für die Zeit nach der Operation. Vor der Narkose könne ein Schläuchlein in die Nähe des Rückenmarks eingelegt werden, durch das später Schmerzmittel appliziert werden können. Alles ist für mich so technisch, so unwirklich. Was heisst Empfehlung? Ich frage sie: Würden Sie das bei sich auch machen lassen? Ohne zu zögern antwortet sie mit „Ja“. Ich weiss nicht, ob ich jetzt gescheiter bin, auf jeden Fall sage ich zu und unterschreibe ein Formular, auf dem noch dezent auf Risiken hingewiesen wird.
Eine weitere Ärztin erkundigt sich nach dem allgemeinen Befinden: Allergien, Krankheiten, Medikamente. Die Fragen wiederholen sich, sie müssen aber für eine andere Abteilung nochmals beantwortet und unterschrieben werden. Wir stellen fest, dass die Ärztin noch gar nicht auf der Welt war, als ich vor rund 40 Jahren letztmals wegen einer Knieoperation im Spital war. Sie erkundigt sich höflich nach den früheren Zeiten und bemerkt, dass heute eh alles anders sei. Ich bin mir nicht so sicher, dass das stimmt. Aber ich bin froh, dass ich nach diesem Gespräch das Spital wieder verlassen kann. Ich bin bis Sonntagabend entlassen. Zurück bleibt das angeschriebene und belegte Bett. Selbstverständlich hätte ich über das Wochenende auch im Spital bleiben können. Ich nehme an, das Bett wird auf der Spitalrechnung stehen.
Samstag und Sonntag vergehen mit Gartenarbeit, etwas aufräumen, lesen, schreiben und spazieren. Seit Sonntagmittag bin ich gehalten, nichts mehr zu essen ausser einem wirksamen Abführmittel. Dieses schränkt den Aktionsradius ziemlich ein.
Am Sonntagabend belegen ein neuer Patient und ich das Zimmer allein. Knochendürr, ein älterer hagerer Mann scheint ziemlich krank, hört nicht gut, hat überall Schläuche und beachtet mich kaum. Umso mehr kümmert sich der Pfleger um mich. Ich bekomme einen Einlauf, obwohl ich schon ganz leer bin. Am Bett prangt ein Täfelchen mit der Aufschrift „nüchtern“. Nüchtern heisst, es gibt weder zu trinken noch zu essen. Das ist für mich kein Problem, habe ich doch im Bauch die Reserven für den ganzen Winter bei mir.
Die erste Nacht im Spital ist eigenartig. Die ungewohnten Geräusche im Haus, die regelmässigen Kontrollen im Zimmer, das rötliche Licht der Strassenlampen von Aarau bis Erlinsbach, der grumelnde Lärm der Agglomeration und die Güterzüge, die während der ganzen Nacht durch Aarau rasseln holen mich nach kurzem Einnicken immer wieder aus dem Schlaf. Da helfen nicht einmal die beruhigenden Rufe der vielen übernachtenden Krähen und Dohlen oder die schöne Aussicht auf die nächtliche Silhouette der Echolinde, der Heimwehfluh und des Solothurner Juras.
Mein Körper ist an nächtliche Dunkelheit der Landschaft und Ruhe gewöhnt. Ich staune, wie man bei so einem nächtlichen Lichtermeer und bei so viel Lärm überhaupt auf Dauer leben kann. Und dann beginnt der Morgen mit dem Gesurr von Motorsensen und anderen Maschinen. Gärtner pflegen den Park und beschallen ungeniert die Hausfassade bis in den 8. Stock. Mich stört das. Auf jedem Golfplatz muss man für die Bewilligung nachweisen, dass niemand gestört wird. Allenfalls müssen leisere Maschinen eingesetzt werden. Die Gartenpflege im Spital bedarf offensichtlich keiner Prüfung der Umweltverträglichkeit. Und die Leute in der Stadt haben sich an den Lärm gewöhnt.
