BLOG vom: 08.10.2007
Brocante Le Landeron NE, wo man die Zeit vertrödeln kann
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
Le Landeron NE, dieses baulich kompakte Städtchen in der Nähe des südwestlichen Ende des Bielersees mit seinen rund 4300 Einwohnern, ist als Marktflecken gebaut. Wie Aarberg im Berner Seeland, besteht auch Le Landeron aus 2 Häuserreihen, und dazwischen befindet sich ein grosser Platz für Märkte. Die Altstadt hat annähernd die Form eines Rechtecks, wobei die südöstliche Ecke abgerundet ist. Die Schmalseiten sind etwas verschoben, und wo in der Teil-Ellipse die Brennpunkte liegen, steht je ein grosser Renaissance-Marktbrunnen mit achteckigem Trog. Die Voraussetzungen waren hier für die Entstehung des grössten Antiquitäten- und Trödlerfests der Schweiz also hervorragend; 2007 fand es am 29. und 30. September statt. Da ich einige Bücher über die Westschweiz suche, fuhren wir am Samstag dorthin.
Le Landeron liegt innerhalb der ehemals sumpfigen Ebene „Grand Marais“ (= grosser Sumpf). Eine Ahnung davon, was das in der Praxis bedeutet, erhielten wir bei der Fahrt zu den Parkplätzen; zu solchen wurden grosse Teile des Landwirtschaftsgebiets zwischen dem Städtchen und dem Zihlkanal umgewandelt. Das Gebiet heisst Les Pêches, was wahrscheinlich mehr mit dem Fischfang als mit Pfirsichen zu tun hat. Die Wege waren stellenweise wegen der vorausgegangenen Regentage noch teilweise mit Wasser bedeckt und die Wiesen sumpfig; zum Glück kommt unser Prius, der immer mit den besten Reifen ausgestattet ist, mit solchen Lagen problemlos zurecht. An einem teilweise abgeernteten Maisfeld vorbei bewegten wir uns anschliessend zu Fuss gegen 10 Uhr auf das Städtchen zu. Die Sonne schien, aber an schattigen Stellen war es herbstlich kühl. Vor einem grossen Verkaufszelt am Rande der Altstadt war eine Rampe mit grünen Kunststofffilz-Teppichen bespannt, die einen Teil des Erdreichs von den Schuhen zu absorbieren hatten.
Zuerst einmal wollte ich einen Überblick über die Ausmasse dieses Markts gewinnen. Die 20 bis 25 m breite und etwa 170 m lange, mit den im Moment zeltartig überdeckten 2 Baumreihen (Linden) versehene „La Promenade“ als zentrale Gasse in der Altstadt bot nicht genug Platz. Der Markt dehnte sich deshalb ausserhalb der beiden Stadttore auf alle Strassen, Gassen und Plätze aus, dorthin also, wo früher Wassergräben zum Schutz der Stadt beitrugen und ein Deich das sumpfige Terrain aussperrte. Am südlichen Stadteingang fehlt seit 1880 das Tor; es wurde damals abgebrochen, um Platz für den Verkehr zu schaffen. Daneben blieb nur eine so genannte „Portette“ erhalten – ein von einem Fachwerkbau gekrönter Personendurchgang. Auf der entgegengesetzten Seite weist der Tour Nord (Nordturm) mit den 2 Rundtürmen auf eine ehemals starke Befestigung hin. Hier wurde auch der Uhrturm mit Sonnenuhr 1631 neu erbaut und das Tor 1659 vergrössert. Die Sonnenuhr hatte bereits auf die Winterzeit umgestellt ...
Die 4 bis 6 m breiten und gut 20 m tiefen, aneinander gereihten, recht einheitlichen Häuser auf der Ostseite stammen aus der Zeit nach dem Stadtbrand vom 7. November 1760; die ursprüngliche Stadt aber war im 14. Jahrhundert als Ganzes errichtet worden. Sie wurde auf dem Feld „Lamderon“ erbaut, welches der Graf Rollin (Rodolphe, Rudolf IV.) de Neuchâtel 1325 der Abtei Sankt Johannsen abgekauft hatte. Rudolf IV. wollte damit ein Gegengewicht zum 13 Jahre früher erbauten La Neuveville am Bielersee schaffen, das sich im Besitz des Basler Fürstbischofs befand.
Der wichtigste Bau in Le Landeron ist das spätgotische Rathaus mit den 2 Türmchen, dessen kunstvoller Fassade mit den Staffelfenstern gegen Ende des 17. Jahrhunderts ein stark vorspringendes Walmdach aufgesetzt wurde. In dieses Rathaus ist auch ein Sakralbau eingebaut, die „Kapelle der 10 000 Märtyrer“; sie ist den Rittern von Armenien geweiht, die im 2. Jahrhundert Opfer einer Verfolgung wurden.
