Gedanken beim Schneeschaufeln in Biberstein
Autor: Walter Hess
In der letzten Nacht und im Verlaufe des heutigen Montagmorgens hat es hier in Biberstein (Aargau, Schweiz) auf rund 400 m über dem weit, weit entfernten Meer 6 cm (in Worten: sechs Zentimeter) Schnee hingeworfen. Die Räumfahrzeuge waren unterwegs. Eine besorgte Mutter soll den Schneepflug telefonisch aufgeboten haben, damit ihre beiden Kinder den Schulweg besser schaffen. Radiosprecher erzählten von Lawinenniedergängen, zwar nicht bei uns, aber dort oben in den Alpen. Also wurde gepflügt und Salz gestreut. Manche Leute, insbesondere die automobilgemachten, wollen es so. Viele andere würden die weisse Pracht gern noch etwas geniessen – und den Kindern das Erlebnis des Watens im Schnee gönnen. Die Unterhaltsdienste versuchen, es allen recht zu tun, was unmöglich ist.
Ich selber habe einen Weg zu unserem Haus mit einem Schneeschieber „geöffnet“, wenn man dem so sagen kann. Aus versicherungstechnischen Gründen, damit niemand fällt. Unser alpinistisch trainierter Pöstler Hans Stäger braucht das zwar nicht; er hat schwere Schuhe mit gutem Sohlenprofil. Er weiss, wie man sich im Freien verhält. Er hilft manchmal sogar beim Freischaufeln der Furka-Oberalp-Bahn, um eine richtige Winterstimmung zu erleben. Aber im Allgemeinen passt man sich ja nicht mehr der Natur an, sondern die Natur wird gezwungen, sich uns anzupassen. Es gibt immer einen Grund einzugreifen. Bei mir spielte der Wunsch mit, an der frischen Luft zu etwas Bewegung zu kommen, losgelöst vom Nützlichkeitsaspekt.
Als ich den Schnee zu kleinen Mahden formte, dachte ich daran, was für eine Naturschönheit ich da achtlos sozusagen auf und über den Haufen warf. Jede Schneeflocke ist ein Individuum, jede sieht anders aus. Aber wir nehmen das kaum wahr. Wir erleben den Schnee als uniforme weisse Decke, die sich mit der Zeit ins Gräulich-Braune verwandelt. Wir erkennen die Feinheiten nicht. Unsere Augen sind keine Mikroskope. Und wahrscheinlich, weil es so ist, das heisst weil unsere Wahrnehmung so oberflächlich ist und nicht in die Tiefe vordringen kann, können wir die Natur nicht verstehen. Wir sehen Weiss, wo Kristallkunstwerke in Fülle liegen, und wir sehen Grün, wo wundervolle Pflanzen-, Blätter- und ganze Baumkonstruktionen sind, deren Geheimnisse wir nicht verstehen.
Unsere oberflächliche Betrachtungsweise hindert uns daran, den Naturerscheinungen jenen Wert zuzuerkennen, den sie tatsächlich haben. Wir schrecken dementsprechend vor Eingriffen nicht zurück. Wir müssten mindestens eine gute Lupe bei uns haben, um wenigstens ein paar Feinheiten mehr zu erkennen. Das könnte uns ein bisschen voranbringen.
An diesem Punkt des Nachdenkens angekommen, habe ich mit dem Schneeschaufeln aufgehört. Ich musste mich ohnehin beeilen, damit ich das weisse Wunder noch kurz vor dem Schmelzen wegschieben konnte... Die Natur macht alles besser, sanfter, eleganter. Sie braucht keine Schneeschaufeln und –pflüge, keine Salzstreuer, lagert das Natriumchlorid dort ab, wo es nützlich ist, Mineralien, Tiere und Pflanzen darauf eingestellt sind und keinen Schaden nehmen.
Aber wo kämen wir hin, wenn wir ebenfalls auf solche Errungenschaften der Hochzivilisation verzichten würden?
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