Der Chefarzt persönlich kommt noch ganz rasch vorbei. Er wolle mich noch kurz sehen. Jetzt habe er noch eine längere Operation vor und nachher, so gegen Mittag, sei ich an der Reihe. Das komme gut, und er werde persönlich unmittelbar nach der Operation meine Frau informieren. Das finde ich sehr nett, fast etwas übertrieben, und bedanke mich höflich.
Dann bekomme ich eine Schlaftablette. Am Bett werden Plastiksäcke mit Akten, Ordnern und Röntgenbildern angehängt. Ein Pfleger holt mich samt dem Bett ab. Ab geht die Reise mit dem Lift und durch viele Gänge. Liegend nimmt man die Katakomben anders wahr. Ich fühle mich etwas hilflos und schiele mit den Augen voraus und auf die Seite. Durch eine Schleuse werde ich in fensterlose Hallen geschoben und andern Leuten übergeben. Eine warme Decke hüllt mich ein. Über Lautsprecher kommen Anweisungen. Ich bin in der Warteschlaufe.
Der Narkoseraum ist eng, hell beleuchtet. Das Bett ist so hoch gestellt, dass ich das Gesicht der jungen Ärztin auf Augenhöhe sehe. Sie trägt eine Haube und spricht einen östlichen Dialekt. Sie lacht immer. Hier scheint es lustig zu sein, meine ich. Fröhlich erwidert sie, es nütze nichts, wenn sie immer traurig sei.
Rasch und mit sicherer Hand arbeitet sie rund um mein Bett. Sie ruft einen Gehilfen, und gemeinsam montieren sie, nachdem sie mehrmals die Rippen von unten und oben abgezählt haben, den Schlauch in meinen Rücken. Ich spüre fast nichts und sehe nicht, woran sie hantieren. Einmal öffnet sich die Schiebetüre zum Operationssaal, Kalte Luft dringt aus einem hohen, abgedunkelten Raum. In rotes Licht getaucht arbeiten schemenhaft Menschen. Der Rest ist mit Tüchern abgedeckt und verhüllt. An der Wand hängt ein grosser Bildschirm, auf dem die Operation zu sehen ist. Die Tür geht wieder zu. Ich bekomme eine Maske vor Mund und Nase. Die Ärztin wünscht mir alles Gute und fordert mich auf, tief zu atmen. Ein süsslicher Geruch steigt in meine Nase, und ich falle in ein traumloses Nichts. Ich bin einfach weg.
Das Erwachen
Der Aufwachraum hat etwas Erhabenes. Man merkt, dass man wieder auf der Welt ist. Vor dem Fenster bewegen sich die Blätter von Platanen im leichten Abendwind. Schemenhaft huschen Gestalten von Abteil zu Abteil. Vorsichtig bewege ich die Hände, die Füsse, um zu ahnen, was noch alles vorhanden ist. Ich bin ziemlich mit Schläuchen verkabelt. Neben dem Bett steht der „Christbaum“ mit den Infusionen. Ich habe Schmerzen, etwa 6 auf der hypothetischen Skala von 0 bis 10. Die Pflegefachfrau kommt regelmässig zu mir, fragt, hängt neue Infusionen an. Die Schmerzen vergehen, die Leute haben ihren Job im Griff. Wenn ich mich nicht bewege, fühle ich mich wohlig müde. Ich dämmere still vor mich hin und werde gegen Abend zurück ins Zimmer gefahren.
Ich habe einen neuen Bettnachbarn. Er wartet auf eine Operation. Besuchszeit ist von 10 bis 20 Uhr. Von den Besuchern und Besucherinnen, oder wenn die Patienten telefonieren, erfährt man mit der Zeit alles. Alle fragen, was wer hat. Alle erzählen, was sie schon alles hatten. Jeder kennt noch einen, bei dem das auch so oder anders war. Alles fährt Schi – hiess früher ein Schlager. Der Text müsste heute heissen: Alle haben Erfahrungen mit Krankheiten oder sind selber krank. Ich wusste gar nicht, was ein Mensch allein alles haben kann und trotzdem unter dauernder ärztlicher Kontrolle zufrieden lebte: Zucker, Bluthochdruck, Herzoperationen, künstliche Gelenke. Ich staune, wie man mit Medikamenten die Körperwerte in bestimmte Normen zwängen kann. Die Leute sind den Umgang mit Ärzten gewöhnt, glauben ihnen und reagieren positiv auf sie.
