... und dann kamen die medialen Flutwellen
Autor: Walter Hess
Mit Verlaub: Der Medienbetrieb ist mir nicht ganz fremd, so dass ich mir gestatten kann, ein bisschen mitzureden. Ich habe am 21. Februar 1970 aus direkter Anschauung schriftlich über die Bilder berichtet, die sich nach dem Flugzeugabsturz einer Swissair-Caravelle im aargauischen Würenlingen boten. Das geschah damals noch telefonisch vom nächstgelegenen Restaurant aus. Der grob vorformulierte, mündlich übertragene Bericht gelangte via Schweizerische Depeschenagentur – der freundliche Herr Ulrich stenografierte mit − an Reuters und damit in die Welt hinaus. Der Augenzeugenbericht enthielt einen Hinweis auf einen Revolver, den ich im Wald mit dem Wrack und den Überresten der 38 Opfer entdeckt hatte. Später bewies sich der Verdacht auf einen Anschlag, für den die Gruppe von Georges Habasch die Verantwortung übernahm. 3 Jahre später, am 10. April 1973, wurde ich zur schneebedeckten Absturzstelle „Herrenmatt“ in Hochwald SO abgesandt, wo die britische Turboprop „Vickers Vanguard“ der Chartergesellschaft „Invicta International Airways“ wegen mangelnder Sicht und Navigationsfehlern zerschellt war (108 Menschen fanden den Tod). Immer wieder musste ich mich auch kleineren und grösseren Katastrophen, Unglücksfällen und Verbrechen annähern, das Brot des Journalisten, obschon ich mich eigentlich lieber mit ökologischen Fragen befasste.
Auf den Unglücksplätzen kam ich mir trotz meiner klar umrissenen Aufgabe immer etwas deplatziert vor und hielt mich womöglich im Hintergrund, beobachtete möglichst exakt und versuchte, mit den dort beschäftigten Menschen nur dann zu sprechen, wenn ich sie bei ihrer Aufgabe nicht zu sehr störte. Sie hatten ja Wichtigeres zu tun. Ich weiss, dass das detaillierte Berichterstatten über solche dramatischen Ereignisse zu den essenziellen Aufgaben des Journalismus gehört, ebenso wie über politische, wirtschaftliche, sportliche, biologische Vorgänge, über alles, was sich auf dieser Welt zuträgt. Der Journalist muss seine Arbeit tun, ansonsten er seinen Beruf verfehlt hätte.
Dann brachte das Fernsehen, das gerade aus den Kinderschuhen herauswuchs, seit den 1970er-Jahren neue Dimensionen in dieses Tun. Wir hinterwäldlerischen, schreibenden Journalisten, die wir nur mit Notizblock und Kugelschreiber und nicht etwa mit einem Lastwagen voll Übertragungsgerät ausstaffiert waren, wurden zur Quantité négligeable, zu einer wegen ihrer Bedeutungslosigkeit vernachlässigbaren Grösse. Allmählich drehte sich alles nur noch ums Fernsehen. Wir Schreiber mussten stundenlang warten, bis die TV-Inszenierungen abgespult waren. Dann waren wir dran, falls die Zeit noch reichte. Die Television, wie sie heisst, war jetzt die dominante Medienmacht. Und die „verschupften“ (in die Ecke gedrängten) Journalisten beeilten sich, ihre Kernaufgabe des Schreibens weitgehend zu vergessen, zu überwinden, und sie verwandelten sich in Fotografen. Die Zeitungen wurden zum gedruckten Fernsehen, zu einem erstarrten Bilderbuch. Winke-winke. Der Prozess dauert heute noch an.
Jede Zeit kennt ihre Moden und Wertvorstellungen. So begann das Fernsehen, nicht einfach mehr aus der Sicht eines Beobachters über Ereignisse, die sich mir nichts, dir nichts eingestellt hatten, zu berichten. Wenn gerade nichts Weltbewegendes passierte, konstruierte es eben seine eigenen Wirklichkeiten in Gestalt von Scheinereignissen. Immer häufiger wurden und werden Pseudovorkommnisse und Szenen wirkungsvoll gestellt, wie im Theater, immer vor der passenden Kulisse. Und die Statisten drängten sich in Massen vor. Viele Ereignisse (wie Demonstrationen und andere spektakuläre Ereignisse) gäbe es ohne Fernsehen nicht. Im Moment wird gerade eine Grippe-Pandemie simuliert, um das Impfgeschäft zu beleben; hier hat in der Schweiz vorerst Radio DRS die Vorreiterrolle übernommen. Der Vorwand: Bereit sein für alle Fälle.