Aber die Tage, an denen der Brocante (eine in Frankreich übliche Bezeichnung) wie seit 1974 alljährlich stattfindet, sind nicht die besten, um die Schönheiten des malerischen Städtchens zu geniessen, denn der Markt pflastert sozusagen alles zu, zieht die Blicke an, bildet aber doch zusammen mit dem Städtchen eine schöne, nostalgische Einheit.
Der Markt in Le Landeron, der alle Ansprüche zwischen Krempel (Gerümpel) und Kunst erfüllt, wurde von der „Association de la Vielle Ville du Landeron“ ins Leben gerufen, die 1973 gegründet worden war. Ein Tummelplatz für Brocanteure und Nostalgiker. Ein Brocanteur ist ein Trödler, der für seine Ware (im Gegensatz zum Antiquar) nicht garantiert und dementsprechend billiger ist oder sein sollte.
Die hier vorherrschende Atmosphäre hat etwas wohltuend Melancholisches an sich. Sie versetzt einen in eine nähere und fernere Vergangenheit, und ein älterer, sympathischer Drehorgelmann, der schöne, alte Welschschweizer Lieder im Stil von La petite Gilberte de Courgenay sang, rundete das verträumte Bild akustisch ab. Man fühlt sich in einer vergangenen Welt verloren, sieht Gegenstände, die Erinnerungen wecken, die in liebe- und kunstvoller Handarbeit gefertigt sind und die man doch nicht mehr brauchen kann: Schuhspanner mit Drehgewinde aus Holz, Strumpfstopfkugeln aus schachbrettartig verleimten dunklen und hellen Hölzern, Hohlmasse aus dünnem Holz, ein uralter Druck der Johannes-Apokalypse, Wanderstöcke, einer mit dem silbernen Knauf, der einen zubeissenden, furchterregenden Kampfhundekopf darstellt, afrikanische und chinesische Kunst, Email-Plakate, Gläser und Flaschen in allen Formen und Farben, Kristallleuchter und Bestandteile dafür, Siegelstempel, leicht angerostete Blechdosen, alte Postkarten und Bücher, Bilder, Gemälde, Erinnerungsstücke ans Soldatentum und an Reisen wie ein Becher mit der Aufschrift „Kufstein“, Holzmöbel, Puppen, Musikgeräte, und manchmal waren auch die Kartonschachteln, in denen das Zeug herangeschleppt worden war, noch alt. Selbst die Händler scheinen manchmal aus einer anderen Generation zu kommen, sind in die vergangene Zeit zurück- und eingewachsen, scheinen sich gegen zivilisatorische Vorkommnisse tapfer zu wehren.
Sicher kann man an der Fête de la Brocante in Le Landeron die eine oder andere Trouveille zu günstigem Preis finden; doch der Normalfall ist das nicht. Die Verkäufer sind keine Anfänger, wissen um den Wert der Ware und ihrer Dienstleistung, lassen zwar etwas markten, aber stoppen ein solches Treiben bald einmal. Konnte man sich bis gegen 11 Uhr noch einigermassen uneingeschränkt bewegen, wuchs das Publikum gegen Mittag derart an, dass wir keinen Sinn für einen weiteren Verbleib mehr sahen. Schrittchen für Schrittchen arbeiteten wir uns im Gedränge zum Südtor vor, zurück in den Sumpf, wo es mehr Bewegungsmöglichkeiten gab.
Mein Fundstück war das Büchlein „Die Schweizer Stadt“ von Joseph Gantner, 1925 im Verlag R. Piper & Co., München, erschienen. Ich habe es pflichtgemäss bei einer netten Verkäuferin von 10 auf 8 CHF heruntergehandelt, weil es ziemlich zerschlissen ist (Wasserschäden und herausgerissene, aber immerhin noch vorhandene Seiten). Die Dame sagte, es sei schade, dass sie nicht 12 CHF verlangt habe, dann hätte sie jetzt 10.
Das vergilbte Werk mit Schwarzweiss-Bildern befasst sich in der Antiquaschrift mit der mittelalterlichen Stadtbaukunst und erläutert die Formen städtischer Siedlungen. Es arbeitet die Unterschiede zwischen gegründeten und „gewachsenen“ Städten heraus. Le Landeron gehört zu den gegründeten (und damit einheitlich konzipierten) Städten, die von einem zentralen Platz mit Brunnen geprägt sind.
Für mich ist das Büchlein ein Unterrichtsmittel, das mir ermöglichen soll, Siedlungen besser zu erkennen, zu beurteilen und zu beschreiben. Ich hoffe, allmählich über die Anfängerlektionen hinaus zu kommen. Unsere treuen Leser haben das verdient.
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Reproduktionsfähige Fotos zu all diesen Beschreibungen können beim Textatelier.com bezogen werden.
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