Alle 4 Stunden werden bei mir Fieber, Blutdruck und Puls gemessen. Mit einer Eispackung wird kontrolliert, welcher Abschnitt des Körpers gefühllos ist. Regelmässig werden neue Wassersäcke an die Infusion gehängt. An Ruhe ist nicht zu denken. Nachts wird ein weiterer Mann ins Zimmer gebracht. Aus den Gesprächen wird rasch klar: Er ist vom Zwetschgenbaum gefallen und mit der Ambulanz ins Spital eingeliefert worden. Nach den erforderlichen Untersuchungen wird er ins Bett verfrachtet. Mit Schmerzmitteln versehen, stöhnt er leise vor sich hin.
Auf einmal stürmen Leute ins Zimmer: „Wie geht es? Bleiben Sie liegen, bewegen Sie sich nicht mehr. Sie haben den 3. Halswirbel gebrochen und bekommen eine Halskrause.“ Es vergeht einige Zeit, bis diese angepasst und verpasst ist. Am Morgen rappelt er sich wieder auf und telefoniert seinen Angehörigen. Er stammt aus einem Nachbardorf von Oberzeihen, erklärt, er habe 3 Halswirbel gebrochen, nachdem er im 7. bereits eine Schraube von einem früheren Unfall hat und bittet um gewisse Habseligkeiten. Seine Angehörgen berichten bei den Besuchen den Rest.
Die schiefe Leiter am Baum sei zu einem Pilgerort für die Dorfbevölkerung geworden. Er habe Glück gehabt, dass er sich nach dem Sturz noch so weit schleppen konnte, dass ihn jemand finden konnte. Er berichtet von Schmerzen in den Rippen und an der Schulter. Grosses Bedauern herrscht, dass ihm auf der Notfallstation die schönen neuen Gartenkleider einfach vom Leib geschnitten wurden. Eine resolute Ärztin erscheint, untersucht ihn und fährt ihn unhöflich an: „Gestern haben Sie dort Schmerzen gehabt, heute jammern Sie hier, was haben sie eigentlich? Wegen ein paar angeknacksten Rippen brauchen Sie gar kein Geschrei zu machen. Das heilt von selbst. Und übrigens habe ich Ihnen klar gesagt, der 3. Halswirbel sei gebrochen. Weshalb Sie dann weitererzählen, Sie hätten 3 Wirbel gebrochen, ist mir schleierhaft.“ Punkt.
Ich denke: „Hoppla! Die Dame ist wohl noch nie vom Zwetschgenbaum gefallen.“ Ich mische mich nicht ein. Ist auch nicht nötig: Der Mann nimmt das mit stoischer Ruhe. Er ist es offensichtlich gewohnt, die Meinung gesagt zu bekommen. Ruhig stellt er nach einer Zeit die gleichen Fragen. Die Landbevölkerung lässt sich nicht so einfach ins Bockshorn jagen. Schon gar nicht, wenn die 75-Jährigen den 85-Jährigen an den ungepflegten Bäumen ihre Zwetschgen ablesen, weil man das früher auch so gemacht hat.
Wieder aufgestanden
Nach wenigen Tagen kommt die Physiotherapeutin: „So, Herr Keller, wir stehen auf!“ Jetzt, wo ich mich so ans schmerzfreie Liegen gewöhnt habe, muss ich aufstehen. Das Aufstehen und das Gehen im Zimmer und im Gang machen mir weniger Mühe als all die Schläuche, die in den Körper führen und die ich in der Hand halten muss, und die Beutel für die Zu- und Abfuhr, die man nicht verheddern darf. Dazu ist der so genannte Christbaum, ein Ständer mit Rädern gedacht. Mit einer Hand den Christbaum schiebend, den Kopf hoch, Blick geradeaus, spaziere ich den Gang hin und her. Die Umgebung ist absolut grau und öde.