Die Politiker begannen zunehmend, die Medien, insbesondere das Fernsehen, für ihre politischen Zwecke und zur Steigerung ihrer Popularität zu nutzen. Es kam zu einer Verbandelung im gegenseitigen Interesse, allerdings nicht im Zuschauerinteresse. Die Politiker reisen dorthin, wo die Medien sind, bei Katastrophen betreiben sie Katastrophentourismus. Und zur Sicherheit nehmen sie im Schlepptau gleich einen eigenen TV-Tross mit, der jeden Schritt und jedes Wort festzuhalten hat und Betroffenheiten quotenträchtig umzusetzen hat. Solche Aktionen, das unnötige Herumlungern auf Katastrophenplätzen oder auf Unfallstellen, wurde früher als Gafferei apostrophiert. Es war verpönt, da dadurch oft die Helfer behindert wurden.
Nach dem verheerenden Seebeben in Asien mussten die allzu vielen profilierungssüchtigen Politiker von Hilfsorganisationen, denen es um effiziente Hilfe ging, aufgerufen werden, die Elendsgebiete nicht weiter zu belästigen und die logistische Infrastruktur nicht unnötig zu belasten. Die charmante Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey war gerade zusammen mit einer 5-köpfigen Delegation aus den Katastrophengebieten Thailands zurückgekehrt und zeigte sich beeindruckt von den Helfern, Experten und Verletzten. Sie habe sich ein Bild von der Flutkatastrophe gemacht, las und hörte man, obschon noch kaum so viele Bilder von einer Katastrophe in alle Welt hinaus verbreitet wurden (fast alle Touristen haben heute eine Videokamera im Anschlag). Die Medien taten Frau Calmy den Gefallen und verschonten sie vor Kritik wegen ihrer Profilierungssucht. Der „Tages-Anzeiger“ raffte sich am 3. Januar 2005 immerhin noch zu diesem Kommentar auf: „Hiesse sie nicht Micheline Calmy-Rey, wäre das Urteil glasklar: Diese Reise ins Katastrophengebiet zum jetzigen Zeitpunkt ist überflüssig und nur auf billige Effekthascherei ausgerichtet.“ Aber eben: sie heisst Calmy.
Das Fernsehen seinerseits hat seine eigenen Anchormen und Anchorwomen, die bei der Bedeutung des Mediums zu Stars werden und sich gegenseitig hochschaukeln. Sie nehmen Grossereignisse ebenfalls zum Anlass, sich in Szene zu setzen. Und auch die TV-Stationen als solche tun das: „Wir können die (vom Seebeben zerstörte) Region sofort mit unseren Leuten überfluten“, entblödete sich Jonathan Klein, der neue CNN-Präsident geschmacklos. Und selbstverständlich wären die Hausstars unter dieser medialen Flut, möchte man beifügen; da wurde wieder einmal „globale Kraft“ markiert. Das geschieht auch an nationalen Sammeltagen in der Schweiz, an denen sich die gesamte Prominenz ins Bild setzen und ihre Hilfsbereitschaft, die eigentlich selbstverständlich sein sollte, zur Show stellen darf.
So werden Katastrophen heutzutage vermarktet. Alle kochen ihr Süppchen. Die US-Army, die in Afghanistan und im Irak nur Folterspuren, Tote und Verwüstungen hinterlassen hatte, konnte ihr ramponiertes Ansehen durch Hilfseinsätze in den Tsunami-Gebieten etwas aufpolieren. Die dortigen Regierungen hoffen, dass sie diese Glücksengel rechtzeitig wieder loswerden – und Indonesien befristete die Einsatzdauer vorsichtshalber. Die Regierungen in aller Welt überboten sich in bewährter Manier in Versprechen von Hilfsgeldern, die sie – so war es jedenfalls bisher – bald einmal wieder grösstenteils zu zahlen vergessen, wenn sich die Medien gerade wieder auf anderen Schauplätzen profilieren.
Die Spiralen drehen sich immer weiter. Am Schluss spielen die wirklich leidenden Menschen in den Katastrophengebieten eine untergeordnete Rolle und werden ihrem Schicksal überlassen. Der Tross aber zieht weiter, dorthin, wo neue Verlockungen und Profilierungsmöglichkeiten warten.
Ich habe das Medienverhalten rund um die Tsunami-Wellen verfolgt und in diesem Zusammenhang soeben noch den ausgezeichneten Artikel „Ein Disneyland des Elends“ von Uwe Schmitt in www.welt.de (15. Januar 2005) gelesen. Er hat mir Anlass zu den hier aufgezeichneten Rückblenden und Gedanken gegeben.
Ich bin froh, dass ich mich ausklinken konnte.
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