Der ältere Herr kann nach Hause. Er kann kaum alleine aufrecht stehen. Im Spital kann man ihm offensichtlich nicht zu einer Besserung verhelfen. Im Rollstuhl wird er abgeholt. Wenn er in diesem Zustand nach Hause darf, dann fehlt bei mir ja auch nicht mehr viel, denke ich.
Spitalprediger
Wenn jemand zaghaft klopft und sich so richtig scheu um die Türfalle herum ins Zimmer windet, dann könnte es der Spitalprediger sein. Er begibt sich zuerst zu meinem Bettnachbarn. Fragt höflich, ob er Lust auf ein Gespräch habe, und es beginnt eine lockere Plauderei. Nach einer abgemessenen Zeit kommt er zu mir. Mir ist es gleich, ob er hier ist, denn ich muss ja sowieso warten. Also erzähle ich ihm halt, was mit mir passiert ist und dass das, was ich eigentlich behandelt haben möchte, nach wie vor ungelöst sei. Er zeigt höfliches Interesse. Ein Wort ergibt das nächste. Ich erzähle ihm von meiner Abneigung gegenüber Spitälern und ganz kurz die Geschichte und die Spitalerfahrungen mit meiner ersten Frau.
Auf einmal fragt er: „Finden Sie Trost in der Religion?“ – „Nein“, antworte ich spontan. Ich habe gar nicht den Eindruck, dass ich Trost suche und brauche. Umso mehr erstaunt mich, was der Seelsorger meinem Gespräch entnommen hat. Hat er überhaupt zugehört? Er spürt offenbar meine Verhärtung und hat es plötzlich eilig. Vielleicht ist ja auch einfach seine Präsenzzeit abgelaufen und er muss auf den Zug, damit er rechtzeitig wieder zu Hause, im Emmental, ist.
Vergangenheitstraum
Nachts träume ich von meiner ersten Frau. Das ganze Leben spielt sich im Zeitraffer nochmals glasklar vor mir ab. Nach 20 Jahren Ehe kam 1993 die Diagnose Brustkrebs. Operation im Kantonsspital Aarau, schreckliche Chemotherapie und nachher wieder Ruhe. Die Ärzte sprachen von Heilung.
Unglaublich, was ich mit Anni alles erlebt habe. Anni war hart. Nach anfänglichem Zögern hat sie mich überall hin begleitet. Schon während des Studiums waren wir mit auf einer Exkursion in einem Kohlebergwerk in Niederösterreich. Eingekleidet wie Kumpels fuhren wir mit dem Förderlift Hunderte von Metern in die Tiefe. Durch dunkle Kavernen und Gänge wurden wir an die Abbaufront geführt. So etwas von eindrücklicher Erdgewalt habe ich noch nie und nachher auch nie mehr erlebt: In flackerndes Licht getaucht sitzen Bergmänner in einer langen Reihe unter riesigen Pressen. Jeder von ihnen drückt die Gesteinsdecke nach oben. Vor ihnen läuft ein Förderband mit der vorne abgebauten Kohle in die Ferne. Der geschaffene Hohlraum ist ungefähr 1,80 m hoch. Und unmittelbar hinter den Pressen, da kracht mit riesigem Getöse, mit Ächzen und Donnern der ganze Berg zusammen. Die Lücke schliesst sich. Jeder von uns kauert bei einem Bergmann unter der Presse, weil es dort am sichersten ist. Konzentriert, stoisch, dreckig drücken die Nachbarn nach oben.
Der Bergmann in der Mitte reduziert den Druck, der Berg kommt, er reduziert weiter, bis seine Presse frei wird und er sie ein Stück nach vorne schieben kann. Dann geht es wieder aufwärts. Er stemmt die Decke hoch, damit seine Nachbarn das Manöver wiederholen können. Anni und ich, mittendrin in diesem Inferno. Man erlebt alle Gefühle zwischen Schrecken und grenzenlosem Staunen. Eine Verständigung mit den Bergleuten ist ob des Lärms nicht möglich. So machen wir uns mit Winkezeichen auf den Weg nach draussen. Ganz einfach: „Legen Sie sich flach auf die Kohle des Förderbands. Halten Sie die Arme gestreckt, spannen Sie den Bauch an, wenn sie auf ein neues Förderband fallen. Wenn es hell wird, ruft Ihnen jemand zu, wann Sie rassig (zwischen 2 Streben) ab dem Förderband springen sollen, damit Sie nicht den Weg der Kohle auf die Halde gehen." Anni vor mir, so sind wir in flottem Tempo mit der Kohle durch endlose Stollen gerast und haben unbeschadet, aber mit Herzklopfen wieder die Erdoberfläche erreicht. Ich weiss nicht, ob es das Bergwerk und diese Art des Erlebnistourismus noch gibt. Wahrscheinlich nicht.
Viele Ferienerlebnisse kommen mir in den Sinn. Unsere 6 Wochen in Kenia, zum grossen Teil auf Kosten des Hauses, weil das zebrafarbene Flugzeug der Gesellschaft nicht ausreichte, um all die Urlauber zurück in ihre Heimat zu bringen. Wie wir im Indischen Ozean bei auflaufender Flut bis zum Bauch im Wasser ausharren mussten, bis uns die Fischer, die eine Bootspanne hatten, wieder retten konnten. Wie wir ganz allein mit einem kleinen Mietauto abends den Tsavo-Nationlpark lange nicht mehr verlassen konnten, weil uns immer Elefantenherden entgegenkamen und wir rückwärts in die falsche Richtung fliehen mussten. Wie wir von Aarau aus mit dem Privatauto Tunesien erkundigten. Unbeschreiblich die Abende mutterseelenallein in den zerfallenen Römerstädten der Wüste. Wie wir spontan einen vor der bretonischen Küste gestrandeten Öltanker und die entsprechende Ölpest besuchten.
Der Arbeitgeber von Anni war oft nicht sehr glücklich über unsere Spontaneität. Er liess sich wenig trösten, wenn ich ihm beschied, dass wir beide arbeiteten um zu leben und nicht lebten um zu arbeiten. In Sri Lanka geriet Anni unter eine grosse Meerwelle und bekam Respekt vor dem Meer. Argentinien und Venezuela waren weitere Stationen. Ungeniert badeten wir in Urwaldbächen, starteten und landeten in überladenen Flugzeugen während tropischer Regengüsse auf ländlichen Pisten. Donnerten in einer DC 3 im Tiefflug über breite Gewässer und Wasserfälle und gerieten in Caracas im Bus in Tränengasschwaden. Auf den Falklandinseln schliesslich durften wir dank meiner Bekanntheit allein auf unbewohnten Inseln bei den Pinguinen zelten.
Und dann kam der Krebs zurück. Anni hatte sich für diesen Fall schlau gemacht und wünschte, in eine Klinik in der Nähe von Karlsruhe (Bergzabern) eingeliefert zu werden, weil diese Heilung in Aussicht stellte. So brachte ich Anni in den mehrstöckigen Block in ein helles Zimmer mit Aussicht auf den Pfälzer Wald und liess sie dort. Am Wochenende nahmen wir uns ein Zimmer in einem Hotel und machten kleine Ausfahrten. Anni war zufrieden, weil sich hier jemand intensiv mit ihr beschäftigte, d. h. mit ihr sprach, ihr irgend von einer kühnen Methode vorgaukelte und sie im Glauben liess, dass Hoffnung bestehe.
Ich staunte ob der Unmengen von farbigen Tabletten, zirka 25 pro Mahlzeit, die Anni zu schlucken hatte. Ich erkundigte mich diskret nach der Rezeptur, erhielt aber keine Auskunft, so nach dem Motto: Geheimnis des Hauses. Dann erzählte mir Anni so beiläufig, dass Untersuchungen bei ihr jetzt auch Metastasen in der Leber, im Kopf und auf der Lunge ergeben hätten. Nach wie vor war sie überzeugt von einer Heilung in dieser Klinik. Bei mir läuteten alle Alarmglocken: Ich in Aarau und Anni allein und todkrank bei diesen Scharlatanen. Ich verlangte den zuständigen Arzt zu sprechen. Irgendein subalterner Herr eröffnete mir unverblühmt und bestimmt, dass es im Hause nicht üblich sei, die Therapie mit den Angehörigen zu besprechen. So etwas gefährde nur den Heilungserfolg. Ich weiss nicht, ob er Recht hatte, auf jeden Fall wollte ich das nicht. Ich verlangte den Chef. Der war natürlich nicht verfügbar. Man liess mich warten, bis ich drohte, zur Polizei zu gehen. Dann konnte ich Anni haben. Nach einem langen Gespräch haben wir beide weinend eingepackt und sind nach Aarau gefahren.
Auf einmal wusste Anni zeitweise nicht mehr, wo sie war. Sie fand sich in der Wohnung nicht mehr zurecht. Wir mussten ins Kantonsspital Aarau zur Bestrahlung: Ein absoluter Horror. Die Leute im grauen Gang. Warten, bestrahlen und Ärzte, die keine vernünftige Auskunft geben konnten. Irgendwann brachen wir die Übung ab.
In Aarau fanden wir einen sehr wohlwollenden und ehrlichen Arzt. Er riet zu einer neuerlichen Chemotherapie. Zur Vorbereitung wurde Anni in der AMI-Klinik (heute: Hirslanden) im Bereich des Schlüsselbeins ein Gummiballon mit einer Verbindung zu einer Herzvene eingepflanzt. Damit sollte die mühsame Suche nach einer Armvene für Infusionen vorbei sein. Leider hat das Ding nie richtig funktioniert. Zu Hause versuchten wir, ein normales Leben zu führen. Wir haben viele Ausflüge gemacht und genossen. Einzig beim Mittagessen hatten wir oft Differenzen. Anni hatte eine unersättliche Lust zum Essen. Ein Blick auf die Speisekarte genügte ihr: Ich nehme eine Portion von jedem Menu. An ein Buffet durften wir uns schon gar nicht mehr wagen: Anni füllte Teller um Teller. Wenn wir nach Hause kamen, konnte sie locker behaupten: Hier wohne ich nicht. Ich bleibe im Auto. Manchmal dauerte es Stunden, bis wir wieder in der Wohnung waren.
Glücklicherweise konnte ich Anni mit ihrem Einverständnis zu ihrer Mutter ins Elternhaus bringen und die Spitex organisieren. So konnte ich tagsüber arbeiten. Wenn etwas Dringendes aufgetaucht war, konnte man mich auf dem Handy erreichen. Nachts übernahm ich die „Nachtwache“ und brachte Anni bei Bedarf zum Arzt. Bis der Arzt eines Tages ganz bedrückt aus dem Behandlungszimmer trat und zu mir in den Warteraum kam: „Es hat keinen Wert mehr. Ich kann nicht mehr helfen. Es sind zu viele Organe betroffen. Ich breche die Therapie ab. Wir plagen Ihre Frau. Ich verspreche Ihnen, dass ich Ihnen helfen werde und dass Ihre Frau keine Schmerzen leiden muss.“ So nahm ich meine Frau und fuhr mit ihr zur Schwiegermutter. Die Gewissheit, dass Anni das Haus nicht mehr lebendig verlassen werde, machte mir zu schaffen. Anni spürte das Ende kommen. Oft jammerte sie leise vor sich hin: „Ich will nicht mehr, lasst mich endlich sterben.“
Anni klagte über Schmerzen, ohne dass sie sagen konnte, wo. Hustentropfen, auf die Zunge geträufelt, brachten ihr Linderung. Anni bekam Tabletten, und der Arzt meinte: „Gebt ihr so viel von den Tropfen wie sie will.“ Die Schwiegermutter litt sehr und wollte Annis Sterbenswunsch erfüllen. Tatsächlich erschienen eines Tages 2 in meinen Augen windige Gestalten von der Sterbehilfeorganisation Exit zu einer Besprechung. Annis Familie hatte sie bestellt. War ich wütend. Sie drucksten um den Brei, schwafelten vom Wunsch der Patientin und vom Willen der Familie.
Ich schrie sie an: „Brauchen Sie das Einverständnis des Ehemanns oder nicht!?“ Niemand wollte so richtig herausrücken. Ich drohte unverhohlen: „Wenn Sie meinem Anni etwas antun, dann vergesse ich mich.“ Ihre Gesichter vergesse ich nicht. Ich werde sie zu finden wissen. Dann auf einmal brauchte es die schriftliche Einwilligung des Ehemanns für den Auftragsmord an seiner Frau, worauf für Exit die Sache gestorben war. Nur die Schwiegermutter und Annis Familie waren sauer: „Du bist ein Tyrann. Mit Dir hätte ich es keinen Tag im Leben ausgehalten.“
Natürlich blieb ich ihr nichts schuldig: Anni und ich haben uns versprochen, uns bis zum Tode beizustehen. Das würde ich einhalten. Nachher werde ich sie von meiner Anwesenheit befreien. Erst heute sehe ich, wie Krankheiten und ungewohnte Situationen Angehörige überfordern und zu krankmachenden Reaktionen hinreissen können.
Bald danach ist Anni gestorben. Morgens um 2 Uhr gab ich ihr noch ihre Tropfen auf die Zunge. Anni war ruhig und schlief ein. Ich legte mich im Nebenzimmer aufs Sofa. Um 6 Uhr stand ich auf und öffnete langsam die Tür. Eine unglaubliche Ruhe herrschte in dem von den Lampen des Quartiers beleuchteten Raum. Ich musste gar nicht ans Bett treten: Anni war gegangen. Die Hände gefaltet, mit einem friedlichen Lächeln im Gesicht lag der Körper da. Ich schloss ihm das offene Auge, holte mir einen Stuhl und setzte mich ans Bett. Um halb 8 Uhr kam die Schwiegermutter. Sie sagte: „Guten Tag“, trat ins Zimmer, wollte die Vorhänge öffnen und stutzte: „Ist etwas?“ Ich staunte: Spürt sie die Stimmung nicht? Deshalb sagte ich: „Anni ist gegangen.“ Gegen halb 9 rief ich den Arzt an: „Es ist soweit. Ich bin froh, wenn sie bei Gelegenheit vorbeikommen, es eilt nicht mehr.“ – „Ich komme sofort“, erwiderte er.
Ich spaziere entlang der blühenden Forsythien und höre den sonntäglichen Kirchenglocken zu bis der Arzt kommt. Am Totenbett schaut er mich an und meint: „So zufrieden habe ich Ihre Frau noch nie gesehen.“ Das tröstet mich. Wir dürfen Anni am Sonntag im Hause behalten und die Formalitäten erst am Montag regeln. Ich fahre nach Hause und lege mich schlafen.
Morgen
Die Nachtwache weckt mich. Ich bin auf der rechten Seite ganz nass. Aus der Wunde quer über den Bauch tritt rötliches Wasser aus und hat den Verband durchnässt. Ich werde neu verbunden und mit einer trockenen Unterlage versehen. Kurz nach 7 Uhr stehen 2 Ärzte mit einen fahrbaren Ultraschallgerät an meinem Bett. Sie reissen den Verband weg, diskutieren und gehen wieder.
Die Pflegefachfrau muss neu verbinden. Gegen 9 Uhr werde ich gebeten, mich in der Abteilung Urologie für eine neue Ultraschalluntersuchung zu melden. Ich stehe auf und gehe zu Fuss mit meinem Christbaum durch die endlosen Gänge des Spitals. Der Assistenzarzt untersucht mich. Er muss auf einen weiteren Arzt warten, dem er dann erklärt: „Ich sehe einen Wasserschleier über der Niere.“ Sie verstellen die Einstellung der Apparate, machen ein paar Bilder und ich bin mit provisorischem Verband wieder in die Pflegeabteilung entlassen. Die Pflegefachfrau erneuert den Verband zum x-ten Mal. Die Wunde schliesst sich wieder.
Fortsetzung folgt.
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